Sie ist Leaderin der Champagne and Aishihik First Nations, eine der wenigen selbstverwalteten First Nations in Kanada. Als Forscherin erzählt Jocelyn Joe-Strack im neuen Podcast, was ihr in den Debatten um den Klimawandelt fehlt.
Transkript:
Willkommen bei CRITICAL LAND. Ich bin eure Moderatorin, Sylvia Cunningham. Dies ist die dritte Episode eines englischsprachigen Podcast der Schirn, parallel zur Ausstellung Magnetic North: Imagining Canada in Painting 1910-1940. In dieser Podcast-Reihe greifen wir einige der Themen der Ausstellung auf, um in Gesprächen mit Indigenen Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen über das hinauszugehen, was an den Wänden der Galerie zu sehen ist. In der heutigen Folge hören Sie von einer Indigenen Anführerin über Land, wie sie es kennt.
JOCELYN JOE-STRACK: Mein Name ist Jocelyn Joe-Strack, ich lebe in Whitehorse, Yukon, und ich bin Mitglied der Champagne and Aishihik First Nation aus dem nordwestlichen Yukon.
SYLVIA CUNNINGHAM: Im Jahr 2019 kam Jocelyn Joe-Strack nach Deutschland als eine Station ihrer europäischen Vortragsreise durch kanadische Botschaften. Sie wurde eingeladen, um ihre Perspektive auf den Klimawandel als Indigene Wissenschaftlerin zu teilen. Im heutigen Gespräch nimmt Joe-Strack uns mit auf eine Reise durch ihre Erfahrungen in der akademischen Welt, von dem, was sie anfangs dazu bewegte, Wissenschaftlerin zu werden, bis hin zu der Frage, warum sie sich heute als „scientist in recovery“ („Wissenschaftlerin in Genesung“) bezeichnet. Außerdem werdet ihr hören, was sie als Führungspersönlichkeit geprägt hat und was ihrer Meinung nach in Gesprächen über den Klimawandel fehlt. Als Mitglied der Champagne and Aishihik First Nation gehört Joe-Strack zu einer der wenigen selbstverwalteten First Nations in Kanada. Sie erklärt, warum das für sie und ihr Volk so wichtig ist.
JOCELYN JOE-STRACK: Ich bin stolz zu sagen, dass ich aus einer Familie von Führungspersönlichkeiten komme. 1973 gingen meine Familie nach Ottawa, einschließlich meines Vaters, und präsentierten Premierminister Pierre Trudeau ihre Vision für „Together Today for our Children Tomorrow“ – und das feiern wir immer noch. Dies war am Valentinstag, wobei der Tag auch dieser Moment des tiefen Stolzes für all den Kampf symbolisiert, der von unseren Vorfahren geführt haben. Ich bin also eine „Tochter von morgen“ und eine Tochter der Landansprüche. Aber die Arbeit noch nicht erledigt. Es gibt noch so viel zu tun, doch wir sind dazu ausgebildet worden, um ein besseres Morgen für unsere Kinder zu schaffen. All das wird von unserer Selbstverwaltung und Entschlossenheit gestützt, sodass wir in der Lage sind, die Gesellschaft, in der wir leben, weiterzuentwickeln, um den kommenden Generationen besser zu dienen.
SYLVIA CUNNINGHAM: Du erwähntest, dass dein Vater, Willie Joe, auch ein Oberhaupt war. Gibt es etwas, das Sie von seinem Führungsstil gelernt haben, besonders im Bezug auf deine jetzige Rolle in der Gemeinde?
