Fantastische Aussichten für 2020: Die Schirn präsentiert erstmals in einer großen Ausstellung den weiblichen Beitrag zum Surrealismus.

Zu Beginn des Ausstellungsjahrs 2020 präsentiert die Schirn vom 13. Februar bis zum 24. Mai 2020 das groß angelegte Ausstellungsprojekt „Fantastische Frauen. Surreale Welten von Meret Oppenheim bis Frida Kahlo“, das den Künstlerinnen des Surrealismus gewidmet ist. Göttin, Teufelin, Puppe, Fetisch, Kindfrau oder wunderbares Traumwesen – die Frau war das zentrale Thema surrealistischer Männerfantasien.

Künstlerinnen gelang es zunächst als Partnerin oder Modell in den Kreis um den Gründer der Surrealisten-Gruppe, André Breton einzudringen. Allerdings zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass die Beteiligung von Künstlerinnen an der internationalen Bewegung wesentlich umfassender war als allgemein bekannt und bislang dargestellt. Die Schirn beleuchtet erstmals in einer großen Überblicksausstellung den weiblichen Beitrag zum Surrealismus.

Die Beteiligung von Künstlerinnen war umfassender als allgemein bekannt 

Was die Künstlerinnen von ihren männlichen Kollegen vor allem unterscheidet, ist die Umkehr der Perspektive: Durch Befragung des eigenen Spiegelbilds oder das Einnehmen verschiedener Rollen sind sie auf der Suche nach einem (neuen) weiblichen Identitätsmodell. Auch das politische Zeitgeschehen, die Literatur sowie außereuropäische Mythen und Religionen sind Themen, mit denen sich die Surrealistinnen in ihren Werken auseinandersetzen.

 

Dorothea Tanning, Voltage, 1942 © The Estate of Dorothea Tanning/VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Photo: Jochen Littkemann, Berlin

Die Ausstellung konzentriert sich auf Künstlerinnen, die direkt mit der 1924 in Paris gegründeten surrealistischen Bewegung verbunden waren, wenngleich bisweilen nur für kurze Zeit: Sie waren mit André Breton persönlich bekannt, stellten mit der Gruppe aus oder setzten sich mit den surrealistischen Ideen theoretisch auseinander.

Mit 34 Künstlerinnen aus 11 Ländern wird ein vielfältiges Spektrum abgebildet

Mit rund 260 beeindruckenden Gemälden, Papierarbeiten, Skulpturen, Fotografien und Filmen von 34 Künstlerinnen aus 11 Ländern bildet die Schau ein vielfältiges stilistisches und inhaltliches Spektrum ab. Neben bekannten Namen wie Louise Bourgeois, Claude Cahun, Leonora Carrington, Frida Kahlo, Meret Oppenheim oder Dorothea Tanning sind zahlreiche unbekannte, aufregende Persönlichkeiten wie Toyen, Alice Rahon oder Kay Sage aus mehr als drei Jahrzehnten surrealistischer Kunst zu entdecken. Sie werden in der Schirn mit einer repräsentativen Auswahl ihrer Arbeiten vorgestellt. Die Ausstellung spiegelt zudem Netzwerke und Freundschaften zwischen den Künstlerinnen in Europa, den USA und Mexiko. Die große Überblicksausstellung erstreckt sich über die gesamte Länge beider Galerien und stellt die Künstlerinnen des Surrealismus mit einer repräsentativen Auswahl an Werken und auch in topografischen Räumen vor. 

Leonora Carrington, Portrait of the late Mrs. Partridge, 1947 © VG Bild-Kunst, Bonn 2019, Photo: Nathan Keay, © MCA Chicago

Gleich zu Beginn der Ausstellung präsentiert die Schirn Meret Oppenheim, die als eine der ersten surrealistischen Künstlerinnen zu frühem Ruhm gelangte. Sie bewegte sich in jungen Jahren im unmittelbaren Umfeld der Surrealisten in Paris. Bereits 1936 nahm das New Yorker Museum of Modern Art Oppenheims ikonische „Pelztasse“ in seine Sammlung auf – sie gilt bis heute als das surrealistische Objekt schlechthin.

