Selbstbildnisse boten Paula Modersohn-Becker Raum für künstlerisches Experimentieren mit Form, Farbe und Technik. Wir haben uns genauer angesehen, wie sie die Möglichkeiten der Malerei auslotete.
„Die große Einfachheit der Form, das ist etwas Wunderbares. Von jeher habe ich mich bemüht, den Köpfen, die ich malte oder zeichnete, die Einfachheit der Natur zu verleihen. Jetzt fühle ich tief, wie ich an den Köpfen der Antike lernen kann. Wie sind die groß und einfach gesehen! Stirn, Augen, Mund, Nase, Wangen, Kinn, das ist alles. Es klingt so einfach und ist doch so sehr, sehr viel. Wie einfach in seinen Flächen solch ein antiker Mund erfaßt ist. Dann fühle ich, wie ich in der Zeichnung in der Natur viel merkwürdige Formen und Überschneidungen aufsuchen muß.“
Paula Modersohn-Becker drückt in diesem Tagebucheintrag vom 25. Februar 1903 nicht nur ihre persönliche Auffassung einer „Einfachheit der Form“ aus, sondern auch den aufkommenden Zeitgeist, der sich schließlich in der Kunst des 20. Jahrhunderts in vereinfachenden und abstrahierenden Tendenzen niederschlug. Im Porträtfach ging diese Entwicklung mit einer zunehmenden Abkehr vom Abbild einher. Widmet man sich den circa 60 Selbstporträts Modersohn-Beckers, wird deutlich, dass eine Ähnlichkeit zwischen der Künstlerin und ihrer Selbstdarstellung, von wenigen Ausnahmen abgesehen, stets feststellbar bleibt, aber es darauf eigentlich nicht ankommt. Selbstbildnisse boten der Künstlerin vielmehr Raum zu künstlerischem Experimentieren mit Formen, Farben und Techniken und somit zur Beschäftigung mit den Möglichkeiten der Malerei.
Im „Selbstbildnis, Brustbild mit Pinsel in der erhobenen Hand” von 1902 zeigt sich die Malerin im Halbporträt, mit Pinsel in der linken Hand und leicht gedrehtem Kopf, wie sie uns, die Betrachter*innen, beziehungsweise ihr eigenes Spiegelbild fixiert. Sie greift damit eine traditionelle und seit der Renaissance populäre Darstellungsweise von Künstler*innen als Ausübende ihres Berufs auf, wie wir sie beispielsweise auch aus den Selbstbildnissen von Nicolas Poussin oder Diego Velázquez kennen. Es bleibt allerdings das einzige Selbstporträt, in dem sich die Künstlerin durch ihre Malutensilien in ihrer Profession zu erkennen gibt und auch das einzige, in dem sie auf eine so konventionelle Darstellungsweise zurückgreift.
Stirn, Augen, Mund, Nase, Wangen, Kinn, das ist alles. Es klingt so einfach und ist doch so sehr, sehr viel.
Paula Modersohn-Becker setzte sich während ihres vierten und somit letzten längeren Paris-Aufenthaltes 1906/07 besonders intensiv mit der Visualisierung des eigenen „Ichs“ auseinander. Das zu dieser Zeit entstandene „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag“ (1906) gilt als erste Selbstdarstellung einer Künstlerin im Akt, erfuhr zahlreiche unterschiedliche Deutungsansätze und wurde zu einer Ikone der Kunstgeschichtsschreibung. Andere Selbstdarstellungen sind hingegen weitaus weniger bekannt, obwohl sie sich ebenfalls durch eine innovative und experimentelle Herangehensweise auszeichnen.
Als erste Künstlerin schuf sie ein Selbstporträt im Akt
So stellt sich Paula Modersohn-Becker im „Selbstbildnis als stehender Akt mit Hut“ (1906) gesichtslos im Ganzkörperakt dar. Betrachtet man die Arbeit genauer, sticht sofort ins Auge, dass es der Künstlerin hier vor allem um formales und kompositorisches Experimentieren ging: Der Hut mit Krempe, der Kopf in Frontaldarstellung und die Orangen in beiden Händen in der Nähe der ähnlich geformten Brüste sind als Rundelemente in einer Vertikalen angelegt. Der sich anschließende Schambereich ist oben derart abgerundet, dass die Form der Orange, die sie in der rechten Hand hält, wieder aufgegriffen wird. Der dreiecksartige Schambereich führt die Vertikale weiter in Richtung der Beine, wo sie in den ungefähr rechtwinkelig zueinanderstehenden Füßen endet. Es scheint, als wäre die Gesichtslosigkeit vor allem der konzentrierten Auseinandersetzung mit der geometrischen Komposition geschuldet.
Die meisten Selbstporträts Modersohn-Beckers sind allerdings nah herangerückt und das Gesicht steht im Fokus. Die zu Anfang zitierte „Einfachheit der Form“ sowie die Wichtigkeit antiker Vorbilder wird in einem Vergleich zwischen dem „Selbstbildnis mit Kamelienzweig“ (1906/07) und dem „Porträt einer jungen Frau“ (100–130 n.Chr.) aus Fayum deutlich. Die beiden Porträts ähneln sich in Format, Ausschnitt und Halsschmuck, aber auch in der Frontalität, Gesichtsform, Physiognomie und den fehlenden Pupillen.
Sie lässt das Individuum zurücktreten und kehrt das Universale hervor
Die entindividualisierende, vereinfachende und verallgemeinernde Darstellungsweise auf neutralem Hintergrund führt zu der in Modersohn-Beckers Arbeiten so häufig festzustellenden Zeitlosigkeit. Sie lässt das Individuum zurücktreten und kehrt das Universale, Archetypische hervor – ein zu der Zeit radikales, innovatives Vorgehen. Außerdem kommt das für die späten Selbstporträts typische Maskenhafte in dem „Selbstbildnis mit Kamelienzweig“ durch die Formeinfachheit, Pupillenlosigkeit und scharfe Konturierung zum Vorschein. Modersohn-Becker war mit ihrem Interesse für das Maskenhafte nicht allein – viele vor allem in Paris ansässige Avantgardekünstler, darunter Picasso und Matisse, beschäftigten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Masken und dem Maskenhaften.
Ein besonders prägnantes Beispiel Modersohn-Beckers ist das „Selbstbildnis nach halbrechts, die Hand am Kinn“ (1906). Die Künstlerin rückt die Betrachter*innen nah an sich heran, wendet sich jedoch zugleich von uns ab. Sie präsentiert ihr Gesicht vereinfacht und abstrahiert mit großen pupillenlosen Augen und auffälligen schwarzen Konturlinien. Die Farbe trägt sie grob und pastos in kontrastierenden Farbflächen auf. Wie in einigen anderen Selbstporträts, berührt sie ihr Gesicht mit ihrer Hand. Damit steigert sie die durch die Malweise erzeugte Maskenhaftigkeit noch, denn es sieht so aus, als würde sie sich mit der Hand eine Maske vor das Gesicht halten.
Es ging ihr um das Austesten der Malerei
Die Selbstporträts von Paula Modersohn-Becker zeigen auf besonders eindrückliche Weise, wie experimentierfreudig und innovativ die Künstlerin war. Es ging ihr weniger um Abbildhaftigkeit oder die Präsentation als Künstlerin, sondern vielmehr um das Austesten der Möglichkeiten der Malerei – ein Thema, das gerade Künstler*innen des 20. Jahrhunderts umtrieb.