JOCELYN JOE-STRACK: Das ist eine gute Frage. Ja, mein Vater war ein Visionär. Er hatte wirklich große Ideen und ich würde gerne glauben, dass einige meiner Ideen auch von ihm stammen. Er war sehr charismatisch – die Leute mochten ihn wirklich sehr, er war sehr charmant. Er starb als ich 13 war, doch als ich 10 war, wurden die endgültigen Verträge abgeschlossen. Es hatte 20 Jahre gedauert sie auszuhandeln und mein Vater war fast die ganze Zeit über ein Teil davon, in verschiedenen Funktionen. Ich erinnere mich daran, dass ich in meinem Zimmer Wäsche gewaschen habe oder so etwas und er in mein Zimmer platzte, mir dieses zerfledderten Stück Papier reichte und er sagte: „Das ist für dich!“! Er war so aufgeregt, ich erinnere mich noch genau an seine Aufregung und seinen Stolz. Dann rannte er wieder raus und ging feiern. Aber das war wirklich einschneidend für mich und ich glaube, er muss schon sehr früh mit mir über unsere Entschlossenheit gesprochen haben, zu führen. Er sagte mir immer: „Sei eine Anführerin", wobei ich mir zu der Zeit eher sagte: „Sei beliebt in der High-School!“ Ich wusste nicht, was er meinte. Also war es wirklich lohnend für ihn, so sehr an mich zu glauben und mir diese Hingabe zu vermitteln, die ich jetzt für meine eigenen Kinder und für alle Kinder in Yukon habe.
SYLVIA CUNNINGHAM: Und dieses zerfledderte Stück Papier, das war dann die Vereinbarung?
JOCELYN JOE-STRACK: Genau, ich besitze es immer noch. Ich habe immer noch seine Kopie der endgültigen Vereinbarung, die er mir gegeben hat, also ja, es war wirklich etwas Besonderes.
SYLVIA CUNNINGHAM: Du bist ausgebildete Wissenschaftlerin und hast Abschlüsse in Mikrobiologie und Hydrologie. Kannst du genauer beschreiben, was deine Forschung beinhaltete?
JOCELYN JOE-STRACK: Ja, ich habe in meiner Jugend und in jüngeren Jahren viele verschiedene Wissensgebiete durchwandert. In meinen 20ern habe ich mich sehr auf die Naturwissenschaften konzentriert. Mein Grundstudium ist in Biochemie und Mikrobiologie. Ich nehme an, ein Großteil meiner Geschichte handelt von meinem Vater. Mein Vater starb leider an Krebs, denn während des Zweiten Weltkriegs kam die Armee und baute eine Autobahn direkt an unseren traditionellen Dörfern vorbei, und sie siedelten alle Leute von den Traplines in die Gemeinde Champagne um und hatten dort eine Müllhalde. Sie luden dort alle Fahrzeuge und das gesamte Öl ab. In der Folge starben viele der Menschen, die in der Champagne aufwuchsen, an sehr seltenen Krebsarten, so auch mein Vater. Als ich also mit 17 meinen Abschluss machte, da hatte ich meinen Vater schon vier Jahre lang verloren und wollte unbedingt mehr über die Krankheit lernen, deshalb habe ich Biochemie studier. Ich bin stolz darauf, sagen zu können, dass ich Krebsforschung betrieben habe. Ich habe einige Zeit damit verbracht, Stammzellen und die Bösartigkeit von Brustkrebs zu erforschen, aber die Arbeit war nichts für mich, sie ist sehr ermüdend und repetitiv. Mir wurde klar, dass ich nach Hause in den Yukon kommen wollte, und deshalb habe ich angefangen, den Schwerpunkt auf Mikrobiologie, Geographie und Hydrologie zu legen.
Dann habe ich einen Master in Mikrobiologie und Geographie gemacht, weil ich wusste, dass ich mehr über mein Land, das Land unserer Leute wissen wollte. Also schaute ich mir den Kusawa-See an, der eine tiefe Geschichte hat. Ich untersuchte den Zyklus von Quecksilber in den dortigen Sedimenten und die Rolle der Bakterien bei der Methylierung oder der Vergiftung des Quecksilbers. Aber ich bin dort auf eine Grenze gestoßen, als es mir als Akademikerin und Wissenschaftlerin nicht erlaubt war, meine Liebe und Zugehörigkeit zum Kusawa-See in meiner Forschung und meinem Schreiben auszudrücken. Das war wirklich verletzend und schädlich für mich, weil ich nicht das Gefühl hatte, dass ich wirklich die Geschichte erzähle. Sie wollten, dass ich nur die Geschichte der Wissenschaft erzähle, aber das war ein so enges Fenster. Auch in meiner Forschung versuchte ich so umfassend zu sein und so viel von der Geschichte zu erzählen, wie ich konnte, doch sie wollten, dass ich mich nur auf sehr spezifische Teile davon konzentriere, bis zu dem Punkt, an dem meine Dissertation ein Dokument ist, das auf einem Regal liegt. Ich hatte das Gefühl, dass es am Ende bedeutungslos war und dass die fünf Jahre Arbeit, abgesehen von den Lektionen und den Erkenntnissen, die ich daraus gezogen habe, nicht viel gebracht haben.