Oppenheims „Pelztasse“ gilt bis heute als das surrealistische Objekt schlechthin

Die offiziellen Mitglieder der surrealistischen Gruppe um André Breton waren zunächst Männer, ab den 1930er-Jahren stießen zahlreiche Künstlerinnen dazu und beteiligten sich an den internationalen Surrealismus-Ausstellungen. Man kann von verschiedenen Generationen des Surrealismus sprechen: Die Künstlerinnen waren meist jünger, viele ihrer Hauptwerke entstanden daher in den 1940er- und 1950er-Jahren. Obwohl bis in die 1960er-Jahre weitere Ausstellungen der Gruppe stattfanden und sie sich erst 1969 auflöste, sahen zahlreiche Chronisten den Surrealismus mit dem Zweiten Weltkrieg als beendet an. Auch aufgrund dieser Erzählweise fanden die Werke der Künstlerinnen bislang zu wenig Berücksichtigung.

Meret Oppenheim, Urzeit-Venus, 1962 (1933) © Kunstmuseum Solothurn / VG Bild-Kunst, Bonn 2020

„Le désir“ (das erotische Begehren) ist ein zentrales Thema des Surrealismus, der Körper der Frau ein wiederkehrendes Motiv in den Werken. In vielerlei Hinsicht lehnte die Bewegung traditionell bürgerliche Vorstellungen von Familie, Sexualmoral und Eheleben ab. In den Werken der Künstler wird die Frau aber oft objektiviert, als passive Kindfrau, Fetisch oder Muse, fragmentiert dargestellt. Davon unterscheidet sich die Perspektive der Künstlerinnen: Zahlreiche Selbstporträts und Darstellungen der Frauen sind geprägt von einem spielerischen, selbstbewussten Umgang mit ihrem Körperbild und der weiblichen Sexualität.

Die Künstlerinnen rebellierten gegen geschlechtsspezifisches Rollenverhalten

Die Ausstellung zeigt u. a. ein Selbstportrait von Leonora Carrington, in dem sie sich in der Kleidung eines jungen Mannes aus dem 18. Jahrhundert darstellt, flankiert von ihrem Alter Ego, einem Pferd, und einer Hyäne als Symbol ihres Freiheitsdrangs. Die Künstlerin Claude Cahun schuf bereits in den 1920er-Jahren eine Serie von beeindruckenden und äußerst aktuellen fotografischen Selbstporträts und Fotomontagen, in der sie Androgynität und das Spiel mit Geschlechterrollen thematisierte. Das Werk von Leonor Fini enthält überproportional viele Männerakte, denen starke Frauenfiguren den Weg weisen oder Schutz gewähren. Die Künstlerinnen rebellierten gegen geschlechtsspezifisches Rollenverhalten und präsentierten sich auch selbst mit einem betont androgynen Aussehen oder in unterschiedlichen Rollen und Maskeraden.

Leonora Carrington, Selbstbildnis in der Auberge du Cheval d'Aube, 1937/38 © VG Bild-Kunst, Bonn 2020
Leonor Fini, Erdgottheit, die den Schlaf eines Jünglings bewacht, 1946 © Weinstein Gallery, San Francisco and Francis Naumann Gallery, New York / VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Die Surrealisten nutzten Spiele und Techniken wie die „écriture automatique“ (automatisches Schreiben), Traumprotokolle oder Collagen, um Zugang zum Unbewussten zu eröffnen und dem Zufall Raum zu geben. Eine eigene Sektion der Ausstellung ist den „cadavres exquis“ gewidmet. Diese Zeichnungen oder Collagen entstanden als Gruppenspiel: Auf einem gefalteten Papier führten die Teilnehmer nacheinander die Darstellung des Vorgängers fort, ohne zu sehen, was jener kreiert hatte. Solche kollektiven Kunstwerke sollten auch den Zusammenhalt der Gruppe stärken. Im Kreis der Surrealisten spielte außerdem die Auseinandersetzung mit Mythen und Sagen eine wichtige Rolle. Auf der Suche nach Vorbildern für ein weibliches Identitätsmodell griffen die Künstlerinnen das Motiv des Mischwesens besonders häufig auf. 

