Im Gespräch mit der Lakota-schottischen Kunsthistorikerin Carmen Robertson über Land oder Landschaft. Unser Auftakt der englischen Podcast-Reihe mit Indigenen Perspektiven auf Kunst, Natur, Dekolonialisierung und Klimawandel.
TRANSKRIPT:
Willkommen bei CRITICAL LAND. Ich bin eure Moderatorin, Sylvia Cunningham. Dies ist die erste Folge des neuen englischsprachigen Podcasts der Schirn Kunsthalle Frankfurt, parallel zum Auftakt der Ausstellung „Magnetic North: Imagining Canada in Painting 1910-1940“. Die Ausstellung, die zusammen mit der Art Gallery of Ontario und der National Gallery of Canada organisiert wurde, untersucht kanadische Landschaftsmalerei der Moderne aus einem zeitgenössischen Blickwinkel. „Magnetic North“ umfasst 90 Gemälde und 40 Skizzen der „Group of Seven“, einem 1920 gegründeten Künstlergruppe. Außerdem werden Werke der Algonquin-französischen Künstlerin Caroline Monnet und der Anishinaabe-Filmemacherin Lisa Jackson gezeigt.
In dieser Podcast-Serie CRITICAL LAND werden wir einige der Themen der Ausstellung „Magnetic North“ aufgreifen, um über das hinauszugehen, was an den Wänden der Galerie zu sehen ist. Durch Interviews mit Indigenen Künstler*innen, Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen stellen wir Verbindungen zwischen der Ausstellung und heutigen Kunst- und Umweltbewegungen her. In dieser Folge hört ihr von einer Lakota-schottischen Professorin aus Kanada, deren Forschung und Lehre sich auf zeitgenössische Indigene Kunstgeschichte konzentriert.
Außerdem erfahren wir von der Kuratorin von „Magnetic North“ von den Herausforderungen, die „Group of Seven“ zum ersten Mal einem deutschen und europäischen Publikum zu präsentieren. Das ist also unser Ausgangspunkt heute. Die „Group of Seven“. Stellt euch vor: Eine weite, zerklüftete Landschaft, die sich kilometerweit erstreckt. Ein einzelner Baum, der allen Widrigkeiten zum Trotz standhaft in Wind und Kälte verharrt. Scheinbar unberührte Wildnis, soweit das Auge reicht. Das ist das Kanada des frühen bis mittleren 20. Jahrhunderts, gesehen mit den Augen und Pinselstrichen von sieben Malern. Genauer gesagt, ein Kollektiv weißer, männlicher Maler, die sich selbst die „Group of Seven“ nannten. Ihr Motto? „Weniger Atelier, mehr Wald.“
Hier ist Martina Weinhart, Kuratorin der Schirn Kunsthalle Frankfurt.
MARTINA WEINHART: Sie zelteten, sie fischten, sie fuhren mit ihren Kanus über die Hügel und blieben draußen. Sie wollten wirklich diese „harten Kerle“ sein.
SYLVIA CUNNINGHAM: Martina Weinhart zufolge wollte die Gruppe von Malern nicht die Art von „Intellektuellen“ sein, die sich in der Stadt auf einen Drink trafen. Die „Group of Seven“ wollte Kunst machen, die anders war als die Kunst in Europa. Hatten sie damit Erfolg? Nun, das ist kompliziert.
MARTINA WEINHART: Sie sahen sich selbst als kanadische Künstler, aber die Hälfte von ihnen kam aus England und viele von ihnen waren in Europa ausgebildet worden, besuchten Paris oder sogar Berlin. Sie waren sehr gut in europäischer Kunstgeschichte ausgebildet. Wenn man sich ihre Bilder anschaut, gibt es gewisse Anklänge an die deutsche Romantik, Caspar David Friedrich zum Beispiel, oder man findet gewisse Bezüge zur französischen und natürlich skandinavischen Kunst, das waren also die Wurzeln, auf denen ihre Kunst beruhte.
SYLVIA CUNNINGHAM: In der Ausstellung in der Schirn werden die Werke der „Group of Seven“ erstmals in Deutschland gezeigt.
