Um Geschlechterklischees zu umgehen, gab sich Marie Čermínová den Künstlernamen Toyen – in Anlehnung an das französische Wort „citoyen“.
„Sie verbindet Zartheit mit Exzentrizität, raffinierten Zauber mit bizarrer Phantasie, reine Form mit magischer Improvisation“, schreibt der tschechische Surrealist Vítězslav Nezval 1925 über Marie Čermínová. Zu dem Zeitpunkt hat Toyen, 1902 in Böhmen geboren, bereits das Studium an der Akademie für Kunst, Architektur und Design in Prag abgebrochen, sich von der Familie losgesagt und den geschlechtsneutralen Künstlernamen Toyen, wahrscheinlich in Anlehnung an das französische Wort „citoyen“ für Bürger, angenommen.
Zu sehr fühlt sich Toyen eingeschnürt von dem Korsett aus Erwartungen und Verpflichtungen von Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts – im Tschechischen weist neben dem Vornamen auch noch die Endung des Nachnamens auf das Geschlecht hin – die sich nur schwer umgehen lassen. Toyen selbst spricht von sich stets in der männlichen Person.
1923 wird Toyen Mitglied der links-intellektuellen Künstler*innenvereinigung Devětsil und malt zunächst kubistisch inspirierte Bilder mit geometrischen Formen und gedeckten Farben, bevor sich Toyen primitivistischen Motiven zuwendet: Malereien mit Clowns und Akrobaten, die Kindermalereien ähneln und gleichzeitig erste Anklänge an den erotischen Humor enthalten, für den Toyen in den weiteren Jahrzehnten bekannt wird. Als Toyen 1925 mit dem damaligen Partner, der tschechische surrealistische Künstler und Autor Jindrich Štyrský nach Paris zieht, haben sie bereits gemeinsam einen eigenen Kunststil entwickelt, den sie Artifizialismus nennen.
Ursprünglich wurde dieser Begriff durch den Psychologen Jean Piaget geprägt: Er beschreibt damit die Entwicklungsstufe eines Kindes, in der es Gegenstände, aber auch Elemente wie Erde und Wasser, als von Menschenhand erzeugt betrachtet. Im Artifizialismus von Toyen und Štyrský hingegen steht die Verschmelzung von Poesie und Malerei im Mittelpunkt. Die abstrakten Gemälde – auf die sie teilweise mit Sand gemischter Farbe auftrugen – sollen zunächst Emotionen wecken, ohne dabei auf Gegenständliches zurückgreifen zu müssen. Ende 1925 werden bereits Werke der beiden in der Ausstellung „L’art d’aujourd’hui“ neben Arbeiten von Max Ernst, Paul Klee und Joan Miró gezeigt.
Dem Surrealismus steht Toyen zunächst skeptisch gegenüber
Dem von André Breton ins Leben gerufenen Surrealismus, den er als eine Art „Über-Realismus“ beschrieb, steht Toyen zunächst skeptisch gegenüber. Mit der Einbindung von Bewusstem und Unbewusstem, zum Beispiel Traumelementen, will Breton die Menschheit aus dem verkopften Zustand der Vernunft befreien und eine neue Ebene der Wahrnehmung eröffnen. Die meisten Frauen finden zunächst nur als Muse oder Assistentinnen Einzug in die Pariser Gruppe, erst ab Anfang der 1930er Jahre treten sie mit eigenen künstlerischen Arbeiten in Erscheinung; Toyen wird schnell zu einem geachteten Mitglied der Pariser Surrealisten.
Immer häufiger tauchen in den Gemälden klar umrissene Gegenstände oder Figuren auf, die vor einem abstrakten Hintergrund wie ein Mittler zwischen Realität und Traumwelt wirken oder sich langsam darin auflösen: Zerbrochene Eier und Augäpfel, Muscheln, Steine und Kugeln und immer wieder das Korsett, in das sich Frauen nicht nur im übertragenen Sinne einschnüren lassen. Sie verweisen auf die Beschäftigung mit zentralen Themen des Surrealismus, darunter Gewalt und Tod, Furcht, Begehren, Geschlechteridentitäten und Erotik und letztlich auch mit der Traumdeutung Sigmund Freuds.