Und so kam ich zurück in den Yukon und begann meine Leute zu beraten, mich mehr mit meiner Rolle als Führungskraft zu verbinden. Dabei erkannte ich, dass die Wissenschaft mir nicht erlaubte, die Führungskraft zu sein, die ich sein musste, und dass das wirklich Wichtigste, auf das ich mich konzentrieren konnte, die Menschen und ihre Beziehungen waren. Und so bin ich dankbar und fühle mich geehrt, als Wissenschaftlerin bekannt zu sein, aber jetzt nenne ich mich „scientist in recovery“ („Wissenschaftlerin in Genesung“), weil ich einfach das Gefühl hatte, dass ich mir in der Wissenschaft nicht treu sein konnte. Ich war nur bekannt für das Wissen, die objektiven Beobachtungen, die ich herausbrachte, und nicht dafür, was sie meinem Herzen bedeuteten, und nicht dafür, wie ich sie mit dem Leben der Menschen hier, mit dem Land und den Kindern verbinden konnte.
SYLVIA CUNNINGHAM: Mit all dem im Hinterkopf, warst du in der Zeit deiner Promotion in der Lage, mit deiner Forschung an einen Punkt zu gelangen, an dem es nicht nur um das Sammeln von Daten ging, sondern um mehr als das? Kurz: Gibt es etwas, das du tun konntest, was vorher fehlte?
JOCELYN JOE-STRACK: Ich muss leider sagen: nein! Ich habe ein Ph.D.-Programm abgebrochen, teilweise wegen dem, was du gerade angesprochen hast. Als Beraterin entwickelte ich einen Landanspruch für meine Gemeinschaft - unser gesamtes Territorium. Gleichzeitig dachte ich, das wäre eine großartige Gelegenheit, eine Doktorarbeit zu schreiben, aber ich blieb während des Studiums durch eine Frage über Landansprüche hängen. Man wollte, dass ich sie mit Literatur verbinde, aber leider war die Literatur so unterentwickelt, und zwar aus einer Perspektive, die von Akademikern aus dem Süden stammte, die eine Adlerperspektive einnahmen, die herunterschauten und Aussagen über unsere Beziehungen und unsere Entschlossenheit und unsere Hingabe an Kinder machten. Und sie schrieben nur über das Land und die Ressourcen und es war einfach ein totaler Zusammenprall der Weltanschauungen. Also baten sie mich, meinen Aufsatz umzuschreiben, weil ich die Literatur nicht zusammenbringen konnte, weil sie mit meiner Identität als Tochter der Landansprüche kollidierte. Und das gefiel ihnen einfach nicht, und so kamen wir in eine Art Sackgasse, und ich entschied mich, das Programm zu verlassen, als mir eine Stelle an der Yukon University als Forschungslehrstuhl angeboten wurde. Und die Yukon University wählte mich für diese Position ohne Doktortitel aus, weil sie mein Wissen und meine Hingabe zum Yukon schätzten und erkannten, dass ein Doktortitel mich nicht befähigen oder daran hindern würde, die Arbeit auf gute Weise zu erledigen.
SYLVIA CUNNINGHAM: Hast du das Gefühl, dass du jetzt in deiner Rolle an der Yukon University in der Lage bist das einzuführen, was dir vorher gefehlt hat? Es geht also nicht nur um die Daten oder darum, zu messen, was in einem See ist, und dann nicht in der Lage zu sein, es mit irgendeiner anderen Art von Wissen zu verbinden - denn das sagt nichts darüber aus, was man als Person einbringen kann. Versuchst du das in deiner Rolle zu ändern und wenn ja, wie?
