So könnte man die Arbeit des Künstlerkollektivs Metahaven vielleicht am besten beschreiben. Sie führt uns in die Tiefen des Internets und die damit einhergehende Verzerrung der Realität.
„To sprawl“, das heißt sich ausbreiten, wuchern, ausdehnen; so nennt sich aber auch eine Kampftechnik im Wrestling, mit der Gegner zu Boden gerissen werden können. Nur passend, dass diese Bedeutungen im Titel jener Arbeit mitschwingen, die das Kollektiv Metahaven 2016 produziert hat: „The Sprawl (Propaganda about Propaganda)“ führt uns tief in die Auswüchse des Internets, diese Infrastruktur globalen Ausmaßes, die alle Sphären vom Politischen bis hin zum Privaten berührt. Zugleich geht es um die zentrale Bedeutung dieser Infrastruktur in einem geopolitischen Wettstreit, in dem die Position des Gegners mit der Erschaffung „alternativer“ Wahrheiten und Realitäten unterminiert wird.
„The Sprawl“ besitzt keine feste Form. Es ist vielmehr eine Ansammlung an Videosplittern, die in unterschiedlichen Konstellationen und Materialitäten auftauchen können: Als Videoinstallation, aufgeteilt auf fünf Bildschirme, an Säulen aufgehängt, durch die man hindurchwandeln kann. Als sprawl.space, eine Website, auf der man sich durch verschiedene Schnipsel klickt, die von YouTubes Algorithmen vorsortiert sind. Oder als experimenteller Dokumentarfilm. Die Bewegtbilder, aus denen sich „The Sprawl“ zusammensetzt, sind genauso heterogen: YouTube-Videos, Handyaufnahmen, Nachrichtensendungen, Interviews, oder von Metahaven selbst inszenierte Szenen.
Im Fokus von „The Sprawl“ stehen die Ereignisse von 2014, insbesondere die Ukrainekrise: Die Euromaidan-Proteste, die Absetzung der ukrainischen Regierung, die Kampfhandlungen im Osten des Landes, die Annexion der Halbinsel Krim durch Russland und der Abschuss eines Malaysia-Airlines-Flugs über der Ostukraine – das Geschehen überschlägt sich in der ersten Hälfte des Jahres. Die Ukrainekrise wird aber auch für eine neue Art des Cyber-Informationskriegs emblematisch: staatlich orchestrierte Desinformationskampagnen, die sich besonders effektiv über Plattformen wie YouTube, Twitter oder WhatsApp hinweg verbreiten. Natürlich ist dieses Phänomen nicht nur russischer oder staatlicher Natur: Von der Einflussnahme im US-Wahlkampf über den Brexit bis zur Verbreitung von Corona-Verschwörungsmythen, in den letzten Jahren hat die Verzerrung der Realität immer extremere Ausmaße angenommen. Und es wird immer undurchsichtiger, wer dahintersteht und davon profitiert.
Eine Frau sitzt vor einem von Nebelschwaden umhüllten Bildschirm, in dem sich ihr Gesicht reflektiert. Ein abgehörtes Telefonat zwischen dem amerikanischen Außenministerium und dem US-Botschafter der Ukraine: „Fuck the EU“. Natalja Poklonskaja, ehemalige Generalstaatsanwältin der Krimregierung, erobert die Herzen als Animefigur und YouTube-Hit.
„Es gibt einen konstanten Strom an Desinformationen, dessen Ziel es zu sein scheint, die Vorstellung zu unterminieren, dass Wahrheit überhaupt etwas beweisbares ist”, so der Journalist Peter Pomerantsev in einem Segment von „The Sprawl“. Das Zurechtdrehen von Fakten, die gezielte Streuung von Falschnachrichten und das Aufblähen von bedeutungsleeren Botschaften (bullshitting) untergraben den Willen und die Möglichkeit, sich einer überprüfbaren Antwort zumindest anzunähern. Diese Propagandaspielart ist nicht auf Überzeugung spezialisiert; es geht darum, einen Zustand der Desorientierung zu schaffen, in dem man sich umso emotionaler an das Weltbild klammert, das die eigene Filterblase produziert. Bots, Troll-Fabriken und durch Algorithmen perfektioniertes Targeting sind gefährliche Verstärker dieser Entwicklung; letztlich funktioniert das System aber auch so gut, weil wir selbst ohne Unterlass klicken, liken, teilen und Content generieren.
