Wie die Surrealistinnen das Geschlecht (de)konstruierten und der Fetischisierung weiblicher Schönheit trotzten.
„Neuter ist das einzige Geschlecht, das mir immer entspricht“, schrieb Claude Cahun 1930 in ihrer autobiografischen Erzählung „Aveux non avenus“ („Nichtige Geständnisse“). Damit setzte sie sich von der großen Mehrheit der surrealistischen Künstler*innen und Schriftsteller*innen ab – nicht nur der Männer, die die französische literarische Bewegung anführten, sondern auch der zahlreichen Frauen aus Europa, Nordamerika, Mexiko und darüber hinaus, die Texte, Filme, Fotografien und Werke der bildenden Kunst beitrugen.
Trotz aller geforderten Überschreitungen von Grenzen vertraten die französischen Surrealist*innen zutiefst konservative Einstellungen gegenüber Geschlecht und Sexualität. Dies wurde etwa deutlich auf den zwölf von ihnen abgehaltenen Kongressen über Sexualität, die von 1928 bis 1932 in Paris stattfanden. Dort waren nur sehr wenige Frauen vertreten und noch weniger homosexuelle oder gendervariante Menschen. 1928 gelangte André Breton in seinem Roman „Nadja“ zu der berühmten Schlussfolgerung: „Die Schönheit wird KONVULSIV sein oder sie wird nicht sein.“ Cahun und weitere Künstler*innen aber bevorzugten es, ihre eigenen Vorstellungen von Geschlecht zu konstruieren, als sich der Fetischisierung von Wahnsinn durch die männlichen Surrealisten zu unterwerfen.
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Transsexualität setzte gerade erst ein
So war Cahun die einzige Künstler*in im surrealistischen Umfeld, die ihr nicht-binäres Geschlecht auch öffentlich auslebte – zu einer Zeit, in der die wissenschaftliche Beschäftigung mit Transsexualität gerade erst einsetzte. Diese entging auch nicht der Aufmerksamkeit der Surrealist*innen: In dem Roman „Êtes-vous fous?“ (1929, dt. „Seid ihr verrückt?“) des bisexuellen französischen Autors René Crevel findet etwa das von Magnus Hirschfeld in Berlin gegründete Institut für Sexualwissenschaft Erwähnung, das an den ersten chirurgischen Geschlechtsanpassungen arbeitete.
Allerdings setzte sich der Gedanke, die Kategorien des Männlichen und des Weiblichen hinter sich zu lassen, nie ganz durch in der surrealistischen Bewegung – trotz ihrer augenscheinlichen Konterkarierung gesellschaftlicher Normen in der Zwischenkriegszeit. (Marcel Duchamps weibliches Alter Ego „Rrose Sélavy“, fotografiert von Man Ray, ging nie über den Rahmen des Scherzhaften hinaus). Um nachzuvollziehen, wie Cahun und ihre Zeitgenossinnen über die Auseinandersetzung mit dem „Androgynen“ zu neuen Bildern von Weiblichkeit fanden, müssen wir ihre Werke betrachten.
Die von Cahun bedienten Stereotypen waren nicht besonders maskulin
Cahuns Selbstporträts entstanden meist in Zusammenarbeit mit Lebensgefährtin und Stiefschwester Marcel Moore (der ebenso wie Cahun bei der Geburt weiblich zugewiesen wurde, später aber einen männlichen Namen für sich wählte) und verwischten oftmals die Grenzen zwischen Genderidentitäten. Dabei waren die von Cahun bedienten männlichen Stereotypen nicht besonders maskulin: Sie spielten vielmehr mit dandyhaften, homosexuellen Attributen des späten 19. Jahrhunderts. Etwa in Cahuns berühmtem Selbstbildnis, eine Hantel haltend, das Haar à la Oscar Wilde gescheitelt und quer über der Brust die Aufschrift „I am in training, don’t kiss me“. Oder in ihrem 1929 entstandenen Selbstporträt als Teufel in dem Theaterstück „The Mystery of Adam“, angetan mit Perlen und einem Seidentrikot, geschminkten Augen und Lippen.
Sie inszenieren eine effeminierte Variante von Männlichkeit, die Europäer*innen zur damaligen Zeit in den arabischen Ländern wahrnahmen – ein kultureller Topos, den Edward Said 1978 in seinem Band „Orientalismus“ schonungslos sezierte. Cahun und Moore benutzten in ihren für „Aveux non avenus“ angefertigten Fotocollagen immer wieder einzelne Bilder von Cahuns Kopf, losgelöst vom Körper, und vermittelten so den Eindruck einer Figur, die ihr Geschlecht nach Belieben zu wechseln vermag.
Die Frau rückte in den Bereich des (Alb)Traumes
Die Schweizer Surrealistin Meret Oppenheim beschwor die „Androgynität des Geistes“ und sagte: „Aus einem großen Werk […] spricht immer der ganze Mensch. Und dieser ist sowohl männlich als weiblich.“ So wie Cahun posierte auch sie gelegentlich für Selbstporträts in männlicher Kleidung, etwa auf der im Juni 1936 entstandenen Fotografie von Ed Schmid. Anders als Cahun malte Oppenheim: In „Daphne und Apoll“ (1943) fügte sie einem weiblichen Torso unten Wurzelfüße und oben Baumgeäst hinzu, übersteigerte so die Assoziierung der Frau – oder des Weiblichen – mit dem Natürlichen ins Absurde und rückte sie in den Bereich des Traumes und Albtraumes.
Ihre argentinisch-italienische Freundin Leonor Fini malte vollständig bekleidete Frauen, die gegenüber männlichen, nur knapp von einem Tuch verhüllten Akten dominierten. „Erdgottheit, die den Schlaf eines Jünglings bewacht“ (1946) stellt in einem Rückgriff auf die griechische Mythologie eine schwarze, an eine Sphinx erinnernde Göttin dar, die über einen unbekleideten, verletzlichen Mann wacht. Darin liegt eine Fürsorglichkeit, die ebenfalls in Werken wie „Stryges Amaouri“ (1947) zum Ausdruck kommt.
Lateinamerikanische Künstler*innen entwickelten diese Vorstellungen weiter, verbanden die Körper von Frauen mit denen von Tieren, um zu einer emotionalen Aussage zu gelangen. So zeigte Remedios Varo in ihrem 1957 gemalten fantastischen Bild „Erschaffung der Vögel“ eine Künstlerin in Eulengestalt, von deren Zeichentisch Vögel auffliegen. Und Frida Kahlo setzte in ihrem Selbstporträt „Der kleine Hirsch“ (1946) den eigenen Kopf auf einen von zahlreichen Pfeilen durchbohrten Tierkörper – ein Verweis darauf, dass die von den männlichen Surrealisten so geschätzte „konvulsive“ Natur in Wirklichkeit das Ergebnis unterschiedlichster Angriffe war, denen Frauen in einer misogynen Gesellschaft ausgesetzt waren. Und letztlich darauf, dass die Umgestaltung der sozialen Lebensbedingungen von Frauen nicht allein ein künstlerisches Anliegen, sondern politische Notwendigkeit war.