Nach der Islamischen Revolution wurde im Iran ein Tanzverbot erlassen. Mit geschmuggelten Videokassetten des Tänzers Mohammad Khordadian wurde es unterwandert – und tradierte Rollenbilder aufgebrochen.
„Hast Du schon das neue Video von Khordadian gesehen? Das ist echt super!“ – Es gab wohl kaum eine Familie im Iran, die nach der Revolution 1979 wie auch in Zeiten des Iran-Irak-Krieges (1980–1988) nicht über den Tänzer Mohammad Khordadian und seine berühmt-berüchtigten Musikvideos sprach.
Aufgrund der politischen Unterdrückung, der Verwüstung infolge des Kriegs und der zunehmenden Sanktionen befand sich die iranische Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt in einem Zustand der tiefen Depression. Als die soziokulturellen Beschränkungen in Form strenger Zensur ihren Höhepunkt erreichten, wurden Videokassetten (VHS) von Tanzkursen und Aufführungen aus den USA in den Iran geschmuggelt, kopiert und von Familie zu Familie weitergereicht. Diese Aufnahmen waren in vielen Fällen die einzigen verfügbaren Referenzen, um „iranischen“ Tanz zu lernen.
Khordadians Aufnahmen wurden von Familie zu Familie weitergereicht
Khordadian wurde durch eben diese Videoaufnahmen berühmt. Nach der Revolution 1979 und dem darauffolgenden Tanzverbot verließ er den Iran, emigrierte zunächst nach Großbritannien und anschließend in die USA. In Los Angeles, der größten Diaspora von Iraner*innen, gelang es ihm, durch die Verflechtung verschiedener Tanzformen, wie Folklore, dem traditionellem iranischen Tanz „Baba Karam“, Kabarett-Tanz, Bauchtanz und Aerobic seinen individuellen Stil zu verankern, der oft als „iranischer“ Standard-Tanz wahrgenommen wird.
In einer Videoarbeit, die sie für die aktuelle Ausstellung in der Schirn konzipiert haben, haben Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh und Hesam Rahmanian Khordadians Tanz thematisiert: „Dance after the revolution, from Tehran to L. A., and back“ ist eine Zusammensetzung von Videoaufnahmen und Found-Footage, die das Künstlertrio seit 2013 archiviert hat. In ihrer Arbeit dokumentieren die Künstler die Trainingsmethode Khordadians, der durch direkte Ansprache den Zuschauer*innen seinen individuellen Stil zu vermitteln sucht.
Dafür erfindet er Geschichten, um die Bewegungen besser erinnern und nachvollziehen zu können, und fügt diesen einen Hauch von Humor und Übertreibung hinzu. Die Koketterie und Bewegungen des klassischer Weise von Frauen ausgeführten Tanzes lässt er in die Tänze von Männern einfließen, wie das Spielen mit den Haaren, sanfte und fließende Bewegungen der Hände, der Arme und des Kopfs, sowie kreisförmige Bewegungen von Hüfte und Taille. Ursprünglich waren diese Bewegungsformen für Männer nicht als Tanz, sondern als eine Art humoristische Unterhaltung vorgesehen. Im Laufe der Zeit wurden so, dank Khordadians Videos, auch Flirts und weibliche Bewegungen im „Männertanz“ üblich und gesellschaftlich akzeptiert.
Die Bewegungsfreiheit und gleichzeitige Abwesenheit einer institutionellen Struktur in Khordadians Tanzkompositionen ließ die Geschlechterrollen verschwimmen. Queere Männer können nun im Iran wie Frauen tanzen, ohne gesellschaftlich verspottet zu werden – und ohne ihren Tanz lediglich als humorvoll abzutun.
Er bewegte die queere iranische Kultur
In ihrer Videoarbeit betonen Haerizadeh, Haerizadeh und Rahmanian insbesondere den Einfluss von Khordadians Tanz auf queere iranische Kultur sowie die Freude, die er durch seinen Tanz vermittelt. Im Mittelpunkt steht die Körperlichkeit eines zeitgenössischen Tänzers aus dem Nahen Osten. Es ist ein Körper, der als „fremd“ betrachtet wird, der zwischen männlich und weiblich oszilliert. Höhepunkte der Arbeit bilden Found Footage-Ausschnitte aus dem Netz, in denen Personen solo, im Duett oder in der Gruppe nach Khordadians Anleitung tanzen, und sich so gegen die politische Zensur des Tanzes und seine geschlechtliche Konnotation stemmen.
Tanz ist ein elementarer Bestandteil der kulturellen Identität von Iraner*innen, dessen Restriktion, wie so häufig bei Verboten, den umgekehrten Effekt erzielt: Sie macht ihn beliebter. Auch die heutige jüngere Generation weist einen persönlichen Bezug zu Khordadians Tanz auf und praktiziert ihn selbst an Orten, wo sie besonders gefährdet sind: Videos von Schüler*innen, die heimlich in der Schulklasse tanzen, von Soldatengruppen während ihres Diensts oder sogar Pflegekräften und Ärzten in voller Schutzmontur in iranischen Krankenhäusern, die ihre Tänze zu Anfang der Covid-19-Pandemie zu einer besseren Stimmung und Stressabbau aufführten, verbreiteten sich besonders in diesem Jahr über die Sozialen Medien.
2006 offenbarte Khordadian seine Homosexualität in einer Fernsehshow und hat es so binnen weniger Jahre geschafft, eine Vorreiterrolle in der iranischen, homophoben Gesellschaft anzunehmen und Menschen aus allen Generationen und sozialen Gruppen für sich zu gewinnen: Männer, Frauen, queere Personen, Religiöse und nicht Religiöse, und in der Diaspora lebende Iraner*innen. Mit seinem humorvollen, individuellen Fusion-Tanz förderte Khordadian die körperliche Emanzipation der Iraner*innen. Frei von Disziplin und strikten Regeln können sie sich nun in seinem Tanz bewegen und die Freude daran ihren Mittänzer*innen und Zuschauer*innen über die Sozialen Medien vermitteln. Eine Freude, die vielen im Iran in einer perspektivlosen Lebenssituation neue Hoffnung gibt.
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