MARTINA WEINHART: In Kanada sind sie ein nationales Kulturgut. Sie sind Ikonen. Jedes Kind kennt sie. In der Schule lernen sie über Picasso und sie lernen über die „Group of Seven“.
SYLVIA CUNNINGHAM: Das ist in Europa nicht der Fall, hier sind die Maler, so Martina Weinhart, ziemlich unbekannt. Aber das Kollektiv zum ersten Mal einem deutschen Publikum zu präsentieren, ist eine knifflige Aufgabe. Wie immer ist der Kontext entscheidend.
MARTINA WEINHART: Alle diese Bilder sind sehr stimmungsvoll, sehr „schön“. Aber sie sind leer. Es gibt keine Menschen. Man findet diese Art von Gemälde auch in Europa, aber in Kanada bekommt dieser Ansatz eine ganz andere Bedeutung, weil dieses Land nicht leer war. Es war über Jahre und über Jahrtausende hinweg das Land der Indigenen Einwohner.
SYLVIA CUNNINGHAM: Das ist einer der blinden Flecken der „Group of Seven“, und auch ein Thema, mit dem die Ausstellung „Magnetic North“ ringt. Und in diesem Podcast, CRITICAL LAND, werden wir das auch tun.
In der heutigen Folge besprechen wir mit Professor Carmen Robertson, einer Lakota-schottischen Wissenschaftlerin aus dem Qu'appelle-Tal in Saskatchewan in Kanada, unter anderem die Idee von „Land vs Landscape“ (dt. Land vs. Landschaft). Wir untersuchen den Mythos der unberührten Wildnis und sprechen über den Prozess der Dekolonisierung der Kunst(geschichte). Carmen Robertson ist “Tier 1 Canada Research Chair in North American Indigenous Art and Material Culture” an der Carleton University in Ottawa, Ontario. Dort leitet sie ein großes Forschungsteam, das sich mit dem Leben und Werk des Anishinaabe-Künstlers Norval Morrisseau beschäftigt. Morrisseau war Teil eines Kollektivs indigener Künstler in den 1970er Jahren. Dieses Kollektiv erhielt später den Spitznamen „Indian Group of Seven“.
Professor Robertson erzählte mir zu Beginn, was sie und ihre Forschung antreibt.
CARMEN ROBERTSON: Ich unterrichte Indigene Kunstgeschichte seit den frühen 2000er Jahren. Ich hatte schon immer eine Leidenschaft dafür, sicherzustellen, dass Indigene Kunst im Kontext der Kunstgeschichte im Allgemeinen und der kanadischen Kultur im Besonderen besser verstanden wird, dass sie auch in einem globalen Verständnis positioniert wird. Also ob es nun Norval Morrisseau im Besonderen oder zeitgenössische Indigene Kunst im Allgemeinen ist – meine Leidenschaft ist es, sicherzustellen, dass die Menschen verstehen, was diese unglaublichen Künste sind. Sie wurden so lange unterschätzt, dass es irgendwie aufregend ist zu sehen, dass eine Veränderung im Gange ist.
SYLVIA CUNNINGHAM: Okay, also hat es bereits eine Veränderung gegeben? Würdest du hier eher von einer Bewegung in den letzten Jahren sprechen, oder sogar Jahrzehnten?
CARMEN ROBERTSON: Ich würde nicht Jahrzehnte sagen, nein, definitiv nicht. Aber es gibt einen substanziellen Wandel, den wir beobachten. Zum Beispiel hat sich die National Gallery in Kanada wirklich dazu verpflichtet, zeitgenössische Indigene Kunst auszustellen. „Abadakone“ war zum Beispiel eine sehr wichtige Ausstellung, eine internationale Indigene Ausstellung, die im letzten Jahr dort stattfand. Es gibt also eine schrittweise Veränderung. Allerdings gibt es noch kein wirkliches Verständnis dafür, was hinter dieser Kunst steckt, das muss sich erst noch entwickeln.
SYLVIA CUNNINGHAM: Wir werden das gleich noch etwas genauer untersuchen. Aber zuerst möchte ich einen Schritt zurückgehen. Wann bist du zum ersten Mal auf die Arbeit der „Group of Seven“ gestoßen?