JOCELYN JOE-STRACK: Ich bin dankbar, dass ich das tue. Die Yukon University hat, wie jede Institution heutzutage, einen Weg vor sich, was die Dekolonisierung und die Schaffung dieser Art von Raum angeht. Es erfordert, Risiken einzugehen und mit einem gewissen Maß an Unsicherheit zu operieren. Viele unserer Richtlinien und Prozesse sind vorhanden, um Sicherheit zu geben, aber sie halten uns auch auf dem Boden. Sie hindern uns daran, uns vorwärts zu bewegen. Sie sind eine Kiste der Gewissheit, die Innovation verhindert. Und es ist irgendwie lustig, dass die akademische Welt als Ort der Innovation gilt, aber in Wirklichkeit ist sie ziemlich streng darin, Innovation zu verhindern, weil sie Sicherheit braucht - steuerliche Sicherheit, finanzielle Sicherheit, ethische Sicherheit. Und ich denke, es gibt eine Menge Akademiker*innen, die sehr hart daran arbeiten, diese Herausforderungen zu überwinden und die Grenzen anzuerkennen, und es braucht einfach Führungsqualitäten, und da ich aus einer Familie von Führungspersönlichkeiten stamme, weiß ich, was das bedeutet, und ein großer Teil davon besteht darin, den Mut zu haben, nein zu sagen! Und einige dieser Prozesse als unterdrückend zu bezeichnen oder als etwas, das uns daran hindert, uns vorwärts zu bewegen, das uns festhält, wo wir sind. Und all diese Systeme reichen über die akademische Welt hinaus, sie bestehen in unseren Regierungen und in der Art, wie wir Entscheidungen treffen. Und ich glaube, das ist der Grund, warum wir uns in der Zwickmühle des Klimawandels befinden.
SYLVIA CUNNINGHAM: Das ist eine tolle Überleitung. Wie bist du dazu gekommen, dich mit dem Klimawandel zu beschäftigen?
JOCELYN JOE-STRACK: Ich nehme an, dass es damit angefangen hat, dass ich als Wissenschaftlerin arbeite und mir die Veränderungen in unseren Wasserläufen sehr bewusst sind. Aber es war, als ich den Landplan für meine First Nation schrieb, das war eine wunderbare Übung, weil ich so eng mit meiner Familie, meinen Leuten - es gibt 1.200 Leute in meiner First Nation - zusammenarbeitete. Ich fing an, die Geschichte von gestern bis heute zu verstehen, und dann, was wir für morgen tun müssen. Und ein großes Stück, das bei unserer Arbeit fehlt, ist das Gestern. Wir verbringen so viel Zeit damit, uns auf das Heute zu konzentrieren und auf das, was wir tun, und auf die Modelle und die Systeme und die Beobachtungen von heute, um Entscheidungen darüber zu treffen, wie wir morgen vorankommen, aber um ehrlich zu sein, ist die Ehrung unserer Geschichte und unseres Weges ein sehr wichtiger Teil, um zu verstehen, wie wir dort sitzen, wo wir heute sind. Und für mich als eine First-Nations-Person aus dem Yukon hat unsere Geschichte eine traurige Komponente in Bezug auf die Zeit, als die Siedler*innen kamen. Ich hatte das Glück, dass unser Volk erst recht spät in der Zeitskala kam, so dass ich Leute kannte, die sahen, wie die ersten Weißen in den Yukon kamen, und die ersten begannen erst in den späten 1800er Jahren in den Yukon zu kommen. Und dann hatten wir hier 1898 einen großen Goldrausch, wo es einen massiven Zustrom von Goldsuchern aus ganz Kanada und dem Westen der Vereinigten Staaten gab. Dann, in den 1940er Jahren, wie ich bereits erwähnte, war das die eigentliche Veränderung, als der Alaska Highway gebaut wurde und die Armee sich hier niederließ und die Menschen von ihren Traplines in die Siedlungen brachte.
