Must-Read: Was Raven Leilanis Debütroman „Luster“ mit uns und Kara Walkers Kunst zu tun hat.

Schon der erste Satz von „Luster“ beginnt mit der Schilderung einer Sexszene; dem ersten Mal der Protagonistin Edie und dem Objekt ihrer Begierde, Eric. Doch wie so vieles im Erstlingsroman der US-amerikanischen Autorin Raven Leilani, ist es nicht so, wie es auf den ersten Blick scheint. Die beiden sind in ihrer Mittagspause und komplett angezogen, werden vom blauen Licht des Bildschirms beschienen, als es passiert – und befinden sich an zwei verschiedenen Orten in der Stadt.

Die Begegnung zwischen Eric und Edie findet virtuell statt. Doch der erste Satz sitzt, reißt alle Aufmerksamkeit an sich und trifft die pikanten Erwartungen der Lesenden, die sich vom Buchcover mit den vollen, roten Lippen des leicht geöffneten Munds haben fehlleiten lassen. Nur, um sie im selben Augenblick gleich wieder zu brechen. In „Luster“ steckt viel Lust, jedoch nie nur auf der eindimensionalen Ebene des Sexdate-über-Mittag-Motivs.

Der erste Satz sitzt

Das Buch folgt der Geschichte der 23-jährigen Edie, die in New York lebt und eine Affäre mit Eric Walker beginnt, den sie über eine Dating-App kennengelernt hat. Der Archivar ist in seinen Vierzigern und lebt mit Frau und Kind in einem Häuschen im Vorort. Edie ist Afroamerikanerin, Eric und seine Frau sind weiß. Doch selbst mit diesem brisanten Griff in die „race“-Kiste, zieht die klischierte Dreieckskonstellation zwischen den Figuren die Aufmerksamkeit auf sich – ein verheiratetes Paar und die jüngere Affäre.

Raven Leilani, Luster, Buchcover, Image via
www.panmacmillan.com

Zugegeben, es war auch dieser Punkt, von dem mir eine Freundin als erstes erzählte, als sie mir das Buch empfahl. Das +1 zu einer bestehenden Beziehung birgt nicht nur einiges erzählerisches Potential, es ist außerdem eine Thematik, mit der sich zu Zeiten dynamischer Beziehungsmodelle und Polyamorie immer mehr Menschen auseinandersetzen. In einem Interview spricht die Autorin von einem voyeuristischen Lesegefühl. Doch „Luster“ wäre nicht von Kritiker*innen wohlwollend gepriesen worden, wenn die Geschichte nicht mehr täte, als eine um Rassismus angereicherte Version der altbekannten Erzählung von außerehelichen Romanzen weichzuklopfen. Neben der Tatsache, dass Eric und seine Frau ganz zeitgemäß eine offene Ehe leben, hat das Paar eine Tochter adoptiert, die wie Edie Afroamerikanerin ist.

Moderne Paarkonzepte treffen auf Machtgefälle

Moderne Paarkonzepte treffen auf Machtgefälle in Altersunterschieden, Klasse, beruflicher Freiheit, finanzieller Absicherung und den unklaren Gefilden der interracial Beziehungsdynamiken, in denen sich das Allerpersönlichste – die Attraktion einer anderen Person gegenüber – und das Politische bis zur Unkenntlichkeit vermengen. All das versieht Raven Leilani mit einer gehörigen Prise Millennial-Geist und so fließen bezeichnende Phänomene, wie die wochenlange Magie auf Texting-Ebene oder die Ziellosigkeit, mit der sich Edie durch ihr Leben treiben lässt, mit ein. „Luster“ zu lesen ist wie einem hypnotisierenden Bargespräch nach Mitternacht zu folgen. Alles wirkt bedeutsam, doch es bleibt eher ein Gefühl als wirkliche Details zurück.

Photograph by Sophia Wilson for The New Yorker, Image via www.newyorker.com

Wenige Wochen zuvor habe ich in den Zeichnungen von Kara Walker die Figuren betrachtet, die Schwarz und Weiß aufeinanderprallen lassen. Die Künstlerin befasst sich mit Themen wie Identität, Rassismus, Sexualität und Gewalt in der US-amerikanischen Gesellschaft, um bestehende Erzählungen und Vorstellungen herauszufordern. In ihren rund 650 Zeichnungen in der Ausstellung der SCHIRN treffen Stereotypen und Rollenbilder aufeinander und entwerfen karikaturhaft eigene Geschichten. Ihr Archiv ist wie ein Fiebertraum von unzusammenhängenden Szenen, die eine ganz eigene Form von Storytelling betreiben. In ihnen sammelt sich die geballte Kraft von Ungleichheit und Unterdrückung, exemplarisch an der US-amerikanischen Geschichte von Versklavung festgemacht und kanalisiert durch die Fiktionen der Künstlerin.

