Energetisch, fortschrittlich und ausdrucksstark. Wie die Abstrakten Expressionisten die New Yorker Kunstszene umgekrempelt haben.
Das Metropolitan Museum of Art in New York City verkündete 1949 mit der Ausstellung „American Painting Today - 1950“ den eigenen Sammlungsschwerpunkt um US-amerikanische Gegenwartskunst zu erweitern. Ein nationaler Wettbewerb wurde ausgeschrieben, Künstlerinnen und Künstler dazu aufgefordert, ihre Werke bei einer der regionalen Jurys einzureichen. Die Ausstellung sollte eine umfassende Bestandsaufnahme aktueller künstlerischer Strömungen in den USA sein und damit das Interesse der Bevölkerung an der US-amerikanischen Kunstproduktion fördern.
Doch diese Ankündigung erregte Widerstand unter einem Teil der angesprochenen jungen Künstler. 18 von ihnen unterzeichneten daraufhin einen offenen Brief an den Präsidenten des Metropolitan Museum of Art, Roland L. Redmond. Die Gruppe, die sich selbst als „advanced artists of America“ bezeichnete, machte sich dank eines Artikels in der New York Times bald als „the Iracibles“ („die Jähzornigen“) einen Namen. In ihrem Brief klagte sie die Zusammensetzung der Jurys an, die sich vereinzelt ablehnend gegenüber der abstrakten „advanced art“ geäußert hatten, und rief zum Boykott des Wettbewerbs auf.
Sie alle gelten heute als einflussreichste Vertreter des Abstrakten Expressionismus
Zu der Gruppe gehörten unter anderem Adolph Gottlieb, Barnett Newman, Clyfford Still, Ad Reinhardt, Jackson Pollock, Mark Rothko, Bradley Walker Tomlin, Willem de Kooning, Hedda Sterne, Hans Hofmann und Louise Bourgeois – sie alle gelten heute als einflussreichste Vertreter des sogenannten abstrakten Expressionismus. Dabei handelte es sich bei den „Irascibles“ keinesfalls um der New Yorker Kunstszene unbekannte Künstler.
Jackson Pollock unterzeichnete bereits 1943 einen Vertrag mit Peggy Guggenheims Galerie Art of this Century und wurde in einem Artikel im Life Magazine 1949 als „the Greatest Living Painter in the United States” gefeiert. Auch Willem de Kooning, Adolph Gottlieb sowie Hans Hofmann wurden regelmäßig in New Yorker Galerien ausgestellt. Die Kunstszene in New York befand sich im Umbruch. Bereits zehn Jahre zuvor hatte sich eine ähnliche Form des Widerstands gegen ein weiteres prominentes Ausstellungshaus in New York City gerichtet: Die Künstlerorganisation American Abstract Artists (AAA) demonstrierte vor dem Gebäude des Museum of Modern Art gegen den Ausschluss abstrakter Kunst aus dem Ausstellungsprogramm. Zu den Mitgliedern zählten unter anderem Josef Albers, der Bildhauer David Smith oder die Künstlerin Lee Krasner.
Die Künstler einte ihre Überzeugung der eigenen Fortschrittlichkeit
Neben Krasner gehörten Elaine de Kooning, Grace Hartigan und Helen Frankenthaler zu den weiblichen Vertreterinnen des abstrakten Expressionismus. Gemeinsam mit ihren männlichen Kollegen präsentierten sie ihre Werke in verschiedenen Gruppenausstellungen und trugen maßgeblich dazu bei, dass sich die abstrakte Malerei in der New Yorker Kunstszene etablierte.
1953 kaufte das MoMA Grace Hartigans Gemälde „The Persian Jacket“ (1952), de Kooning verfasste in der Zeitschrift Art News pointierte Kritiken über die Arbeiten ihrer Künstlerkollegen, Krasner war Vorstandsmitglied der Artists Union und setzte sich mit den American Abstract Artists auch politisch für eine faire Bezahlung künstlerischer Arbeit ein.
Wegbereiter für den in den USA aufkeimenden abstrakten Expressionismus finden sich schon zuvor in Europa: Bereits die geometrischen Verschachtelungen des Kubismus hatten das Sujet bis zur Unkenntlichkeit verfremdet und dabei Fragen nach einer mimetischen Qualität der Malerei aufgeworfen. Paul Klees poetisches Spiel mit Linie und Form erweiterte den malerischen Raum ins Unendliche und Kasimir Malewitschs „Schwarzes Quadrat“ (1915) galt als Nullpunkt der Kunst. Der Zweite Weltkrieg, die Verfolgung der Juden sowie die Diskreditierung moderner Malerei als „Entartete Kunst“ hatten unter anderem zur Folge, dass europäische Künstler in die USA emigrierten – unter ihnen auch André Breton, Hans Hofmann oder Marcel Duchamp. Was die Künstler des abstrakten Expressionismus einte, war die Überzeugung der eigenen künstlerischen Fortschrittlichkeit.