In Mexiko entwickelte sich um Frida Kahlo eine leben­dige surrea­lis­ti­sche Szene

Während des Zweiten Weltkriegs emigrierten viele der Surrealisten. Eine lebendige surrealistische Szene entwickelte sich in Mexiko um Frida Kahlo. Die Malerin kombinierte in ihrer individuellen Ikonografie Motive der präkolonialen Kultur Mexikos mit christlichen Symbolen sowie ihrer persönlichen Biografie. Zu einer zentralen Persönlichkeit in Mexiko-Stadt wurde auch die Dichterin und Malerin Alice Rahon. Unter den weiteren surrealistischen Künstlerinnen, die sich in Mexiko niederließen und sich intensiv mit der präkolumbianischen Vergangenheit, der überbordenden Natur und den mexikanischen Mythen auseinandersetzten, waren die Malerin und Schriftstellerin Leonora Carrington, die Malerin Bridget Tichenor sowie Remedios Varo. 

Jacqueline Lamba, André Breton, Yves Tanguy, Cadavre exquis, 1938, Courtesy of the Mayor Gallery, © VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Die Fotografie bot zahlreiche Möglichkeiten, die Abbildung der Realität durch Retuschen, Montagen und Belichtungen zu verfremden. Gerade unter den Fotografinnen positionierten sich einige Künstlerinnen politisch. Das Werk von Dora Maar weist neben surrealistischen Themen ein tiefgreifendes Interesse am Zeitgeschehen auf. Neben Breton unterzeichnete sie 1934 das antifaschistische Manifest „Appel à la lutte“ (Aufruf zum Kampf). Claude Cahun war in den Jahren um 1940 aktiv im Widerstand tätig und verstarb letztlich an den Folgen einer Inhaftierung. Eine besondere Rolle nimmt Lee Miller ein, die ab 1944 als Kriegsfotografin tätig war. Auch zum surrealistischen Film leisteten Künstlerinnen wesentliche Beiträge: Germaine Dulacs „La Coquille et le clergyman“ (1927) gilt heute als erstes surrealistisches Werk der Filmgeschichte. Maya Deren war eine Hauptakteurin filmischen Avantgarde der Nachkriegszeit. 

Sie wollten unabhängig von Geschlecht oder Stil wahrgenommen werden

Einige der vorgestellten Künstlerinnen waren nur kurzzeitig mit dem Surrealismus verbunden. Dorothea Tanning wandte sich in der Zwischenkriegszeit dem Surrealismus zu, um eine alternative Erzählung für die Kunst, die Gesellschaft und sich selbst zu finden. Die Künstlerinnen des Surrealismus betrachteten sich als Individuen, die unabhängig von ihrem Geschlecht und einer stilistischen Festlegung wahrgenommen werden wollten. Den Schlusspunkt und gleichzeitig Ausblick der Ausstellung bildet das Werk von Louise Bourgeois, die sich in ihren Gemälden und ihrer skulpturalen Objektkunst intensiv mit Sexualität und weiblicher Identität auseinandersetzte. Sie gehörte derselben Generation von Künstlerinnen an wie Meret Oppenheim; die Rezeption ihres Werkes begann aber erst viel später. Es wird heute eher der Gegenwartskunst zugeordnet.

Dora Maar, 29 Rue d'Astorg, 1936 © bpk / RMN - Grand Palais / Dora Maar / VG Bild-Kunst, Bonn 2020
Louise Bourgeois, Torso, Selbstbildnis, 1963-64 © The Easton Foundation, VG Bild-Kunst, Bonn 2020, Foto: Christopher Burke

FANTASTISCHE FRAUEN

SURREALE WELTEN VON MERET OPPENHEIM BIS FRIDA KAHLO

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