Im Cyberwettstreit um Deutungshoheit, das führt „The Sprawl“ plastisch vor Augen, geht es nicht um die Faktenlage, sondern um Emotionalisierung und die Entwicklung unabhängiger Narrative: „Der meinungsmachende Effekt der Information ist viel wichtiger als ihr faktischer Inhalt“, so Daniel van der Velden, der Metahaven 2007 gemeinsam mit Vinca Kruk gegründet hat. Vor allem Bilder eignen sich gut für diese Form der Meinungsmache. Zum einen vertrauen wir auf ihre Beweiskraft, zum anderen affektieren sie uns viel stärker als Text; sie fesseln unsere Aufmerksamkeit und sprechen unsere Gefühle an. Metahaven leisten mit „The Sprawl“ gewissermaßen archäologische Arbeit, in dem sie die Schichten dieser digitalen und visuellen Medienlandschaft umgraben und die freigelegten Fragmente zum treibenden Elektrosoundtrack des Musikers Kuedo neu montieren.
Nächtliche Aufnahmen aus einer verlassenen Trollfarm-Fabrik in Russland. Kamerafahrt durch eine Stadt, kopfüber. Ein Vlogger wundert sich darüber, dass ein Passagierflugzeug von der Größe einer Boeing 777 vom Radar der Erde verschwinden kann, während wir in der Lage sind, ein iPhone zu orten.
Eines dieser „ausgegrabenen“ Relikte führt zur Juristin Natalja Poklonskaja, deren unfreiwillige Karriere als Internet-Meme vor Augen führt, wie verflochten und undurchsichtig das Gewebe aus vermeintlich harmlosen Internethypes und multidimensionaler Propaganda ist: Nach einem Auftritt bei einer Pressekonferenz der kremltreuen Krimregierung wurde die zierliche Poklonskaja auf japanischen und russischen Plattformen mit Anime-Fan Art bedacht, die sich rasch international verbreitete. Der russische YouTuber Enjoykin mixte aus diesem Material wiederum den Synthpop-Track „Nyash Myash“ zusammen. Der ist nicht nur ein unterhaltsamer Ohrwurm, der mit über 40 Millionen Klicks viral ging, sondern propagiert auch Poklonskaja als Heldin, die Russlands Feinde mit dem Langschwert köpft. Die „Memefizierung“ der Anwältin, die das eigentliche Geschehen in der Ukrainekrise verharmloste, fügte sich damit geschmeidig in die prorussische Cyberpropaganda ein.
Eine Schauspielerin schwingt vor einem Greenscreen ein Langschwert: „I live in the megastructure.“ Die Autorin Maryam M. Gharavi über die Ästhetisierung der Politik und die Politisierung der Kunst. Ein Soldat des Islamischen Staats snackt M&M‘s.
Die Entwicklung des Internets von einem utopischen Projekt zu einem zunehmend dystopischen Szenario ist für Metahaven ein zentrales Thema: In welche Mechanismen der Wahrheitspolitik, Überwachung und Manipulation sind wir dort verwickelt? Wie kämpfen Staaten und Technologie-Konzerne um Souveränität im digitalen Raum? Und was verstehen wir noch unter Begriffen wie Realität, Autonomie und Identität?
Für Kruk und van der Velden, die beide als Grafiker*innen ausgebildet sind, spielt in diesen Fragen Design eine zentrale Rolle. Design ist mit Kommunikation und der Reduktion von Informationen, dem Erschaffen von Identitäten und Wertschöpfung befasst – nicht nur für Marken, sondern auch für Staaten und Organisationen, vom IS bis zu WikiLeaks. Für Kruk und van der Velden hat ihr Handwerk somit geopolitische Implikationen, wie sie in ihrem Pamphlet „White Night Before a Manifesto“ (2008) schreiben. Ihre Arbeit als Metahaven verstehen sie als Gelegenheit, Design in eine spekulative Praxis zu verwandeln, die sich mit solchen Themen in freien Formen auseinandersetzt. Dabei trifft politische Theorie auf Popkultur und Ästhetik, entstehen Bücher und Essays, Assemblagen, Installationen und Filme. In „The Sprawl“ fügt sich ihr Ansatz zu einem cyberfuturistischen Trip zusammen, der uns quer durch die medialen Schichten einer Welt im postfaktischen Zustand führt.
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