Die Surrealistinnen definierten mit ihren Werken neue weibliche Rollen – und widersetzten sich damit aktiv dem Bild der Frau als Muse, Traumwesen und passives Objekt.
All die unterschiedlichen lokalen Ausführungen des Surrealismus einte eins: die Denk- und Kunstströmung sollte als Werkzeug dienen, um alternative Welten zu imaginieren. Während auf diese Weise viele tradierte Strukturen in den Schriften und Werken der bildenden Kunst des Surrealismus kritisch hinterfragt wurden, wie zum Beispiel das patriarchale, imperialistische Gesellschaftsmodell, war die Darstellung der Frau zunächst wenig progressiv.
Vielmehr schwankten die Werke der männlichen Surrealisten in jahrhundertelanger Tradition zwischen Idealisierung und Herabsetzung der Frauen. Und obwohl – oder womöglich gerade weil – das Faszinosum Frau bei den Surrealisten eine große Rolle spielte, blieben ihre Kreise männlich dominiert. Kein Wunder also, dass sich zunächst wenige Künstlerinnen mit der Bewegung identifizierten. Und dennoch: das imaginative und politische Potenzial des Surrealismus barg für sie auch eine emanzipatorische Dimension. Künstlerinnen wie Rachel Baes, Jane Graverol, Dorothea Tanning und Leonor Fini prangerten die Fremdbestimmung der Frau an und zelebrierten sie stattdessen als eigensinniges, kraftvolles Wesen. Ihre Bilder deuten gesellschaftlich und kunsthistorisch zugetragene Rollen um.
Die Künstlerinnen prangerten die Fremdbestimmung an
Der Körper, als Maschine, als Fragment, als Puppe, war ein zentrales Motiv des Surrealismus. Die wohl bekannteste – und obsessivste – Auseinandersetzung mit der Puppe findet sich in Hans Bellmers Fotoserien, die er in den 1930er und 40er Jahren unter verschiedenen Titeln veröffentlichte. Aus einem beinahe lebensgroßen Puppenkörper stellte Bellmer immer neue unheimliche und vor allem kindlich-erotische Körper-Konstruktionen zusammen. Sein Experimentierobjekt bezeichnete der in Polen geborene Künstler als „ein künstliches Mädchen mit mehreren anatomischen Möglichkeiten.“
Mal stecken vier porzellanweiße Beine in weißen Söckchen und schwarzen Lackschuhen, mal hat ein Torso fünf runde Brüste, oft liegt die Puppe in all ihren Elementen da, als trauriger Haufen aus Armen, Beinen, Kniegelenken. Meist begegnen wir ihr in der Sphäre des Häuslichen: Die Puppe fällt Treppen hinunter, steht verloren in der Küche oder liegt sorgsam arrangiert auf weißen Bettlaken. Bellmers Fotografien zeigen den weiblichen Körper, der hier sowohl mädchenhafte Unschuld als auch eine frauliche, fast bedrohliche Erotik ausstrahlt, als bedingungslos verfügbar, gar formbar, für den männlichen Blick und Zugriff.
Bellmers Fotografien zeigen den weiblichen Körper als bedingungslos verfügbar
Weder erotisch noch kindlich ist Rachael Baes’ Puppenfigur in „La Polka“ (1946). Als eine aus Holz gefertigte Schneiderpuppe macht diese, mit damenhaftem Hut und Stiefeln versehen, einen Schritt nach vorn. Doch weder Fenster noch Türen lassen sich in dem kargen Raum ausmachen, stattdessen wird das Zimmer von Schnüren durchzogen, die schlaff zwischen in die Wand geschlagenen Haken hängen. Schnüre, die fesseln können, ein Raum ohne Ein- oder Ausgang, ein Körper, der selbst wie ein Käfig aussieht – die Puppe wird hier in einem Zustand des momentanen oder sogar permanenten Eingesperrtseins gezeigt.
