Mit einer umfassenden Retrospektive beleuchtet die Schirn, wie Paula Modersohn-Becker zentrale Tendenzen der Moderne vorwegnahm.
Keine andere deutsche Künstlerin der Klassischen Moderne hat in der öffentlichen Wahrnehmung einen solch legendären Status erreicht wie Paula Modersohn-Becker (1876–1907). In ihrem kurzen Leben schuf sie ein umfassendes und facettenreiches Œuvre, das über 100 Jahre zur Projektionsfläche wurde und bis heute fasziniert.
Die Schirn widmet sich ab 8. Oktober 2021 dem Gesamtwerk Paula Modersohn-Beckers mit aktuellem Blick und zeigt in einer umfassenden Retrospektive, wie entschieden sie sich über gesellschaftliche und künstlerische Konventionen ihrer Zeit hinwegsetzte. Die Ausstellung versammelt 116 ihrer Gemälde und Zeichnungen aus allen Schaffensphasen, darunter Hauptwerke, die heute als Ikonen der Kunstgeschichte gelten. In der nach prägnanten Serien und Bildmotiven gegliederten Präsentation stehen insbesondere auch Modersohn-Beckers außergewöhnlicher Malduktus und ihre künstlerischen Methoden im Fokus, die zu einer vielfältigen Rezeption ihres Schaffens beitrugen.
Ab 1898 lebte Paula Modersohn-Becker in der Künstlerkolonie Worpswede, unterbrochen durch vier längere Aufenthalte in Paris. Ihr umfangreiches Œuvre aus rund 734 Gemälden und etwa 1500 Arbeiten auf Papier spiegelt die Einflüsse dieser beiden gegensätzlichen Orte deutlich wider. Trotz fehlender weiblicher Vorbilder und auch während ihrer Ehe mit dem Worpsweder Landschaftsmaler Otto Modersohn verfolgte sie mit großer Disziplin ihre eigenständige künstlerische Entwicklung. Ihre Werke entstanden in oft einsamer Auseinandersetzung mit der älteren Kunstgeschichte und aktuellen Tendenzen der Kunst, die sie in der französischen Metropole studierte.
In großen Werkserien umkreist sie ein wiederkehrendes Repertoire von Bildmotiven: Einen besonderen Schwerpunkt stellen Porträts und Selbstporträts dar, weitere zentrale Werkkomplexe sind Kinderbildnisse, Darstellungen von Mutter mit Kind, Bäuerinnen und Bauern, Akte, Landschaften aus Worpswede und Paris sowie Stillleben. Dabei fand sie zu überzeitlichen, allgemeingültigen Bildern und unabhängigen Darstellungen. Ihre Arbeiten sind rigoros, bisweilen radikal anders als die ihrer Zeitgenossen. Dem hohen eigenen Anspruch der Künstlerin steht ihr zu Lebzeiten völlig ausbleibender äußerer Erfolg gegenüber. Erst nach ihrem Tod wurde ihr Werk als Entdeckung gefeiert, gesammelt und ausgestellt, dabei in seiner Ambivalenz vielfach vereinnahmt.
Erst nach ihrem Tod wurde ihr Werk als Entdeckung gefeiert, gesammelt und ausgestellt.
Ein besonderer Fokus im Schaffen Paula Modersohn-Beckers liegt auf der Darstellung des Menschen, dem Porträt. Insbesondere ihre Selbstporträts sind eines ihrer wichtigsten künstlerischen Experimentierfelder. Zu sehen ist eine Auswahl dieser malerisch und stilistisch höchst unterschiedlichen Werkgruppe, die ihre gesamte Entwicklung spiegelt und als fortwährender Akt der künstlerischen Selbstvergewisserung diente. Bereits in den frühen Selbstbildnissen wird ihre zentrale malerische Methode sichtbar: die Nahsicht. Das Bildfeld wird komplett ausgefüllt, indem das Gesicht nah heranrückt. Während ihres zweiten Aufenthalts in Paris 1903 fand Modersohn-Becker in der Frontalität römisch-ägyptischer Mumienporträts im Louvre eine Form der Verallgemeinerung, die in der Verbindung von direkter Nähe und zeitlosen Elementen ihren künstlerischen Bestrebungen entsprach und die sie unter anderem in „Selbstbildnis mit rotem Blütenkranz und Kette“ aufgriff.
