Das sind die Pionierinnen, Newcomerinnen und Superstars der Musikszene: Von Rapperin Haiyti, über Fatima Al Qadiri bis hin zu Madonna - unsere Lieblingshits zum Internationalen Frauentag!
Rund 100 Jahre nach den Anfängen der surrealistischen Bewegung verändern zahlreiche Musikerinnen die zeitgenössische Popszene, transzendieren traditionelle und erschaffen neue, eigene Stile und Genres – Tendenz steigend. Ein Blick in die Best of-Listen des letzten Jahres allein zeigt mit Acts wie Lizzo, Matana Roberts, Kelsey Lu, Caterina Barbieri, Hüma Utku, Jaimie Branch, Georgia Anne Muldrow, Jamila Woods, Weyes Blood oder Angel Olsen ein beeindruckendes Portfolio an erfolgreichen, experimentellen, exzentrischen wie einflussreichen Solomusikerinnen.
Wie die Surrealistinnen vor ihnen erweitern sie mit vielseitigen Strategien maßgeblich die künstlerische Formensprache und lassen in ihrer radikalen Individualität und im audio-visuellen Spiel mit Identitäten, Perspektiven und Emotionen ihre männlichen Kollegen blass aussehen. Neben der 18-jährigen Billie Eilish, die jüngst als erste Musikerin alle vier Hauptpreise in der Geschichte der Grammys gewann, gehört die 32-jährige Britin Tahliah Debrett Barnett zu den faszinierendsten PopStars unserer Zeit: Unter dem Pseudonym FKA twigs setzt sich die Musikerin und Tänzerin in zahllosen Metamorphosen selbst in Szene.
Das Spiel mit Identität ist eine gängige Disziplin der postmodernen Kulturindustrie
Die oftmals verstörende Selbstinszenierung jenseits aller gesellschaftlichen Normen und Schönheitsideale ist eines der zentralen Sujets vieler Musikerinnen, wie auch der Kanadierin Grimes oder der kuwaitischen Produzentin Fatima Al Qadiri, die beide im Spannungsfeld zwischen elektronischer Musik und Popsong agieren. Verwandlungen und das Spiel mit unterschiedlichen Identitäten ist eine der gängigsten Disziplinen der postmodernen Kulturindustrie zur Erschließung neuer Zielgruppen.
Am konsequentesten hat dies in den letzten 40 Jahren Madonna durchdekliniert, die sich zu jedem neuen Album auch einen neuen Sound und ein neues Image zulegt. Derzeit reüssiert sie als geheimnisvolle Madame X, die auf ihren Social-Media-Kanälen regelmäßig Frida Kahlo als großes Vorbild ehrt. Äußerst eigen und divers setzt sich auch die Isländerin Björk seit rund 30 Jahren in Szene und ist derzeit verstärkt als artifiziell-biologisches, männlich-weibliches Mischwesen in Virtual-Reality-Welten unterwegs. Die einzige Zusammenarbeit der beiden markiert der 1994er-Song „Bedtime Story“, für den sich Madonna reichlich am Themeninventar des Surrealismus bediente.
Die feministische Riot Grrrl-Bewegung, die Anfang der 90er Jahre von der Alternative- und Punkszene der USA aus gegen Sexismus, Chauvinismus und Diskriminierung vorging, hat die Musikwelt bis heute nachhaltig geprägt. Neben der Aktivistin Kathleen Hanna, die in Bands wie Bikini Kill, Le Tigre und aktuell The Julie Ruin spielt, gilt auch Kim Gordon als emanzipatorische Pionierin. Die ehemalige Bassistin der legendären New Yorker Noise-Rock-Band Sonic Youth hat 2019 mit „No Home Record“ ihr erstes Soloalbum veröffentlicht, das stark von Hip Hop-Künstlerinnen wie Cardi B inspiriert ist.
Die gegenseitige Bezugnahme und Unterstützung über Generationen und Genregrenzen hinweg ist ein Alleinstellungsmerkmal des weit verzweigten Musikerinnen-Netzwerkes. Ohne die Basisarbeit der Riot Grrrls wären so selbstverständlich selbstbestimmt agierende Acts wie Missy Elliott, die Hamburger Rapperin Haiyti, aber auch M.I.A. oder Peaches nicht möglich.