CARMEN ROBERTSON: Nun, ich denke, dass alle Kanadier, wenn sie geboren werden (lacht), automatisch wissen, wer die „Group of Seven“ ist. Weißt du, in der Grundschule ist das die einzige Kunst. Ich bin in einer sehr kleinen Stadt in Saskatchewan aufgewachsen und wir haben fast keine Kunstwerke gesehen, aber irgendwie wusste ich, wer die „Group of Seven“ war. Und wir wussten, dass ihre Landschaften ikonische Bilder dessen waren, was Kanada ist. Und ja, es gab immer ein Verständnis dafür, dass das wirklich die wichtigste Kunst in Kanada war.
SYLVIA CUNNINGHAM: Da du in Kanada aufgewachsen bist, hast du dich mit diesen Landschaften verbunden gefühlt? Hast du die Landschaften in den Gemälden wiedererkannt?
CARMEN ROBERTSON: Nun, es ist unbestreitbar, wie schön ihre Darstellungen von Landschaft sind. Aber ihre Vorstellung „Landschaft“ ist dabei wichtige. Sie haben nicht das „Land“ gemalt, mit dem ich mich verbunden fühle. Aber diese Wahrnehmung einer leeren Wildnis ist wirklich ein ikonischer Aspekt ihrer Malerei und, das wusste ich in der Grundschule nicht, eine koloniale Konstruktion, die Kanada geholfen hat, mit seinem kolonialen Projekt voranzukommen. In der Annahme, dass Kanada „terra nullius“ oder ein leeres Land sei, konnten sich europäische Nationen frei fühlen, Gebiete in Amerika zu kolonisieren. Man könnte also sagen, dass diese Vorstellung von einer wilden, zerklüfteten und leeren Wildnis einer der Gründe dafür ist, dass die „Group of Seven“ zu einer so populären künstlerischen „Bewegung“ in Kanada geworden ist.
SYLVIA CUNNINGHAM: Du würdest also sagen, dass dieser Trugschluss von unberührter Landschaft, von unberührter Wildnis dann in den Rest der Welt als „kanadische Kunst“ exportiert wurde.
CARMEN ROBERTSON: Auf jeden Fall. Und natürlich war dies stark beeinflusst von dem, was in Europa passierte. Es ist keine spezifisch kanadische Vision des Landes, es ist sehr... Ich glaube, es war W.J.T. Mitchell, der damals in den 1990er Jahren sagte, dass die Landschaft ein künstlerisches Beispiel für den europäischen Imperialismus ist. Und ich glaube, dass sich das in der „Group of Seven“ wirklich manifestiert.
SYLVIA CUNNINGHAM: Wir haben bereits ein wenig über den Unterschied zwischen Land und Landschaft gesprochen. Könntest du den Unterschied zwischen diesen Begriffen noch einmal näher erläutern?
CARMEN ROBERTSON: Ja und ich werde die Art und Weise, wie ich darüber denke, von einer Lakota- oder Indigenen Art, das Land zu kennen, von einer eurozentrischen oder westlichen Art und Weise trennen. Landschaft ist wirklich das Malen eines Besitzes oder eines Objektes, während das Denken über Land durch bestimmtes kulturelles Wissen – ich selbst bin Lakota, aber weißt du, auch Cree oder Anishinaabe, denken wir an Morrisseau – ist eine relationale Verbindung zu Land; eine lebende Verwandtschaft innerhalb eines größeren Bedeutung von Lebewesen. Es ist also keine Sache, kein Besitz. Es ist eine weitere lebende Entität, um die man sich kümmern muss und die sich um einen kümmern wird.
SYLVIA CUNNINGHAM: Wenn ich mir die Arbeit der „Group of Seven“ ansehe, fällt mir auf, dass sie nicht nur „unberührt“ ist, und ich sage das mit Anführungszeichen, sondern dass es auch diese Einsamkeit gibt. Diese Art von Alleinsein, Selbstverwirklichung, Selbstbestimmung. Hast du das Gefühl, dass dies auch Teil der Erzählung ist, das Rausgehen in die Natur als Einzelaktivität?