„The Black body is overburdened with history“, zitiert Kunsthistorikerin Noura Johnson die Künstlerin immer wieder. Kara Walker interessiere es, eine Unterscheidung von Identität und Geschichte zu machen. In ihren Scherenschnitten, die nur aus Konturen ohne Details zur Person bestehen, ist es noch deutlicher; doch auch ihre Zeichnungen sind von dieser Abstraktion geprägt: Wenn sich Schwarze und weiße Menschen in ihnen treffen, sind das keine Begegnungen von individuellen Schicksalen, sondern von Symbolen einer problematischen Vergangenheit und ihrer Fortführung in der Gegenwart.

The Black body is over­bur­de­ned with history

Kara Walker
Kara Walker, Untitled, 2008 © Kara Walker

Dass Kara Walkers Kunst trotz der Rückgriffe auf historische Motive auch für ein zeitgenössisches Publikum relevant ist, basiert genau auf dieser Fortführung in der Gegenwart. Unterdrückung, Ausgrenzung und andere Gewaltformen sind noch immer zentrale Themen im gesellschaftlichen Verhandlungsprozess, doch sie bleiben als Symbole immer nur abstrakte Konstrukte. Diskriminierung ist schlecht, so weit ist der allgemeine Konsens inzwischen (mehrheitlich) fortgeschritten, aber ihr breites Spektrum wird noch kontinuierlich austariert.

Von Kara Walker zu „Luster“ 

Und hier kommen Romane wie „Luster“ ins Spiel. Die Geschichte ist so ambitioniert komplex und umfasst doch so wenige Figuren, dass ich es nicht für möglich gehalten hätte, dass so ein Roman funktionieren kann. Doch die Erzählperspektive, die der jungen Edie folgt, webt die sozialen Spannungen der US-amerikanischen Gesellschaft auf subtilem Weg in das zwischenmenschlichen Individualschicksal. Leilani schafft es, diese abstrakte „Fortführung in der Gegenwart“ greifbar zu machen und nirgendwo scheinen solche Komplexitäten besser aufgehoben als im sowieso schon verworrenen Beziehungsgeflecht. Die anfangs präsente Dynamik zwischen Edie und Eric tritt schnell in den Hintergrund und wird durch die viel tragendere Spannung zwischen den drei Frauenfiguren ersetzt. Ehefrau, Adoptivtochter und Affäre – letztlich sind es ganz andere Beziehungsnetze als die zu Eric, die Edie in ihrer Ziellosigkeit etwas Halt geben.

Kara Walker, Barack Obama as Othello "The Moor" With the Severed Head of Iago in a New and Revised Ending by Kara E. Walker, 2019 © Kara Walker, Foto Jason Wyche

In manchen Artikeln über das Buch wird die Dekonstruktion des Familienlebens in den Vordergrund gestellt, in anderen die Sezierung moderner Beziehungen, in wieder anderen die Millennial-Haftigkeit der Erzählung. Midlife-Crisis, Daddy Issues, Ghosting, Grenzüberschreitung, Fetisch, Machtspiele, Machtgefälle, Abhängigkeit, Tokenismus, Familientraumata, Liebesentzug, Schutzbedürftigkeit, lost sein und Selbstfindung; „Luster“ bietet für alle Themen einen Zugang, doch am Ende und Anfang dieses Strudels steht immer Edie. Ihre Figur lässt die von Walker angelegte Trennung zwischen Geschichte und Identität hinter sich und erinnert daran, dass im Zentrum all der soziopolitischen Debatten eine 23-jährige afroamerikanische Frau steht, die ganz Millennial irgendwie und irgendwo ihren Platz zu finden versucht. So sagt Leilani an einer anderen Stelle des oben erwähnten Interviews: „For me the book is about desire, and what it means to try to seize the right to make art as a young black woman. I had those two main poles of the book – there’s the body and then there’s art.“

Vergangenen Oktober wurde bekannt, dass sich HBO an eine Serienadaption von „Luster“ wagt und der Stoff den Zeitgeist damit nicht nur aufgreift, sondern auch weiter prägen wird: Nach „Sex and the City“ (1998) und „GIRLS“ (2012), fügt der Streaming-Anbieter eine weitere Erzählung hinzu, wie sich das Leben in New York, der scheidenden Hauptstadt des kollektiven, popkulturellen Traums des letzten Jahrhunderts, entfalten kann. Die Entscheidung ist mehr als nachvollziehbar, wenn man die verlockende Anlage des Liebesdreiecks als Einstieg bedenkt. Zum Glück wissen wir, nicht zuletzt seit Şeyda Kurts „Radikale Zärtlichkeit“, dass Liebe politisch ist. Beziehungsmodelle frei von Unterdrückungsmechanismen pflastern den Weg hin zu einer gerechteren Gesellschaft und Leilanis Erzählung liefert Zündstoff für genau diese Diskussion.

For me the book is about desire, and what it means to try to seize the right to make art as a young black woman.

Raven Leilani
Kara Walker, Untitled, nicht datiert © Kara Walker

KARA WALKER. A BLACK HOLE IS EVERYTHING A STAR LONGS TO BE

15. Oktober 2021 – 16. Januar 2022

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