Und finde: Welten aus Wasserstrudeln, Kosmetikartikeln und winzig kleinen Plastikfiguren. Oder auch im Ganzen verhüllte Treppenhäuser. Unsere persönliche Top Ten aktueller Bodenarbeiten.

Bodenmalerei ist eine eigene Kunstform, die fast so alt ist wie die Menschheit selbst. Das früheste Mosaik entstand vor 400 000 Jahren, und seither haben sich die Griechen, die Römer und die Kulturen des Nahen Ostens dem Boden in der Kunst gewidmet. Diese kann verschiedenste Ausprägungen annehmen, von Mosaiken und Teppichen zu Malereien und skulpturalen Gestaltungen, von schlichten Mustern über naturalistische Darstellungen bis hin zu Kreidezeichnungen.

1. Haerizadeh, Haerizadeh, Rahmanian, O You People!, 2020

Das monumentale Bodengemälde „O You People!“ steht im Zentrum der ersten Einzelausstellung von Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh und Hesam Rahmanian in Deutschland. Um das Gesamtkunstwerk zu erschaffen, verwandelte sich das iranische Künstlerkollektiv in „dastgāhs“: Mit diesem persischen Begriff bezeichnet man die Gesamtheit von Werkzeugen, die für einen bestimmten Zweck benötigt werden, und in der klassischen persischen Musik beschreibt er eine melodische Matrix für Improvisationen.

Als Werkzeuge nutzen die Künstler zum Beispiel offene Ohren, um dem Strom der Zeit zu lauschen, Kleider und Rettungswesten zur Identifikation mit den Flüchtenden, die das Mittelmeer überqueren. In stets demselben Ritual legen die „dastgāhs“ grundlegende Strukturen des Werkes mithilfe von „Malmaschinen“ an. Anschließend werden auf herkömmliche Weise noch zahlreiche Details ergänzt. Hier entstand eine faszinierende Landschaft aus riesigen Wasserstrudeln, orientalischen Mustern und teppichartig strukturierten Oberflächen – in einem Sog von Geschichten und Referenzen, die von der Antike bis zur Gegenwart reichen.

Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh, Hesam Rahmanian, O You People!, 2020, Detail, Courtesy die Künstler und Galerie Isabelle van den Eynde, Dubai, produziert und realisiert von Schirn Kunsthalle Frankfurt
2. JR, A Walker In The City, 2015

2015 schuf der Fotograf und Straßenkünstler JR auf einer dreieckigen Übergangsinsel unterhalb des Flatiron Building, genau dort, wo 5th Avenue und Broadway einander kreuzen, das großflächige Fotoplakat eines jungen Mannes. „A Walker in the City“ entstand im Auftrag des New York Times Magazine für die Ausgabe „Walking New York“. 20 Personen klebten das aus 62 Teilen bestehende Schwarzweißbild zusammen, das Migration, menschliche Verbundenheit, Gemeinschaft und Identität thematisiert. Auf ihm dargestellt ist der 20-jährige Kellner Elmar Aliyer aus Brooklyn, der aus Aserbaidschan nach New York emigrierte.

3. Zuzanna Czebatul, Vortex (A New Day Coming), 2020

Im antiken und mittelalterlichen Rom schätzte man Opus sectile, eine künstlerische Technik, für die Materialien in Stücke geschnitten und auf Fußböden oder Wänden zu Mustern gefügt werden. Hiervon inspiriert, schuf Zuzanna Czebatul für das Centre d’art contemporain – La synagogue de Delme in Frankreich eine Bodenarbeit im Opus-sectile-Verfahren. Die Fliesen aus Zement und Pigmenten verweisen auf die Architektur des Ortes – eine ehemalige Synagoge, die heute ein Raum für Gegenwartskunst ist. Die Formen des Thoraschreins, der Fenster und der Säulen im Eingangsbereich hat die Künstlerin in Muster übersetzt, die fast fließend erscheinen. Sie strömen zu einem dunklen Wirbel in der Raummitte, der das Vergehen der Zeit und die unaufhörliche Bewegung von Sand in der Wüste versinnbildlicht.