CARMEN ROBERTSON: Ja und auch eine sehr männliche Aktivität. Ich denke, das hat sicher eine gewisse Resonanz. Sie unterstreicht die patriarchalischen Ansichten des Kolonialismus, worum es im dominanten Kanada tendenziell geht, also ja, es ist auf jeden Fall eine Verstärkung all dieser Arten von Signifikanten im Spiel.
SYLVIA CUNNINGHAM: Siehst du das auch im Tourismus, in der Tourismusliteratur, im Marketing, du weißt schon, „Entdecken Sie Kanada“ oder so ähnlich. Du sagtest, dass du in deiner Grundschule und in der kleinen Gemeinde, in der du aufgewachsen bist, nicht viel mit Kunst in Berührung gekommen bist, aber dennoch hast du die Kunst der „Group of Seven“ gesehen. Durchdringt diese Vorstellung also viele verschiedene Ebenen?
CARMEN ROBERTSON: Auf jeden Fall. In der gesamten kanadischen Populärkultur sieht man diese allgegenwärtigen Beispiele für die Nutzung des Landes, der Wildnis, weißt du, die Schroffheit der Natur. Die Möglichkeit, die unberührten Aspekte Kanadas zu entdecken, und das geht natürlich nicht nur durch die Kunst, wie du sagst, sondern auch durch alles, was in Kanada für den Tourismus oder im 19. Jahrhundert für die Ansiedlung oder den Umzug nach Kanada beworben wurde. Aber auch wenn du an die Canadian Broadcasting Company (CBC) denkst, die in ihren frühen Anfängen ein Mandat hatte, dem „Hinterland Who‘s Who“ – das waren kurze Beiträge, die in Kanada ausgestrahlt wurden und in denen man etwas über unberührte Teile Kanadas erfuhr. Das National Film Board of Canada hatte ein ähnliches Mandat, um Kanada der Welt zu zeigen, und ein Teil davon war, zu zeigen, dass Kanada dieses wirklich ungezügelte und wilde Land war, also ist es wirklich ein Teil des kanadischen Mythos.
SYLVIA CUNNINGHAM: Hast du das Gefühl, dass die „Group of Seven“ ihr Ziel erreicht hat? Ich habe diesen Ausdruck gesehen, der mit der „Group of Seven“ assoziiert wird, dass ihr Stil „einzigartig kanadisch“ ist, wieder in Anführungszeichen. Ich frage mich, was das überhaupt bedeutet, „einzigartig kanadisch“ zu sein?
CARMEN ROBERTSON: Richtig, das ist so ein komplizierter Begriff, weil wir neben den USA leben, die immer eine so überwältigende Kraft für Kanada waren, aus einer imperialen Beziehung mit Großbritannien und dem Commonwealth kommend. Kanada hat also sehr stark versucht, ein Gefühl der Identität zu entwickeln. Sie haben hierfür die „Group of Seven“ genutzt sowie auch einen weiteren künstlerischen Ausdruck, der in Kanada sehr beliebt war: Die Kunst der Inuit, um Kanada als „etwas anderes“ zu bewerben. Bei der Inuit-Kunst ist das einfacher, weil es sich um eine Indigene Kunst handelt. Es ist keine Indigene Kunstform, weil es sich um Skulpturen oder Druckgrafik handelt, aber es geht um Indigene Erzählungen. Kanada hat die Landschaft, insbesondere die Art von Landschaften, die die „Group of Seven“ geschaffen hat, als einzigartig kanadisch für sich beansprucht, obwohl wir wissen, dass es sich in Wirklichkeit um eine europäische Tradition handelt.
SYLVIA CUNNINGHAM: Emily Carr ist eine der Malerinnen, die, obwohl sie technisch gesehen kein Mitglied der „Group of Seven“ war, eng mit dieser Gruppe verbunden ist. Sie zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass sie eine der wenigen Frauen war, sondern auch dadurch, dass sie zu verschiedenen Häusern und Indigenen Dörfern reiste und Totempfähle und dergleichen darstellte. Wie siehst du ihre Arbeit?