Wenn man über all diese Elemente der Entwicklung unserer Gesellschaft nachdenkt und wie wir an diesen Ort der Ungerechtigkeit gekommen sind - gefangen in diesen Systemen, in denen wir festgehalten werden. Das sind die Triebkräfte des Klimawandels, und sie haben sich so entwickelt, wie der Zweite Weltkrieg ein bedeutendes Ereignis war, es ist wirklich der Punkt, an dem wir in die Zeit des Kapitalismus übergegangen sind und wirklich angefangen haben, uns auf die materielle Wirtschaft zu konzentrieren. So sind wir jetzt an diesen Punkt gekommen, an dem wir völlig abhängig von diesen Systemen sind. Wo wir diese Dinge brauchen, mit denen wir uns umgeben - wo wir unser Essen kaufen. Wo ich lebe, kommt das Essen oft von sehr weit her, in Plastik verpackt. Wir scheinen keine andere Wahl zu haben. Um leben zu können, brauchen wir Geld. Um Geld zu bekommen, müssen wir von 9 bis 17 Uhr arbeiten. Mit diesem Geld kaufen wir die Dinge, die unserem Leben dienen. Aber Gestern hatten meine Vorfahren und viele der Vorfahren in Europa und an anderen Orten der Welt ein viel höheres Maß an Autonomie und Kapazität und Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen. Und das war getrieben von der individuellen Fähigkeit, aber auch von der Zugehörigkeit und der Abhängigkeit von der unmittelbaren Gemeinschaft und der Familie. Das gilt vor allem ach für den Yukon. Jede*r Einzelne war also in der Lage, für eine kurze Zeit in den Tiefen des minus 40 Grad kalten Winters im Yukon zu überleben, wo es nur sehr wenig Nahrung gibt, aber sie waren auch sehr abhängig von ihren Familien und sie hatten ganze soziale Strukturen und Regeln des Regierens und der Beziehung zum Land, die wirklich die Notwendigkeit des Landes, gesund zu sein, in den Vordergrund stellten. Im Winter gab es nicht viel, es gab Geschichten von Hungersnöten, und so legten sie den ganzen Sommer über in der Fülle des Sommers Vorräte an, und dann wollten sie im Winter darauf zurückgreifen und ernteten Nahrung unter dem Eis, und sie hatten Elche und Karibus. Sie überlebten auf diese Weise, es war ein wirklich schöner Kreislauf, der von den Jahreszeiten abhängig war, von der Rolle, die man in der Familie hatte. Alle wussten, was sie zu tun hatten. Das ist eine andere Sache. Sie hatten Selbstvertrauen und emotionales Bewusstsein. Sie wurden nicht unangemessen wütend. Ihre Wut war auch sehr zielgerichtet. Sie wurden einfach dazu ausgebildet, diese ganzen, sehr selbstbewussten, selbstsicheren und kompetenten Menschen zu sein.
SYLVIA CUNNINGHAM: Wenn du sagst, dass nicht auf die Vergangenheit schauen ist vielleicht das, was in der Diskussion, die wir heute über den Klimawandel führen, fehlt. Ist die Lösung also der Versuch, zu einigen der Praktiken zurückzugehen, die es früher gab? Oder ist es eher abstrakt, es geht mehr um das Vertrauen, das du erwähnt hast. Ist es eher diese Art von Verhalten als eine tatsächliche buchstäbliche Praxis im Sinne von „hier ist eine Anleitung, was zu tun ist“?
JOCELYN JOE-STRACK: Ich glaube, ja, das ist sehr gut ausgedrückt. Wenn wir zurückblicken, hilft uns das zu verstehen, wer wir heute sind, und es gibt Dinge, die wir von unseren Vorfahren und Praktiken und Lektionen übernehmen können, aber an der Wurzel von allem glaube ich, dass es die Werte unserer Gesellschaft sind, die sich ändern müssen. Und wenn wir die Werte verändern wollen, müssen wir uns einem Prozess der Wahrheit und Versöhnung unterziehen, der eine Praxis der First Nations, der Ureinwohner ist, wie ich vermute, die in Ländern mit einer kolonialen Geschichte durchlaufen wird, also wie Kanada, Neuseeland und Australien und die USA. Wir haben bereits unterschiedliche Grade von Realität und Versöhnung und deren Erfolg. Aber es ist die Wahrheit, richtig? Es geht darum, die Wahrheit darüber zu sagen, wo wir hergekommen sind und ich weiß, dass es in vielen Gesellschaften eine Gemeinsamkeit darin gibt, die Realität zu vertuschen oder sie nicht anzuerkennen oder über das, was passiert ist, zu schweigen. Und das passierte auch hier.