Zuzanna Czebatul, Vortex (New Day Coming), 2020, installation view, CAC-La synagogue de Delme, 2020. Courtesy: the artist; photograph: OH Dancy, Image via passe-avant.net

4. Imran Qureshi, And How Many Rains Must Fall before the Stains Are Washed Clean, 2013

2013 bot die Dachterrasse des Metropolitan Museum in New York einen besonderen Anblick: Blutrote Spritzer bedeckten Betonplatten und Brüstung, sodass man sich unwillkürlich fragte: Wurde hier jemand ermordet? Doch bei genauerem Hinsehen offenbarten sich Muster, Hunderte von Blütenblättern, Blumen, die aus dem Chaos erblühten. Der jährlich vergebene Auftrag zur Gestaltung der Dachterrasse ging damals an den pakistanischen Künstler Imran Qureshi. Nach den brutalen Bombenanschlägen, die seit Anfang der 2000er-Jahre Lahore heimsuchen, begann er, rote Acrylfarbe in seinen Installationen einzusetzen. Statt aber das Publikum nur mit den Gewalttaten seines Heimatlandes zu konfrontieren, setzte der Künstler ein Zeichen der Hoffnung und des Neubeginns, indem er aus Zerstörung neues Leben erwachsen ließ.

Imran Qureshi, And How Many Rains Must Fall before the Stains Are Washed Clean, installation view, 2013, acrylic, COMMISSIONED BY THE METROPOLITAN MUSEUM OF ART, NEW YORK, Image via www.artnews.com

5. Anish Kapoor, Descension, 2017

Nach Stationen in Indien und im Schlossgarten von Versailles wurde Anish Kapoors Werk „Descension“ 2017 im Brooklyn Bridge Park installiert. Anlass hierfür war der 40. Jahrestag des Public Art Fund. In spiralförmiger Bewegung strudeln Wassermassen zur Mitte: Anstatt den Boden als Arbeitsfläche zu nutzen, steigt Kapoor in „Descension“ buchstäblich durch ihn hinab ins Unbekannte. Im Gegensatz zu Indien und Frankreich, wo das Wasser schwarz gefärbt war, behielt es in New York seine Naturfarbe – auf diese Weise entsteht eine tiefere Verbindung zum East River, der unmittelbar am Brooklyn Bridge Park vorbeifließt.

Anish Kapoor, Descension, Brooklyn, 2017, Image via WikiCommons

6. Polly Apfelbaum, Flatterland: Funkytown, 2012

Polly Apfelbaum ist bekannt für ihre Bodenarbeiten, die die in New York lebende Künstlerin selbst als „gefallene Gemälde“ bezeichnet. Häufig bewegen sie sich zwischen Struktur und Formlosigkeit, und „Flatterland: Funkytown“ ist keine Ausnahme: Stückchen synthetischen Samts, alle von der Künstlerin von Hand geschnitten und gefärbt, sind wie zufällig auf dem Boden arrangiert und folgen doch Prinzipien wie Farbe, Linie und Form. Der Titel verweist auf Edwin Abbott Abbotts „Flatland. Eine phantastische Geschichte über viele Dimensionen“ (1884) und Ian Stewarts „Flatterland“ (2001) – beide Romane beschreiben eine zweidimensionale Welt, in der soziale Hierarchien auf geometrischen Flächenformen basieren.

Polly Apfelbaum, Flatterland: Funkytown, 2012, Image via www.dameliogallery.com

7. Do-Ho Suh, Floor, 2000

Im Indianapolis Museum of Art ist man eingeladen, einen leicht erhöhten und mit Glasplatten abgedeckten Bereich in der Galerie W403 zu betreten. 32 quadratische Platten fügen sich dort zu einer fast von Wand zu Wand reichenden Fläche. Steht man darauf, so zeichnen sich kleine Farbpunkte ab, bei näherer Betrachtung jedoch erkennt man die Hände Tausender winziger bunter Figuren, die die Abdeckung stützen: Die Gemeinschaft trägt den Einzelnen. Dieses Thema kehrt immer wieder im Werk des in Seoul geborenen Bildhauers Do-Ho Suh, der sich mit Archiektur und Raum im Spannungsfeld von kollektiven Handlungen und individueller Identität auseinandersetzt. 