CARMEN ROBERTSON: Nun, es ist interessant, weil ich seit Jahren Kunstgeschichte unterrichte und viele Student*innen davon ausgehen, dass Emily Carr aufgrund der Art von Themen und Bildern, die sie malte, eine Indigene Künstlerin ist. Es ist immer ein bisschen überraschend für mich, aber ich weiß, dass es dieses Missverständnis gibt, weil sie diese Bilder sehr schön einfängt. Allerdings tut sie dies innerhalb einer Landschaftstradition. Sie war vor allem sehr eng mit Lawren Harris verbunden, sie schrieben sich Briefe hin und her und solche Dinge. Kristina Huneault, eine Kunsthistorikerin in Kanada, verglich die Art und Weise, wie Emily Carr Land malte, mit der einer engen Freundin von ihr, einer Salish-Korbmacherin, Sewinchelwet. Sie verglich und kontrastierte dabei, wie sie über das Land durch ihre jeweiligen Kunstformen und ihre Beziehung zueinander sprechen und denken. Was dabei deutlich wurde, auch weil sie selbst als Kunsthistorikerin der Siedler mit dieser Vorstellung von Land versus Landschaft zu kämpfen hatte, war, dass Emily Carr trotz ihrer eigenen Spiritualität das Land sehr stark als eine Sache sah. Diese Dinghaftigkeit von Land unterscheidet sich vom Verständnis der Salish von Land als Verwandtschaft oder Beziehung. Wie sich Maler*innen also in der Landschaft positionieren, als Teil dessen oder eben nicht, verändert diese Beziehung. Das führt zurück zur Epistemologie oder unterschiedliche Möglichkeiten, das Land zu kennen. Ich denke, das ist ein Schlüssel, um die Art und Weise zu verändern, wie Menschen Land und Landschaft im Museumskontext verstehen.
SYLVIA CUNNINGHAM: Ich finde es sehr interessant, dass einige deiner Studenten davon ausgehen, dass Emily Carr eine Indigene Künstlerin ist und du dann anfängst Fragen darüber zu stellen, wer sie war und in welcher Zeit sie malte. Was sind einige dieser Fragen, die in einer dieser Diskussionen auftauchen?
CARMEN ROBERTSON: Nun, zum Beispiel sind viele der Bilder, die sie gemalt hat, Darstellungen von Überresten ehemaliger Dörfer an der Westküste von British Columbia. Diese Vorstellung, dass sie keine Menschen in diesen Bildern hat, dass sie keine lebenden Dörfer malt, sondern eine Art romantisiertes Bild einer Vergangenheit oder die Überreste einer Vergangenheit, führt wirklich zu einem Diskurs über die „Letzten einer aussterbenden Art“. Ein romantisches Bild eines in der Zeit eingefrorenen Raums, in dem sich Indigene Völker zu dieser Zeit befanden. Wenn man also erkennt, dass diese Art visuellem Diskurs Teil des Gepäcks ist, das man mitbringt, wenn man diese Arbeiten betrachtet, muss man einige dieser Schichten abtragen.
SYLVIA CUNNINGHAM: Vielleicht ist jetzt ein guter Zeitpunkt, bevor wir zu Norval Morrisseau kommen, über die verschiedenen Begriffe sprechen – über Native, Indian, Aboriginal, First Nations, Indigen. Könntest du eine kleine Anleitung zur Verwendung dieser Begriffe geben?