Vor allem die subtil wie explizit erotisch konnotierten Zeichnungen und Malereien, mit denen Toyen bereits während des Aufenthalts im für die damalige Zeit sexuell liberalen Paris begonnen hatte, nehmen einen immer größeren Raum ein.
Kurz nach dem Rückzug nach Prag steuert Toyen Illustrationen zu den Ausgaben des gemeinsam mit Štyrský herausgegebenen Magazins „Erotická revue“ bei, ebenso wie erotische Zeichnungen für die Neuauflage von „Heptaméron“, den Erzählungen von Königin Margarete von Navarra aus dem 16. Jahrhundert. Zu den bekanntesten Auftragsarbeiten an der Grenze zwischen ästhetischer Erotik und Pornographie zählen jedoch Toyens Zeichnungen für den von Štyrský ins Tschechische übersetzten Roman Justine von Marquis de Sade.
Das Interesse an Sexualität und Erotik war in surrealistischen Kreisen gestiegen
In den 1920er und -30er Jahren war das Interesse an Sexualität, Erotik und Pornographie in surrealistischen Kreisen gestiegen; man war fasziniert von den Texten Sades, die von Gewalt und ungezügelter Triebbefriedigung handelten. Toyens Illustrationen der Geschichte, die von sexuellem Missbrauch, Gewalt und Mord handelt, zeigen zarte Frauenfiguren, die auf einem Phallus tanzen, entblößte Geschlechtsorgane, blutige Striemen und tränenverschmierte Gesichter. Auch in anderen handkolorierten Zeichnungen von Toyen nimmt der Phallus eine zentrale Rolle ein, mal als machtvolles Instrument der Unterdrückung, gegen das sich die Frauen wehren müssen, mal als Objekt weiblicher Lust und Begierde.
Eine Zeit der höchst freizügigen und gewagten Darstellungen, selbst für dieses experimentierfreudige Jahrzehnt: Um die Zensur in der Tschechoslowakei zu umgehen, konnten explizit erotische Publikationen und Magazine oft nur privat bezogen werden.
1934 gründet Toyen schließlich mit Kolleg*innen die tschechoslowakische Surrealismus-Gruppe in Prag und verknüpft sie mit dem Künstler*innenkreis in Paris und arbeitet bis Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eng mit ihm zusammen. Der Surrealismus galt ab dann als „entartet“ und Toyen sieht sich gezwungen die künstlerische Arbeit für einige Jahre einzustellen. Gemeinsam mit dem neuen Lebensgefährten Jindřich Heisler, aufgrund seiner jüdischen Abstammung versteckt, arbeitet Toyen weiter im Verborgenen. Gemälde aus dieser Zeit, wie das 1942 entstandene „Gefährliche Stunde“, das einen dem deutschen Reichsadler sehr ähnlichen Vogel zeigt, verweisen auf die dunklen Zeiten der Besetzung Prags durch die Nationalsozialisten.
Mit der Machtübernahme der kommunistischen Partei in Prag 1948 zieht sich Toyen zusammen mit Heisler endgültig nach Paris zurück und fokussiert sich von dem Zeitpunkt an noch stärker als zuvor auf den Kontrast zwischen der Omnipräsenz der Frau als Sehnsuchtsobjekt in Werbung und Fernsehen und ihrer gleichzeitig benachteiligten gesellschaftlichen Position. So changiert Toyens Gemälde „Der Paravent“ (1966) zwischen erotischer Femme fatale, die das Gesicht einer Raubkatze in Höhe ihres Geschlechts trägt und einem in den Schatten einer männlichen Figur zurückgedrängten weiblichen Umriss.
Bis zuletzt bleibt die Sexualisierung des Weiblichen und ihre ironische Darstellung ein zentrales Thema in Toyens Collagen und Malereien. Übergroße Münder klaffen in kleinen Frauengesichtern, Körper-Silhouetten sind bis auf die sekundären Geschlechtsmerkmale verschwommen. Bis ins hohe Alter faszinierte Toyen das Thema Körperlichkeit: im Nachlass fand man ein Konvolut von aus Zeitschriften ausgeschnittenen Augen, Mündern, Armen und Beinen sowie zahlreiche Akt-Fotografien.