Weder lässt sich ein gemeinschaftlicher Stil bestimmen, noch ein Begriff finden, der die vielfältigen und widersprüchlichen Gesten der malerischen Abstraktion zu fassen vermag, die sich bereits ab den 1930er Jahren in New York niederschlugen. Eines ist jedoch klar: Von einer abbildhaften Funktion hatte sich die Malerei weit entfernt. Statt also die äußere Wirklichkeit abzubilden, kehrten die Künstler ihr Inneres hervor und bannten es auf die Leinwand. Die Malerei wurde zum Schauplatz existentieller ästhetischer Fragen: Welche Funktion hat ein Bild, wenn es nichts darstellt? Wie kommuniziert die Kunst Emotionen? Welches schöpferische Potential liegt im Akt des Malens? Spontanität, Gestus und Innovation lagen dem Denken und Schaffen der abstrakten Künstler zugrunde.
Im wilden Farbauftrag drückt sich eine dynamische körperliche Geste aus
Zu den bekanntesten Vertretern des abstrakten Expressionismus gehört sicherlich Jackson Pollock. Auf gigantischen Leinwänden spritze, tröpfelte und kleckste Pollock Farbe, die in wilden Bahnen und Flecken ein blickdichtes Netz unterschiedlich strukturierter, übereinander gelagerter Flächen bildet. Im wilden Farbauftrag drückt sich eine dynamische körperliche Geste aus, die bezeichnend für die Malerei Pollocks ist: Um die Farbe uneingeschränkt auf die monumentale Leinwand bringen zu können, nahm er die Leinwand von der Staffelei, und platzierte sie auf dem Boden seines Ateliers. So gelang ihm der gleichmäßige und energetische Farbauftrag, für den seine „Action Paintings“ bekannt sind.
Das Bild wird zum Ausdruck eines malerischen Akts. Das Unterbewusstsein, die intuitiven Bewegungen des Künstlers, gewinnen an Bedeutung. Hierin knüpft der abstrakte Expressionismus auch an den europäischen Surrealismus an: Mit Blick auf Salvador Dalí oder André Breton experimentierte Pollock in seinen „Action Paintings“ mit der Technik des Automatismus: Vernunft, Struktur und Planung werden umgangen, um dem Unterbewussten Raum zu geben.
Kunst wird zur körperlichen Erfahrung
Gleichwohl kontrollierter als die Malerei Pollocks wirken die Gemälde von Barnett Newman. In seinem Gemälde „Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue IV“ (1969/70) kontrastiert der Künstler die drei Grundfarben miteinander; dem schreienden roten Farbfeld wird ein leuchtendes, warmes Gelb entgegengestellt, getrennt bloß von einem schmalen tiefblauen Balken, der in die Komposition zu intervenieren scheint und den Widerspruch der Farben versöhnt.
Die Symmetrie der verschiedenen Farbfelder, die strenge Komposition des Gemäldes bildet einen Ausgleich zu der Intensität der Farben. Diese sogenannte Farbfeldmalerei hat jegliche Gegenständlichkeit hinter sich gelassen. Mit diesem Werk verweist Newman auf seinen niederländischen Künstlerkollegen Piet Mondrian, welcher 1940 in die USA emigrierte. Mondrians Reduktion und Übersichtlichkeit sprengend, strebte Newman jedoch nach einer metaphysischen Wirkung seiner Gemälde. Und tatsächlich übermannt die über sechs Meter messende Leinwand die Betrachter, die sich mit der intensiven Farbigkeit und der physischen Monumentalität des Bildes konfrontiert sehen.
Wie real die Ausdruckskraft ist, wird anhand eines Skandals besonders deutlich
Der abstrakte Expressionismus ist zutiefst energetisch, kraftgeladen und ausdrucksstark. Als erste genuin US-amerikanische Bewegung ersetzte dadurch New York Paris als bedeutendste Kunstmetropole. Losgelöst von der Lesbarkeit figürlicher Malerei speist sich die Präsenz der abstrakten Werke aus dem Akt des Malens und beschert bis heute eine (meta-)physische Kunsterfahrung. Wie real ihre Ausdruckskraft ist, wird anhand eines Ereignisses besonders deutlich: So attackierte und beschädigte am 13. April 1982 ein Student Barnett Newmans „Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue IV“ in der Neuen Nationalgalerie in Berlin. Der Grund: Das Gemälde habe ihn provoziert.