CARMEN ROBERTSON: Nun, diese Begriffe sind sehr politisiert worden, und es sind externe Begriffe, die den Indigenen Völkern aufgezwungen wurden. Die Idee der „einen Indigenen Perspektive“, dass alle Indigenen Völker eine homogene Gruppe sind, ist ziemlich lächerlich. First Nations, Aborigines, Indigen. Das sind Begriffe, die nützlich sind, aber sie beziehen sich nicht wirklich auf ein Individuum. Es gibt im Moment einen echten Schub, als Teil der dekolonisierenden Bemühungen, Souveränität zu erlangen: Souveränität über die eigene Nation, Identität, das eigene Sein. Wenn ich zum Beispiel Morrisseau als Anishinaabe bezeichne. Einmal wurde er als „Indian“ bezeichnet, ein anderes Mal als „First Nation“, dann als „Aborigine“, dann als „Indigen“. Die Leute nennen ihn immer noch „Indigen“, oder auch Ojibwe, was ein anthropologischer Begriff ist. Aber er ist Anishinaabe, Teil der Anishinabek Nation. Die Verwendung von Begriffen, die von einer bestimmten Nation stammen, sind jetzt in Kanada viel gebräuchlicher geworden, und ich denke, das ist ein wirklich guter Weg die 500 Nationen zu verstehen, die es hier gab, als dieses Land besiedelt wurde.
SYLVIA CUNNINGHAM: Das ist eine perfekte Überleitung zu Norval Morrisseau, einem Anishinaabe-Maler. Kannst du erklären, wer er war?
CARMEN ROBERTSON: Er ist der erste Indigene Künstler in Kanada, der 1962 eine Einzelausstellung in einer Mainstream-Galerie für zeitgenössische Kunst in Toronto, Ontario, erhielt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte kein Indigener Künstler in Kanada eine Ausstellung dieser Art erhalten. Kunst wurde in Museen gezeigt. Sie war tendenziell als „Artefakt“ bekannt. In dieser Hinsicht war er also ein echter Wegbereiter. Er wird heute als der „Mishomis“ oder der „Großvater“ der zeitgenössischen Indigenen Kunst angesehen. Er ist auch der erste Indigene Künstler in Kanada, der eine Retrospektive in der National Gallery of Canada (NGC) bekam. Und das geschah im Jahr 2006, zu einer Zeit als die NGC tatsächlich nur eines seiner Gemälde erworben hatte. Seine Arbeiten wurden zwar in vielen Kunstmuseen in Kanada gesammelt, aber hauptsächlich in ethnographischen Museen, was an sich schon sehr widersprüchlich ist. Ich denke also, das Wichtigste was Morrisseau getan hat, war eine einzigartige visuelle Sprache zu schaffen, eine Form des visuellen Geschichtenerzählens, die man verstehen kann, wenn man seine Kunst betrachtet, die aber keine Vorläufer in der europäischen oder westlichen Kunsttradition hat. Für mich ist das grundlegend für sein Genie und seine Kreativität.
SYLVIA CUNNINGHAM: Okay, also für alle unsere Podcast-Hörer*innen, könntest du versuchen diese sehr seltsame Sache zu tun und ein Bild für uns beschreiben? Natürlich können alle online nachsehen oder in unsere Shownotes schauen. Kannst du uns trotzdem einen visuellen Eindruck geben?
CARMEN ROBERTSON: Nun, eine Besonderheit war, dass er einige Anishinaabe-Methoden zur Erstellung von Kunst verwendete, die es bereits seit Jahrtausenden gibt. Er sah sich dafür Felszeichnungen an, Orte der Visionssuche. Er sah sich Schriftrollen aus Birkenrinde an, heilige Schriftrollen, und er sah die Art und Weise, wie sie visuelle Darstellungen verwendeten. Davon wurde er beeinflusst. Aber dann gibt es noch diese dicke schwarze Linie, die alle seine Figuren umreißt, egal ob es sich um Tiere, Bäume oder Menschen handelt, er umreißt alle seine Figuren immer mit einer sehr dicken schwarzen Linie. Diese Linien verbinden sich dann mit jedem anderen Lebewesen innerhalb des Gemäldes, um dieses Gefühl von relationaler Verbindung oder Verwandtschaft zu schaffen. Es ist gar nicht so leicht zu entziffern, er verwendet oft helle, leuchtende Farben und innere Segmentierungen. Er benutzt wirklich interessante Wege, um die Wesen in seinen Werken zu verbinden, und oft stammen diese aus traditionellen Geschichten. Deshalb wurde er manchmal als „Legendenmaler“ bezeichnet, in diskreditierender Weise, aber eigentlich malte er auch wirklich zeitgenössische Themen. Diese wurden irgendwie herabgewürdigt, zugunsten eines Gemäldes von einem Elch zum Beispiel.
