Die Surrealistinnen wollten die Gesellschaft verändern, bürgerlichen Grenzen und klassischen Rollenzuschreibungen entfliehen: Kuratorin Ingrid Pfeiffer gibt exklusive Einblicke in die Ausstellung Fantastische Frauen.
In keiner anderen Bewegung der Moderne haben Künstlerinnen eine so bedeutende Rolle gespielt wie im Surrealismus. Anfang der 1930er-Jahre kamen viele von ihnen nach Paris und schlossen sich der Gruppe um ihren Gründer André Breton an. Sie wollten die Gesellschaft verändern, bürgerlichen Grenzen und klassischen Rollenzuschreibungen entfliehen. Traum, Metamorphose, das Unbewusste und der weibliche Körper sind häufige Motive der Surrealist*innen. Die Werke der Künstlerinnen kennzeichnet dabei oft ein spielerischer, selbstbewusster Umgang mit diesen Themen.
Umkehr der Perspektive
Marie Čermínová gab sich später den Künstlernamen Toyen, identifizierte sich bis an das Lebensende mit dem Surrealismus und gründete die Prager Gruppe der Bewegung. Das bewusst gewählte, geschlechtsneutrale Pseudonym ist eine Abkürzung von „Citoyen“ (zu deutsch „Bürger“) und zeugt von der Suche nach einem (neuen) künstlerischen Identitätsmodell, die sich auch in ihrem Werk spiegelt.
Andere Künstlerinnen, die der Surrealisten-Gruppe nahestanden, wahrten eine größere Distanz zur Bewegung, wie etwa die freiheitsliebende Leonor Fini. In ihren Werken orientierte sie sich an den alten Meistern und drehte etwa die klassische Darstellung der schlafenden Venus einfach um: sie malte nackte männliche Akte, bewacht oder geführt von starken Frauenfiguren. Neue Perspektiven eröffneten den Surrealist*innen auch kollektive Spiele, bei denen der Zufall und die Überraschung im Vordergrund standen. Bei den sogenannten „Cadavre Exquis“ führen die Teilnehmer*innen jeweils eine Zeichnung ihrer Vorgänger*in fort, welche durch das zuvor gefaltete Papier verdeckt ist. Auch Autodidakt*innen nahmen an diesen Spielen teil, die die Offenheit und Gemeinschaft der Gruppe gleichermaßen stärkten.
Eine Geisteshaltung
Neben Gemälden, Papierarbeiten und Skulpturen, schufen die Surrealistinnen auch Fotografien und Filme. Das vielfältige Spektrum der Werke verdeutlicht: Der Surrealismus ist kein Stil. Vielmehr ist er eine Geisteshaltung. Für die Künstlerinnen des Surrealismus waren gerade die neuen Medien eine Möglichkeit, sich in der männerdominierten Kunstwelt zu behaupten. So beispielsweise die US-amerikanische Fotografin Lee Miller, die 1929 nach Paris kam. Als Man Rays Assistentin stand sie anfangs auch Modell für seine Fotografien und wurde zunächst auf diesem Weg bekannt, bevor sie sich erfolgreich als unabhängige Fotografin etablierte.
Wenig bekannt ist, dass auch der erste surrealistische Film von einer Künstlerin stammt: Germaine Dulac schuf mit „La coquille et le clergyman“ (Die Muschel und der Kleriker) ein wegweisendes Werk. Und das Jahre vor den heute bekanntesten surrealistischen Filmen „L’Age d’Or“ (Das goldene Zeitalter) und „Un chien andalou“ (Ein andalusischer Hund) von Luis Buñuel. Dulac wurde, wie die meisten Künstlerinnen des Surrealismus, erst spät wiederentdeckt. Bis heute fehlen sie in Handbüchern und Überblicksausstellungen zum Surrealismus, dabei waren sie zu Lebzeiten in den großen, internationalen Surrealismus Ausstellungen vertreten, mit denen sich die Bewegung ab den 1930er-Jahren internationalisierte.
Mexiko
Ein Zentrum der surrealistischen Szene entwickelte sich in Mexiko rund um die Malerin Frida Kahlo. Auch wenn sie sich selbst nicht als Surrealistin verstand, folgte Kahlo der Einladung André Bretons und stellte 1939 in Paris aus. Dort knüpfte sie zahlreiche Freundschaften mit Künstlerinnen der Gruppe. Nicht nur Kahlos Kunst sondern auch die Kultur ihres Heimatlandes faszinierten die Surrealist*innen auf mehreren Ebenen: die überbordende Natur, die reiche präkolumbianische Vergangenheit sowie die traditionellen mexikanischen Feste und Volkskunst. Während des zweiten Weltkriegs gingen einige Surrealistinnen, wie die spanische Künstlerin Remedios Varo oder die englische Künstlerin Leonora Carrington ins mexikanische Exil, letztere verbrachte dort die meiste Zeit ihres Lebens.
Bis in die Gegenwart
Obwohl bis in die 1960er-Jahre Ausstellungen der Surrealisten stattfanden und sich die Gruppe erst 1969 auflöste, sehen viele den Surrealismus mit dem Zweiten Weltkrieg als beendet. Einige Künstlerinnen des Surrealismus wie Jane Graverol schufen bis in die 1960er Jahre hinein weitere Werke. So auch Louise Bourgeois, die zwar nie mit der Gruppe ausstellte, sich jedoch in den 1930er-Jahren in Paris mit dem Surrealismus und seinen Theorien auseinandersetzte. In ihren Werken finden sich surrealistische Ideen und Themen: die Auseinandersetzung mit dem weiblichen Körper, Fragen der Identität und nicht zuletzt traumhafte und abstrahierte Elemente. Auch die Metamorphose spielt in Bourgeois‘ künstlerischem Schaffen eine wichtige Rolle. Ihr Werk, das heute oft zeitgenössisch wahrgenommen wird, gibt einen Ausblick des Surrealismus in die Gegenwart.