DO HO SUH, Floor, 1997-2000, Installation at Lehmann Maupin Gallery, New York, Courtesy the artist and Lehmann Maupin Gallery, New York, Image via mymodernmet.com

8. Christo und Jeanne-Claude, Wrapped Floor and Stairway, 1968/69

Als Christo und Jeanne-Claude 1968 ihr erstes öffentliches Gebäude verhüllten, das Museum of Contemporary Art in Chicago, wollten sie nicht nur die Außenseite mit einer schweren Plane verhängen, sondern im Gebäudeinneren zusätzlich ein komplementäres Werk schaffen. Für „Wrapped Floor and Staircase“ verdeckten sie den Boden der unteren Museumsgalerie mit grauweißen, von Seilen gehaltenen Stoffbahnen. Christo und Jeanne-Claude sind berühmt für ihre Verpackungsaktionen von Bauwerken wie dem Berliner Reichstag oder der Pont Neuf in Paris. Inzwischen ist das Künstlerpaar verstorben – Christo erst kürzlich im Mai 2020. Dennoch wird ein weiteres ihrer Projekte noch realisiert: „L’Arc de Triomphe, Wrapped“ ist für September 2021 geplant.

Christo and Jeanne-Claude, Wrapped Floor and Stairway, Museum of Contemporary Art, Chicago, 1968-69, Photo: Shunk-Kender © 1969 Christo, Image via christojeanneclaude.net

9. Karla Black, Includes Use, 2016

„Includes Use“ entstand 2016 für die zweite Ausstellung der Bildhauerin Karla Black bei David Zwirner in New York. Teil der raumgreifenden Bodenarbeit ist unter anderem farbiges Toilettenpapier. Die in Glasgow lebende Künstlerin interessiert sich für alltägliche Materialien wie Zucker, Seife oder Zahnpasta, die sie, losgelöst von ihrem ursprünglichen Verwendungszweck, in etwas Ätherisches, Geheimnisvolles verwandelt. Ausgangspunkt für „Includes Use“ war eine von Black selbst auf dem Boden der Galerie angebrachte Kreidevorzeichnung, die anschließend mit farbigem Gipspulver und Puder verfüllt wurde. Die Streubereiche sind eingefasst von filigranen Rüschenrändern, bestehend aus Toilettenpapier in Zartrosa, Hellbraun und Ocker, die eher an elegante Tortenverzierungen denken lassen als an Gegenstände des täglichen Lebens.

Karla Black, Includes Use, 2016, Image via afasiaarchzine.com

10. Lee Mingwei, Guernica in Sand, 2006/2020

Aus 28 Tonnen Sand gestaltete Lee Mingwei im Juli 2020 die Arbeit „Guernica in Sand“. Hierfür empfand er Picassos ikonisches Gemälde „Guernica“ in der buddhistischen Tradition des Sandbildes nach. Nach der Fertigstellung im Gropius Bau in Berlin durften Besucher*innen der begleitenden Ausstellung über den Sand laufen. Abschließend wurde das Sandbild, so wie es die buddhistische Tradition verlangt, zusammengefegt – im Sinne einer Verwandlung, nicht einer Entfernung. Der taiwanesisch-US-amerikanische Künstler wirft damit die Frage auf wie es nach der Zerstörung weitergeht und thematisiert das Potenzial von Kunst als transformative Kraft.

Lee Mingwei, Guernica in Sand, 2006/2020, Gropius Bau, installation view. Courtesy: the artist and Gropius Bau, Berlin; photograph: Laura Fiorio. Image via artreview.com

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