SYLVIA CUNNINGHAM: Was heißt das, wenn du sagst er wurde als „Legendenmaler“ in einer diskreditierenden Weise bezeichnet?
CARMEN ROBERTSON: Nun, das ist wiederum eine komplizierte Idee, die auf den Primitivismus und die Einordnung Indigener Kunst in bestimmte Schubladen zurückgeht. Wenn du an die Ausstellung „Primitivismus“ von 1985 denkst und wie moderne Künstler wie Picasso oder Klee von nicht-westlicher Kunst oder Kunstbeispielen wie afrikanischen Masken inspiriert wurden. So wurde auch Morrisseaus Kunst in einen Diskurs eingegrenzt. Der Begriff „Legende“ wurde in der Hinsicht diskreditierend benutzt, wie man über eine Weltanschauung nachdenkt, in der die Geschichte als theoretische Grundlage genutzt wird, um Wissen zu organisieren.
SYLVIA CUNNINGHAM: Seine Popularität und Bekanntheit stieg sprunghaft an, als er 1962 der erste Indigene Künstler war, dessen Werke in einer zeitgenössischen Kunstgalerie in Kanada ausgestellt wurden. War das ein zweischneidiges Schwert für ihn?
CARMEN ROBERTSON: Auf jeden Fall. Also zunächst einmal muss man bedenken, wann und wie er aufgewachsen ist. Er wurde 1932 geboren und wuchs in einer Zeit auf, in der er in die Indian Residential School in Kanada gehen musste, wo er sexuell und körperlich missbraucht wurde. Das prägte ihn natürlich. Zum Glück kehrte er dann in die Heimatgemeinde seiner Großeltern zurück, bei denen er auch lebte. Sein Großvater war ein Schamane in der spirituellen Midewiwin-Hütte, die Teil der kulturellen und spirituellen Aktivitäten der Anishinaabe ist. Morrisseau war eine Art Lehrling von seinem Großvater und reiste mit ihm auf den Seen und Flüssen. Er lernte Geschichten über das Land und die Verbindungen, traf sich mit alten Leuten und hatte auf diese Weise ein wirklich privilegiertes Leben. Es gab also eine sehr polarisierte Art, über Bildung nachzudenken. In einem westlichen Sinne war sein Bildungssystem sehr niedrig und gewalttätig, dennoch hatte er diese echten Möglichkeiten, Wissen und seine Sprache zu lernen, die viele andere Indigene Menschen nicht hatten. Das ist also in sich selbst widersprüchlich. Und er war nie ein ausgebildeter Künstler in dem Sinne, dass er auf eine westliche Schule gegangen wäre. Er schuf seine eigene, wirklich artikulierte Sprache, seine eigene Ästhetik. Und viele Indigene Künstler, vor allem Anishinaabe- und Cree-Künstler aus dem Nordwesten Ontarios, folgten dieser Tradition und erweiterten diese Ästhetik.
SYLVIA CUNNINGHAM: Als er also diesen Bekanntheitsgrad erlangte, begann seine Popularität zu wachsen. Wurde sein Leben im Grunde genommen für die prüfenden Blicke der Welt geöffnet?
CARMEN ROBERTSON: Nun ja, und es war auch ein wenig überwältigend für ihn. Er hatte deswegen Probleme mit Drogen und Alkohol, was nicht überraschend ist. Er war eine temperamentvolle Person und es war ein schwieriger Weg, den er im Kanada der 1960er und 1970er Jahre ging, so dass er eine Weile brauchte, um herauszufinden wer er war. Er wurde von Kunsthändlern und Medien in verschiedene Richtungen gedrängt und in Schubladen gesteckt, auch das war sehr schwierig, aber am Ende hat er dieses erstaunliche Werk geschaffen, das meiner Meinung nach zu den größten Meisterwerken der kanadischen Kunstgeschichte gehört.
SYLVIA CUNNINGHAM: Und Morrisseau war auch Teil der Professional Native Indian Artists Incorporation (PNIAI), die später den Spitznamen „Indian Group of Seven“ erhielt. Kannst du etwas zu ihrer Geschichte erzählen, was diese Gruppe von Künstlern gemacht hat?