In vielen von Baes’ Malereien begegnen wir Frauenfiguren in dunklen, verlassenen Fluren oder Zimmern. Falls diese Fenster haben, ist durch sie nur der dunkle Nachthimmel zu sehen. Innenräume, die weder Schutz noch Geborgenheit ausstrahlen, finden wir auch in den Arbeiten von Dorothea Tanning. Ihre Figuren, auch hier sind es meistens Kinder und Frauen, bewegen sich durch scheinbar endlose Labyrinthe aus Türen und Fluren, begegnen Fabelwesen oder überdimensionalen Sonnenblumen. Und spätestens wenn es von der Decke tropft, im Flur ein Wind weht, im Schlafzimmer ein Baum wächst und im Kamin ein Fleckchen blauer Himmel zu sehen ist, kehrt das Fantastische ins Häusliche ein.
Neben der Puppe wurde auch der weibliche Akt, die Frau als Muse, im Surrealismus aufgegriffen und neu interpretiert. René Magritte malte seine Frauen meist als klassische Schönheiten; statuenhaft und nackt, mysteriös und stumm. „La Magie Noire“ (1945) zeigt eins von Magrittes liebsten Motiven der 1940er Jahre: die nackte Frau in einer unbestimmten Landschaft. In diesem Fall steht eine Art Venus des 20. Jahrhunderts vor einem Meer, in dessen Blau sich die Wolken des Abendhimmels spiegeln. Sie lehnt an einem Stein, auf ihrer Schulter eine weiße Taube, ihr ganzer Körper und sogar ihre Augen scheinen wie angemalt, ein sanftes Blau geht am Bauchnabel über in ein warmes Rot-Orange, genau dort, wo das Meer auf den Abendhimmel trifft.
Zwei Jahrzehnte später malt Jane Graverol „L’Esprit saint“ (1965). Und auch hier sehen wir: Abendhimmel, Stein, Vogel, die Silhouette eines weiblichen Körpers. Oder, so scheint uns Graverol zu suggerieren, dies ist, was wir sehen wollen. Denn anders als bei Magritte wird die Frau hier nur implizit ins Bild gesetzt. In der Lücke zwischen zwei Felsen erahnen wir die Form von Brust, Taille, und Hüfte, eine Schwalbe im Sturzflug wird zur weiblichen Scham.
Während Magritte Weiblichkeit, klassische Schönheitsideale und Naturverbundenheit zusammenbringt, kann Graverols Werk als ironischer Kommentar auf ebensolche Darstellungen gelesen werden. Magrittes passive Frau kann den begehrenden Blick, dem ihr Körper preisgegeben wird, nicht zurückwerfen. Graverol wiederum wirft die Betrachter auf ihre eigenen Sehgewohnheiten zurück. Leonor Fini stellt die Geschlechterrollen vollends auf den Kopf. Die Künstlerin malte traumähnliche erotische Szenarien mit männlichen Akten. Fini zeigt diese in anmutigen, aber auch verletzlichen Posen, in denen wir sonst vor allem Frau sehen: schlafend, auf dem Rücken liegend, die Beine angewinkelt, so dass der Schritt entblößt, oder gerade eben bedeckt wird von weichen, Falten schlagenden Stoffen. Über die jungen, androgynen Körper wacht oft eine Frau.
Leonor Fini stellt die Geschlechterrollen vollends auf den Kopf
Mal ist es die Künstlerin selbst, mal ist es ein Mischwesen, halb Frau, halb Fabelwesen, wie in „Divinité Chtonienne guettant le sommeil d’un jeune homme“ (1946). In „Dans la tour“ (1952) weist eine der Künstlerin ähnelnde Frau einem jungen Mann den Weg. Während sie in ein schwarzes Kleid gehüllt ist, wird der Körper des Mannes nur teilweise von dem roten Stoff bedeckt, der ihm über die Schultern hängt. Durch eine Öffnung in der Wand fällt helles Licht, „Da entlang“, sagt der zeigende Finger und der entschlossene Blick der Frau. Ein symbolträchtiges Bild für Fini und ihre fantastischen Zeitgenossinnen.