Als ich in der Internatsschule aufwuchs, wusste ich nicht wirklich, was das war. Ich wusste, dass es schlimm war, aber meine Familie wollte nicht darüber sprechen, weil es Teil unserer Kultur war. Das ist passiert, es ist vorbei, und wir sprechen nicht mehr darüber. Und ich weiß, dass das in anderen Ländern passiert, zum Beispiel in Spanien. Als ich in Spanien war, habe ich das verstanden - es gibt dort eine Geschichte und ein Bedürfnis nach Versöhnung. Das war auch interessant, als ich in Deutschland war, und ich war sehr stolz auf Deutschland und Berlin für die Arbeit, die sie in die Versöhnung und die Zeit des Krieges gesteckt haben. Ich glaube wir müssen dorthin zurückgehen, um wirklich anzuerkennen, wie sehr dieser Krieg unseren Planeten verletzt hat. Und wir sind alle stolz auf den Erfolg unserer Entwicklung seit dem Krieg und den Komfort, in dem wir leben, und die Sicherheit, die wir als einzelne entwickelte Länder haben, aber wir lassen andere zurück. Es gibt ein großes Maß an Ungerechtigkeit in allen entwickelten Ländern.
Und der andere Teil - der wichtigste Teil - ist, dass viele Menschen innerhalb dieser entwickelten Länder nicht in einem Zustand der Zufriedenheit und des Friedens leben. Wir sind zermürbt, wir sind ängstlich. Angst ist auf der ganzen Welt weit verbreitet, und wir sind aufgrund unserer individualistischen Werte vom Land und voneinander getrennt. Aber eigentlich denke ich, dass wir als Menschen - als gesellschaftliche, verbundene, gemeinschaftliche Menschen - die Abhängigkeit voneinander brauchen, nicht diese Systeme, abstrakte Systeme. Wir brauchen die Abhängigkeit voneinander, um ein gutes Leben führen zu können.
SYLVIA CUNNINGHAM: Du hast Spanien und Deutschland erwähnt, zwei der Orte, die du 2019 besucht hast, als du von den kanadischen Botschaften eingeladen wurdest, nach Europa zu kommen und dein Verständnis des Klimawandels als Indigene Wissenschaftlerin zu teilen. Was ist dir von diesem Besuch in Erinnerung geblieben?
JOCELYN JOE-STRACK: Es war ein wunderbarer Besuch! Ich kam mit meinem Mann und meinen beiden kleinen Kindern rüber. Wir fuhren nach Spanien, Schweden, Deutschland und Frankreich. Und es war wirklich wundervoll, ich fühlte mich so geehrt, etwas von dieser Weisheit und Vieles von dem, worüber ich hier spreche, weitergeben zu können, obwohl ich glaube, dass sich meine Botschaft ein wenig weiterentwickelt hat. Aber die Botschaft, die ich mitbrachte, handelte von der Verbindung zum Land und der Fähigkeit, ein besseres Leben zu haben, nicht unbedingt ein glückliches Leben, aber ein zufriedenes und friedliches Leben, in dem man die Zyklen und die Geschehnisse der Reise mehr akzeptiert. Ich habe also über einige der Möglichkeiten gesprochen, wie wir die Werte verändern können, und das sind Werte der First Nations, die in unserer Gesellschaft geschätzt und sehr regelmäßig praktiziert wurden. Der erste und wichtigste ist die Dankbarkeit. Jeden Morgen wache ich auf und schaue nach Osten und [sage Danke für den neuen Tag]. Und seitdem ich das tue, ist mein Leben ein bisschen schöner geworden, das muss ich zugeben. Und manchmal, wenn ich zu müde bin, um rauszugehen und es zu tun, glaube ich, dass mein Tag nicht so schön ist wie die Tage, an denen ich es tue. Dankbar zu sein ist das Gegenteil von berechtigt sein, und wir sind sehr wohl eine Gesellschaft, die sich durch Vorstellungen von Besitz berechtigt fühlen kann. Besitz ist nicht etwas, das in unserer Gemeinschaft der First Nations Bestand hatte. Es gab Verwalterschaft, es gab keinen Landbesitz. Man kümmerte sich. Es gab Orte, um die sich eine Familie kümmerte und über die sie Autorität hatte, weil sie unter ihrer Obhut stand, aber es gab keine harten Grenzen. Und die einzigen Dinge, die man besitzen konnte, waren Dinge, die man herstellte oder Lebensmittel, die man erntete, aber alle Lebensmittel wurden dankbar geteilt. Und so ist dieser Anspruch etwas, das uns in der modernen Gesellschaft nicht unbedingt dient.
