DU SOLLST KONFORMISMUS BEKÄMPFEN. So lautet das erste der 10 Gebote von und für Gilbert & George. Wie das Künstlerduo nach dem Sinn des Lebens sucht und dabei Kunst für alle schafft.

Spaziert man durch die Stadt, vorbei an all den Strömen unbekannter Menschen, dann fragt man sich unwillkürlich, wie wohl ihr Leben aussieht? Woran denken sie? An die verrücktesten Dinge vermutlich. Die sozialen Medien haben die Skurrilität des menschlichen Innenlebens besonders deutlich gemacht, doch Gilbert & George loten diese einst verborgenen Tiefen aus, seit sie nach ihrem Abschluss am Central Saint Martins College 1968 begannen gemeinsam Kunst zu schaffen.

Seitdem tragen sie aufeinander abgestimmte Anzüge und pflegen ein einheitliches Auftreten. Sie spielen dabei genüsslich mit der Diskrepanz zwischen dem ersten äußeren Eindruck als respektabel daherkommende Gentlemen und der queeren, punkigen, konservativen, blasphemischen Innenwelt, zu der sie sich bekennen.

Ihre Kunst entsprach so gar nicht dem, was alle ande­ren mach­ten

Als Außenseiter empfanden sie sich seit jeher. Homosexualität war in Großbritannien erst 1967 entkriminalisiert worden. Ihre Kunst entsprach so gar nicht dem, was alle anderen machten. „Als wir von Saint Martins abgingen“, erzählen sie den Kuratoren Daniel Birnbaum und Hans Ulrich Obrist, „erkannten wir, dass wir auf uns gestellt waren, dass niemand uns helfen konnte. ... Wir passten nicht ins Bild. Und daraus entstand dann die Idee, dass wir selbst ein Kunstwerk sein und durch die Straßen Londons gehen könnten.“ Keiner von beiden kam aus einer Stadt, sie waren neu dort, und so begannen sie ihre Streifzüge. Im London der Swinging Sixties wandelten sich die Vorstellungen davon, was Stadt sein konnte, die Gesellschaft öffnete sich, die Straßen füllten sich mit Leben.

Gilbert & George, QUEER, 1977, Courtesy of Gilbert & George

Durch diese Straßen wandern Gilbert & George noch heute. Seit mehr als fünf Jahrzehnten fotografieren sie auf ihren tagtäglich unternommenen Spaziergängen allerlei Dinge, die ihnen ins Auge fallen, seien es sensationslüsterne lokale Boulevardzeitungen oder Ginkgoblätter, Plakate oder obszöne Graffiti an den Wänden, Erbrochenes oder Kot auf dem Boden, und fügen alles zu einem Porträt Londons, der britischen Gesellschaft, der Welt, zeigen uns, wie verrückt, anarchisch, lebensbejahend das Ganze ist. „Nichts geschieht in der Welt“, hat George einmal gesagt, „was nicht auch im East End passiert.“ East London ist ebenso Chaos, wie es die Welt ist.

In gewisser Weise haben Gilbert & George den anarchischen Geist des „Punk“ vorweggenommen und ihm Gestalt gegeben. Denn sie sind Anti-Establishment: Sie lehnen den Kunstbetrieb ab, machen ihre Kunst für die Menschen, sind Nonkonformisten. Das erste der von ihnen verfassten „Zehn Gebote für Gilbert & George“ (1995) besagt: „DU SOLLST KONFORMISMUS BEKÄMPFEN.“ Die Freiheit des Einzelnen schätzen sie über alles. Sie vertreten einen Do-it-yourself-Ansatz, pflegen eine laute, grelle Ästhetik, und lieben es, zu provozieren, zu empören, haben ihre Freude daran, das Publikum zu trollen: „Wir wollen eine Kunst, die ins Gesicht springt, die aggressiv ist“, sagte Gilbert einmal. „Konfrontation scheuen wir nicht.“

DU SOLLST KONFORMISMUS BEKÄMPFEN.

Auszug aus „Zehn Gebote für Gilbert & George“ (1995)
Gilbert & George, VOMIT, 2014, Courtesy of Gilbert & George
Gilbert & George, KNIFED, 2011 © Gilbert & George. Courtesy White Cube

In „Bum Holes“ aus ihrer Serie der „The Naked Shit Pictures“ (1994) beugen sie sich vor und öffnen ihre Pobacken für uns. Die „Fundamental Pictures“ (1996) beinhalten Nahaufnahmen von Pisse und Blut: ihres eigenen Blutes, für das sie zunächst selbst schnitten und das sie sich später dann von einem Arzt abzapfen ließen. Alles ziemlich punkig. In ihrem Statement „Was unsere Kunst bedeutet“ (1986) schreiben sie: „Wir wollen unser Blut, unser Hirn und unseren Samen verspritzen bei unserer lebenslangen Suche nach neuen Bedeutungen und neuem Sinn für das Leben.“ Anders ausgedrückt, ist ihre anarchisch-punkmäßige Haltung weniger eine Form von Nihilismus als eine Suche nach Sinn: Die Künstler glauben, uns so vor Augen stellen zu können, wer wir sind, welcher Art von Gesellschaft wir angehören. Sie sind das, was man heute „chaotisch gut“ nennt. Dazu eine grandiose Textstelle aus dem mit Birnbaum und Obrist geführten Gespräch:

Gilbert & George, BUM HOLES, 1994, Courtesy of Gilbert & George

Gilbert: Wenn man sich unsere Arbeit ansieht, dann vermittelt sie in gewisser Weise nicht den Eindruck von Werken der Kunst, eher von der Zerrissenheit eines Menschen.

George: Eines Lebens.

Gilbert: Von der Zerrissenheit im Leben eines Menschen: von der Frage danach, wie man mit seiner Sexualität umgehen soll, mit seinen Verhaltensweisen, seiner Moral oder politischen Einstellung. Es geht nicht um Kunst.

Ihre Arbeit handelt vom menschlichen Leben an sich. Sie ermutigt uns, das Seltsame, das Vielschichtige anzunehmen, das Manische, die innere Unruhe, die in unserer Natur liegen. Künstler*innen, so meinen Gilbert & George, müssten keinen Sinn ergeben, sollten voller Widersprüche stecken: Niemand sollte Sinn ergeben. Menschen ergeben nun mal keinen Sinn! Und erst indem sie sich das eingestanden, durch ihre Weigerung, sich dem Status quo zu fügen, fanden sie für sich die Möglichkeit, ein größeres Publikum anzusprechen und „Kunst für alle“ zu schaffen.

Chaos ist letz­ten Endes nur eine höhere Form von Ordnung

Kommen wir noch einmal zurück auf die Spaziergänge. Seit 1968 erstellen Gilbert & George Kontaktabzüge von ihren Aufnahmen gefundener Menschen, Dinge und Slogans, ordnen sie nach Thema und Jahr, legen sie in ihrem enormen Archiv ab. Im Laufe der Zeit, so sagen sie, kann man mittels Wiederholung und Routine zu einem tieferen Verständnis der Bildgegenstände finden. Ihr Thema ist anarchisch, ihre Methodik jedoch diszipliniert. Indem sie die rational geordnete apollinische Herangehensweise in die wilde dionysische Anarchie des modernen Lebens einbringen, gelingt es Gilbert & George, Ordnung aus dem Chaos zu erschaffen – das letzten Endes nur eine höhere Form von Ordnung ist.

Gilbert & George, SPERM EATERS, 1982, Courtesy of Gilbert & George und White Cube

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