Wer hätte gedacht, dass das Haus des Künstlerpaars zu 99% aus Keramik besteht? Ein Blick in die faszinierende Sammlung von Gilbert & George.
Ich dachte, ich wüsste alles über Gilbert & George, oder zumindest die meisten Dinge: Ich weiß, wo sie jeden Abend essen gehen (wenn gerade kein Lockdown ist); ich weiß, ihre Anzüge sitzen tadellos, ihr Geschmack ist eklektisch und ihr Sinn für Humor anzüglich. Doch erst als mich das SCHIRN MAGAZIN bat, diesen Beitrag zu schreiben, da wurde mir bewusst, dass ihr Haus bis unters Dach gefüllt ist mit Keramiken, die die Künstler seit 40 Jahren sammeln, fast über die gesamte Zeit, die sie in der Fournier Street im Londoner Stadtteil Spitalfields wohnen. Quasi so, als wäre das georgianische Stadthaus ein einziges riesiges Behältnis.
Die Sammlung ist enorm, sowohl was den Umfang als auch die stilistische und funktionelle Vielfalt der Objekte betrifft. Braune Reliefkrüge mit aufgelegtem Maskendekor sind dort ebenso vertreten wie hohe, elegante Steingutvasen oder aufwendig gemusterte, rundbauchige Kannen aus dem Kunsttöpferatelier. Es handelt sich um eine der größten Privatkollektionen zu Keramiken und Gebrauchskunst des 19. Jahrhunderts in Großbritannien, mit Stücken einiger der bedeutendsten Keramikkünstler dieser Zeit, etwa Thomas Backway Brannam sowie Christopher Dresser und Sir Edmund Elton. Gilbert & George pflegen einen rebellischen Sinn für das Unzeitgemäße. „Wir mögen das 19. Jahrhundert, denn alle Intellektuellen um uns herum verabscheuen es“, verraten sie mir per Videolink von zu Hause aus. „Und wir sind der Meinung, sie liegen falsch.“
Über die Schwelle der Fournier Street 12 zu treten, ist so, als öffnete sich die Tür zu einer fernen Vergangenheit, als die Wohnhäuser Londons noch mit mehr Holz aufwarteten als ein Tudor-Schlachtschiff. Alle Zimmer enthalten eine passgenau arrangierte Darbietung von Keramikwaren. (Ordnung, so glauben die Künstler, schafft mehr Raum für kreatives Denken.)
Wir mögen das 19. Jahrhundert, denn alle Intellektuellen um uns herum verabscheuen es.
Jedes der vier Stockwerke zeigt Arbeiten eines anderen Keramikkünstlers: das oberste die unverwechselbare Elton Ware, das zweite majestätische Dresser-Vasen, das erste Töpferkunst aus der Brannam Pottery und das Erdgeschoss Watcombe-Geschirr. Gilbert & George interessieren sich dafür, was die Keramiken über die Gestaltungsphilosophie ihrer jeweiligen Schöpfer aussagen. Von Dressers nachdrücklichem Eintreten für die industrielle Fertigung bis hin zu Eltons kunsthandwerklichem, nicht auf Perfektion ausgerichtetem Credo lassen sie sich faszinieren von der moralischen Dimension der Stücke. „Es hängt ja von der eigenen Herkunft und Ausbildung ab, was man in einer Vase sieht“, sagt George. „Sie lässt sich höchst unterschiedlich auf viele, viele Weisen deuten.“
Gilbert & George interessiert die moralische Dimension der Keramik
In den letzten 15 Jahren ist das Interesse an Dressers Arbeiten wieder gestiegen, befeuert durch hochkarätige Ausstellungen im Cooper-Hewitt National Design Museum in New York ebenso wie im Victoria & Albert Museum in London. Der in Glasgow geborene Künstler machte einen ästhetisch motivierten Gestaltungsansatz populär, bezog elegante ägyptische, japanische wie auch maurische Elemente in die von ihm entworfenen Gebrauchs- und Ziergegenstände ein. Elton hingegen schätzte eher die Qualität des Handgefertigten und schuf auffällige, extravagante Krüge mit opulenten Craquelé-Glasuren aus flüssigem Gold.
An einer gewissen Ordnung und Kontrolle haben Gilbert & George während ihrer gesamten Karriere stets festgehalten, und ein jedes Ding in ihrer Welt verbindet sich mit einer Herkunftsgeschichte, die – wer weiß? – vielleicht wahr ist oder auch nicht. Ihre Obsession für die Filmkunst (der letzte Film, den sie im Kino sahen, war „Die durch die Hölle gehen“ von 1978) tauschten sie 1979 gegen das Shoppen ein. In Antiquitätenläden stöberten sie nach Stücken der britischen Arts-and-Crafts-Bewegung oder des Ästhetizismus und gaben Geld aus, das sie nicht besaßen. Beide sind voller Widersprüche – ganz normal und seltsam zugleich, nahbar und doch distanziert – und haben zweifellos diebische Freude daran, dass ihre Mythologie, Dynamik und Lebensweise für Autor*innen wie mich ebenso verwirrend wie amüsant sind.
Die Sammlung zeugt von einer Passion, die über das Performative hinausgeht
Dabei zeugt eine Sammlung dieser Größenordnung von einer Passion, die über das Performative hinausgeht, und offenbart uns etwas über die Künstler, was ihre Werke eher weniger preisgeben. Gestalter wie Dresser oder der neugotische Architekt und Designer Augustus Pugin sind Gilbert & Georges künstlerische Helden und bilden ein Bindeglied zur Vergangenheit, die uns etwas über die Gegenwart und Zukunft zu sagen vermag. „Pugin hat seinem Leben und seinen Schöpfungen so große Bedeutung verliehen“, meint George. „Dennoch blicken wir nie zurück“, fügt Gilbert in einem paradoxalischen Bekenntnis hinzu. „Die Reise geht unaufhörlich weiter, Tag für Tag.“
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