SYLVIA CUNNINGHAM: Ich möchte unsere Diskussion auf die Kunstausstellung in der SCHIRN lenken, wo die Arbeiten der Group of Seven zum ersten Mal in Deutschland gezeigt werden. Ich wollte dich zuerst nach deiner ersten Begegnung mit der Group of Seven fragen und wie dich deren Arbeit beeindruckt hat?
JOCELYN JOE-STRACK: Kunstwerke sind eine so wunderbare Möglichkeit uns zu verbinden und ein bisschen Ruhe und Fragen und Inquisition zu bieten. Sie bergen auch ein bisschen den Geist des*der Künstler*in oder der Eigenschaft der Kunst in sich, mit dem man sich verbinden kann. Und wenn wir darüber nachdenken, wie wir versuchen, ganze Menschen zu sein, ist Kunst ein sehr wichtiger Teil dieser Kreativität und Erfüllung. Also ja, ich denke, die Group of Seven hat eine gute Arbeit geleistet, indem sie das transzendiert hat, indem sie den Geist und das Leben des Landes in unsere Häuser oder in unsere Museen gebracht hat, damit wir alle daran teilhaben können.
SYLVIA CUNNINGHAM: Eines der Themen, die die Ausstellung „Magnetic North“ in der SCHIRN untersucht, ist der Unterschied zwischen Land und Landschaft. Wie siehst du den Unterschied zwischen diesen beiden?
JOCELYN JOE-STRACK: Land und Landschaft. Ich nehme an, Landschaft ist etwas, das man betrachten oder beobachten soll. Wohingegen Land etwas ist, zu dem man eine Beziehung haben kann und ein Teil davon ist. Wir haben hier ein Motto, das „Teil des Landes, Teil des Wassers“ heißt. Und selbst in meiner Rolle als Wissenschaftlerin stelle ich fest, dass die Leute immer wollen, dass ich mich mit „Umweltüberwachung“ oder „Landmanagement“ beschäftige. Wenn ich dann über Kinder, Gemeinschaft und Ungerechtigkeit spreche, fällt es ihnen schwer, die Verbindung zu erkennen. Aber für mich bedeuten gesunde Menschen gesundes Land. Und so konzentriert sich meine ganze Energie in Bezug auf den Klimawandel auf diese tiefen Werte der Menschen. Das könnte auch ein Teil meiner Mikrobiologie sein, wie einfach an die Grundlage dessen zu gehen, was das Problem ist, und das Problem ist, dass wir in einem System feststecken, das Werte fördert, die wiederum der Erde schaden und einander schaden. Also versuche ich einfach, ein bisschen mehr Frieden und Zufriedenheit zu schaffen, ein bisschen mehr Lächeln zu verbreiten, damit die Kinder von morgen eine bessere Zukunft haben können.