CARMEN ROBERTSON: Auf jeden Fall. Nun, Daphne Odjig, die Odawa ist, ist diese erstaunliche Künstlerin... sie wäre die Großmutter der zeitgenössischen Indigenen Kunst und kannte Morrisseau, wurde von ihm beeinflusst. Sie besaß in den 1970er Jahren eine Galerie in Winnipeg, Manitoba, und brachte diese Künstler*innen, einschließlich Morrisseau, in der PNIAI zusammen, um einen Weg zu finden jungen Indigenen Künstler*innen in Kanada die Arbeit zu erleichtern, nicht die Schwierigkeiten zu haben, mit denen die Gründungsgruppe zu kämpfen hatte. Um Galerien für Ausstellungen zu öffnen, Künstler*innen den weg zu bereiten, damit sie sich nicht mit den vielen der Frustrationen auseinandersetzen müssen, mit denen sie und Morrisseau zu kämpfen hatten. Alex Janvier ist ein weiteres Schlüsselmitglied dieser Gruppe. Letztendlich hat sich die Gruppe nicht wirklich aufgelöst, aber sie haben sich in verschiedene Bereiche bewegt. Morrisseau war nach etwa 1975 nicht mehr Teil dieser Gruppe.
SYLVIA CUNNINGHAM: Was waren einige dieser Frustrationen?
CARMEN ROBERTSON: Nun, ich habe erwähnt, dass ihre Arbeiten nicht in Kunstmuseen, sondern in ethnografischen Sammlungen ausgestellt und gesammelt wurden, das war der Schlüssel. Es war auch nicht gerade einfach eine Ausstellung in einer zeitgenössischen Mainstream-Galerie zu bekommen. Einige kommerzielle Galerien waren definitiv offen dafür, die Arbeiten zu zeigen, aber sie wollten die Art und Weise, wie die Kunst gezeigt wurde oder die Themen der Kunstwerke kontrollieren. Und wenn man bedenkt, wie viel Geld die Künstler*innen für ihre Arbeit bekamen, war die Indigene Kunst im Vergleich zu der anderer Künstler*innen in Kanada extrem unterbewertet.
SYLVIA CUNNINGHAM: Kommen wir zurück in die Gegenwart und zu meiner letzten Frage: Wer sind einige der Künstler*innen mit denen du dich heute auseinandersetzt? Wen sollten wir weiterverfolgen?
CARMEN ROBERTSON: OK, ich bin nicht nur die leitende Forscherin bei dieser Studie über Morrisseau, sondern ich bin auch leidenschaftlich begeistert von zeitgenössischen Perlenarbeiten, die aus der kanadischen Prärie kommen. Ruth Cuthand und ihre „Trading Series“ zum Beispiel. Sie ist eine Künstlerin, die meiner Meinung nach in Kanada wirklich auf eine aufregende Weise führend ist. Und Perlenstickerei ist in ganz Kanada ein wirklich wichtiges Medium, das eine große Resonanz gefunden hat. Nadia Myre aus Montreal, eine Anishinaabe, ist international sehr bekannt. Und natürlich die Performance-Kunst: Rebecca Belmore und Kent Monkman sind zwei international bekannte Beispiele. Vor zehn Jahren habe ich in meinen Kursen zeitgenössische Indigene Künstler*innen vorgestellt und meine Student*innen kannten ihre Namen nicht. Wenn ich heute zeitgenössische Indigene Künstler*innen vorstelle, sind sie bereit, über ihre Arbeit auf spannende Weise nachzudenken, weil sie die Künstler*innen kennen und sie verfolgen. Das kommt unter anderem daher, dass ihre Arbeit und ihre Ausstellungen zugänglicher sind. Das sind also gute Nachrichten.
SYLVIA CUNNINGHAM: Carmen Robertson, Professorin an der Carleton University in Ontario. Vielen Dank, dass du dir heute Zeit genommen hast.
CARMEN ROBERTSON: Oh, vielen Dank, Sylvia.