Mehr als die Hälfte ihrer Selbstporträts entstand 1906/07, als sie sich – getrennt von Otto Modersohn – in Paris aufhielt und ihren Weg als Künstlerin suchte. Eine Sonderrolle nimmt das „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag“ ein, der erste bekannte Selbstakt einer Künstlerin und zum Zeitpunkt der Entstehung nicht ausstellbar. Das komplexe Werk liefert zahlreiche Anspielungen auf kunsthistorische Vorläufer und deutet diese zu einer um 1900 äußerst gewagten Selbstdarstellung um. Nackt und mit angedeuteter Schwangerschaft stellt sich Modersohn-Becker selbstbewusst und feminin dar – doppelt potent als Künstlerin und als Frau.
Viele Figurenbilder von Paula Modersohn-Becker kennzeichnet eine unverwechselbare Mischung aus Nähe und Distanz, aus Naturalismus und Symbolhaftigkeit, mit der diese auf die Ebene des Überzeitlichen und Allgemeingültigen gehoben werden. Diese Darstellungsweise charakterisiert auch ihre einzigartigen Kinderbildnisse sowie ihre Mutter-Kind-Bilder. Mit insgesamt über 400 Arbeiten von meist bäuerlichen Kindern bilden diese im Werk Modersohn-Beckers die größte Gruppe.
Kinder erscheinen als autonome Individuen
Die Auswahl an Kindermotiven in der Schirn verdeutlicht, mit welch großer Intensität sich die Künstlerin diesem im späten 19. Jahrhundert besonders beim bürgerlichen Publikum beliebten Sujet widmete. Allerdings verzichtete Paula Modersohn-Becker vollkommen auf die damals übliche idealisierende Darstellung. Ihre Kinder erscheinen als autonome Individuen, fremd und entrückt, in nah herangerückten Bildausschnitten, präsent und intim. In den letzten Jahren ihres Schaffens werden sie zu überzeitlichen Sinnbildern und mit Beigaben wie Früchten und Blumen in phantastischen Bildräumen zu Repräsentanten einer umfassenden Naturmystik. Diese Stilisierung erreicht in „Mädchenakt mit Blumenvasen“, das geprägt ist von Paul Gauguins Tahiti-Motiven, einen Höhepunkt.
In ihren Mutter-Kind-Darstellungen beschäftigte sich Modersohn-Becker mit einem Motiv, das vor ihr kaum systematisch bearbeitet wurde, und entwickelte zahlreiche Varianten. Vor dem Hintergrund der Lebensreformbewegung und der auch von der Künstlerin praktizierten Nacktkultur wird der unbekleidete Körper wie in den Selbstbildnissen zum Träger einer pantheistischen und matriarchalen Ideenwelt, die sich mit einer ikonenhaften Statuarik verbindet. Eine Besonderheit in Modersohn-Beckers Œuvre sind die Porträts der Worpsweder Dorfbewohnerinnen und -bewohner, unter denen sich die Künstlerin neben Kindern und Müttern häufig betagte Bäuerinnen und Bauern als Modelle suchte. Sie verlieh den Porträtierten ein hohes Maß an Würde, ohne Alter, Grobheit und Armut zu verklären. Zwischen 1903 und 1907 entstand die Serie der meist großformatigen Armenhäuslerinnen, die zu ihren monumentalen Hauptwerken zählt.
Häufig suchte sie sich betagte Bäuerinnen und Bauern als Modelle
Immer wieder griff sie auf dieselben Personen zurück, insbesondere „Mutter Schröder“ wie in „Alte Armenhäuslerin“ oder „Armenhäuserin“. Schwer, statisch, zeitlos und mit riesigen Händen erscheint sie wie eine Göttin aus einer fernen vorchristlichen Kultur. Die Schirn zeigt als besondere Leihgabe aus dem Detroit Institute of Arts auch das durch seinen farblich ungewöhnlichen Bildaufbau bemerkenswerte Hauptwerk „Alte Bäuerin mit auf der Brust gekreuzten Händen“, das fünf Jahre nach Modersohn-Beckers Tod 1912 in der ersten großen Avantgardeausstellung in Deutschland gemeinsam mit Werken von Vincent van Gogh und Paul Gauguin gezeigt wurde.
Mit ihren Stillleben, von denen die meisten zwischen 1905 und 1907 entstanden, wandte sich Modersohn-Becker einem bevorzugten Experimentierfeld der Avantgarde von Gustave Courbet, Odilon Redon, Paul Cézanne oder Henri Matisse zu, das in Worpswede nur vereinzelt von Heinrich Vogeler aufgegriffen wurde. Wie Cézanne wählte sie ein sich wiederholendes Repertoire von Gegenständen. Doch unterscheiden sich ihre statisch monumentalen Kompositionen deutlich durch die dichte materielle Malweise. Als neutrale, unverfängliche Motive zählten sie nach ihrem Tod zu den zunächst am häufigsten gesammelten und ausgestellten Werken.