Peaches ließ sich bei ihrem Künstlernamen von Nina Simone inspirieren
Die aus Kanada stammende, ehemalige Erzieherin Merrill Beth Nisker hat sich von Nina Simones Antidiskriminierungs-Song „Four Women“ zu ihrem Künstlernamen Peaches inspirieren lassen. Von Berlin aus startete sie im Jahr 2000 im Alleingang eine Revolution, die die Durchbrechung der traditionellen Rollenbilder in Musik und Gesellschaft zum Ziel hat. Ihr humorvoller Kampf gegen Homophobie und Transphobie wurde bald von der Britin Jam (ehemals Janine) Rostron alias Planningtorock und der Schwedin Karin Elisabeth Dreijer aufgegriffen, die bei The Knife und solo als Fever Ray aktiv ist. Alle drei eint die Überhöhung weiblicher wie männlicher Stereotype ins Irrwitzige und Monströse, bis Gendergrenzen im ironischen Spiel der Over-the-Top-Kostümierung obsolet werden.
Nicht erst seitdem Björk 2015 im Museum of Modern Art und Peaches jüngst im Hamburger Kunstverein mit Einzelausstellungen gewürdigt wurden, ist offensichtlich, dass die Übergänge von der Musik zur bildenden Kunst fließend sind. Gerade Performance- und Konzeptkünstlerinnen arbeiten dabei gerne gattungsübergreifend: Yoko Ono – hier mit einem wunderbaren Peaches-Remix von „Kiss Kiss Kiss“ vertreten – hat bereits zu ihren Anfängen im New Yorker Avantgarde-Musik-Umfeld der frühen 1960er-Jahre Kunst und Musik verbunden und nimmt bis heute wegweisende Alben auf.
Anderson experimentierte mit Gesang und elektronischer Verfremdung
Zehn Jahre später gehörte Laurie Anderson zu den Protagonistinnen der New Yorker Performance-Szene, experimentierte mit Gesang, präparierten Instrumenten und elektronischen Verfremdungsmitteln, bevor sie 1981 mit „O Superman“ überraschend einen Nummer 2-Hit in England landete. Musik ist auch zentraler Bestandteil der Performances der in Frankfurt lebenden Künstlerin Anne Imhof. Der Soundtrack ihrer 2017 mit dem Goldenen Löwen der Venedig Biennale ausgezeichneten Performance „Faust“ ist kürzlich auf Schallplatte erschienen.
Die Freiheit, mit der Musikerinnen heute agieren können, war nicht immer gegeben. Viele Vorreiterinnen haben in den letzten 60 Jahren viele, teils bittere Kämpfe austragen müssen, um ihre künstlerische Vision in den eingefahrenen Genre- und Geschlechterpfaden ihrer Zeit zu behaupten. Die deutsche Sängerin Hildegard Knef brach mit zwei psychedelischen, textlich existenziellen Alben Anfang der 1970er-Jahre aus der schönen, heilen Schlagerwelt aus.
Die US-Pianistin und -Sängerin Nina Simone litt zeitlebens unter rassistischer Diskriminierung, engagierte sich in der Bürgerrechtsbewegung und fusionierte gleich mehrere Stile von Klassik, über Jazz, Blues, Folk, R&B, bis hin zu Gospel und Pop. Ihre Interpretation von Leonard Cohens „Suzanne“ ist ein Klassiker der emphatischen Song-Aneignung. Die Kölnerin Christa Päffgen alias Nico wurde in den Wirtschaftswunderjahren als Model in die Rollenklischees gepresst und später von Andy Warhol als „Superstar“ in die Band The Velvet Underground gecastet, bevor sie von den 1970ern bis zu ihrem viel zu frühen Tod 1988 als Harmonium-spielende Nachtmahr zur dunklen Königin der Gothic-, Wave- und Postpunk-Szene avancierte.
Ich habe ein einfaches Rezept, um fit zu bleiben: Ich laufe jeden Tag Amok.
Neben den extrovertierten Superstars und Paradiesvögeln sind es vor allem die Sängerinnen und Songschreiberinnen, die mit einfachen Mitteln den größtmöglichen Effekt erzielen. Der US-Amerikanerin Lana Del Rey gelingt ohne große Image-Anstrengungen allein mit ihrer Intonation ein verwunschener Pop-Noir, der explizit und uneindeutig, begehrlich und bedrohlich zugleich ist.
Weitere Meisterinnen dieses minimal-ambivalenten Stils sind die walisische Sängerin Cate Le Bon mit ihren reduzierten Arrangements und herzzerreißenden Gesangsmelodien, die deutsch-polnische Sängerin Balbina mit ihrem strengen Sounddesign und überklaren Zungenschlag oder Stefanie Schrank, Bassistin der Kölner Band Locas in Love, die auf ihrem wundervollen 2019er-Solodebüt „Unter der Haut eine überhitzte Fabrik“ gekonnt emotionslos über unterkühlt-monotone Electrobeats singt.