SYLVIA CUNNINGHAM: Und das ist meine letzte Frage, denn ich weiß, dass du eines der Kinder von morgen warst, als dein Vater für eure Zukunft gekämpft hat. Jetzt hast du zwei Kinder und man könnte sagen, sie sind die Kinder von morgen. Ich frage mich also, wie du darüber nachdenkst, Kinder an der Spitze vieler Bewegungen zum Klimawandel zu sehen, und selbst kleine Kinder zu haben, wie sprichst du mit ihnen über diese Themen und die Art von Zukunft, die du dir für sie wünschst?.
JOCELYN JOE-STRACK: Nun, ich konzentriere mich mit meinen Mädchen sehr auf die Werte und den Glauben. Der Glaube an das Leben eines Baumes und an die Würde und Autonomie eines Baumes. Die Tatsache, dass er ein Leben hat, dass er Gefühle hat, dass er ein Gedächtnis hat. Die Felsen haben ein Gedächtnis, ob du es glaubst oder nicht, und ich bin sehr dankbar, ein Mensch zu sein, der das weiß und die Erinnerung an einen Felsen erlebt hat. Und so mache ich mir in unserer Gesellschaft Sorgen darüber, wie wir unsere Kinder dazu bringen, nicht zu glauben, und die Wissenschaft spielt dabei eine Rolle. Wir sagen ihnen, sie sollen an Fakten glauben, aber Wissenschaft ist auch eine Theorie. Wir sagen ihnen also, dass sie nicht an den Weihnachtsmann und die Zahnfee glauben sollen und ich denke, das schadet ihnen wirklich, wenn sie sich weiterentwickeln. Es trennt sie von ihrem Herzen und ihrem Geist. Also erzähle ich meinen Mädchen die Geschichten, ich verbinde sie mit dem Land. Ich gehe in die Kindergartenklasse meiner Mädchen und bringe alle Schüler nach draußen und sage ihnen, dass sie sich einen Baum schnappen sollen... Ich sage, OK, du stehst bei diesem Baum, du hältst seine Hand und jetzt atmest du. Ich sage, ihr atmet ein, und dann atmet ihr aus. Und seid still und schaut, ob ihr den Baum mit euch ein- und ausatmen hört. Denn er atmet ein, was du ausatmest und du atmest ein, was er ausatmet. Und es ist einfach das Schönste, den Kindern zu helfen, zu erkennen, wie sehr sie mit den Bäumen verbunden sind und zu ihnen gehören, also ist es das, was ich bei meinen Kindern am meisten zu schützen versuche, ihr Glaube. Ich arbeite auch viel mit Teenagern und mit Menschen in ihren Zwanzigern. Ich denke, die Zwanziger sind sehr prägende Jahre der Verwirrung, also versuche ich einfach, denjenigen, die verwirrt sind, ein bisschen Rat und Stabilität zu geben. Aber eines der größten Dinge, die ich ihnen geben kann, ist ihr Gefühl der Zugehörigkeit und des Zwecks und der Bedeutung in diesem Leben. Für uns ist es die Verbindung mit der Kultur und dieser größeren Sache von „Heute gemeinsam für unsere Kinder von morgen“ und dass wir zu Verwaltern werden und unsere Verpflichtung, das Land zu verwalten. Das ist sehr bedeutungsvoll und erfüllend. Das ist das Beste, was ich ihnen geben kann, im Gegensatz zu unserem Bildungssystem, das von ihnen erwartet, entweder am Schreibtisch zu sitzen oder an Maschinen zu arbeiten oder in der Rohstoffgewinnung zu arbeiten... es ist sehr schwer, einen sinnvollen Zweck zu finden. Also ja, das versuche ich auch zu tun. Das heißt.
SYLVIA CUNNINGHAM: Jocelyn Joe-Strack ist eine „Wissenschaftlerin in der Genesung“, Anführerin und Mitglied der Champagne und Aishihik First Nation aus dem nordwestlichen Yukon.
OPEN AIR AUSSTELLUNG
CAROLINE MONNET. TRANSATLANTIC
Endlich wieder Kunst erleben: Die immersive Installation von Caroline Monnet ist in der öffentlich zugänglichen Rotunde zu sehen!