Monumental, politisch, kompromisslos: Die aussergewöhnlichen Bildteppiche von Hannah Ryggen ab Herbst in der Schirn.
Von einem kleinen autarken Bauernhof an der Westküste Norwegens aus schuf Hannah Ryggen (1894–1970) mit ihren monumentalen Wandteppichen ein eindrucksvolles, politisch inspiriertes Werk. Sie lancierte bildliche Angriffe auf Hitler, Franco und Mussolini und setzte sich damit deutlich vernehmbar für die Opfer von Faschismus und Nationalsozialismus ein. Die Schirn widmet der schwedisch-norwegischen Künstlerin nun eine große Einzelausstellung.
In den rund 25 gezeigten Tapisserien greift Ryggen grundlegende Themen des Menschseins und des Lebens in der Gesellschaft auf: die Gräueltaten des Krieges, Machtmissbrauch, die Abhängigkeit von der Natur und die Verbindungen zu Familie und Mitmenschen. Viele der Werke befassen sich mit den Ereignissen und politischen Auseinandersetzungen im Europa der 1930er- und 1940er-Jahre und spiegeln zugleich die sozialistischen Überzeugungen der Künstlerin. Die Ausstellung stellt die Künstlerin auch als Vertreterin einer anderen Art von Moderne vor – in der sich Elemente aus Volkskunst und Mythologie mit politischen Anliegen und Themen des alltäglichen Lebens mischen.
Ihr kompromisslosen Werk erscheint von erschütternder Aktualität
Dabei erkundete Ryggen ein ganzes Spektrum von Motiven und verwendete ein traditionelles Medium für ein neuartiges Ziel: der Öffentlichkeit mit Wandteppichen ihre starken politischen Botschaften mitzuteilen. In einer Gegenwart, die von zunehmender Ungleichheit, Nationalismus und Populismus geprägt ist, erscheint ihr kompromissloses Werk von erschütternder Aktualität und führt die Notwendigkeit vor Augen, für die Prinzipien des Humanismus einzustehen.
Die Schirn präsentiert Hannah Ryggens monumentale Bildteppiche, in denen sie sich Zeit ihres Lebens zu gesellschaftlichen Fragen positionierte: zu Machtpolitik und internationalen Konflikten, zum Nationalsozialismus und Faschismus in Europa sowie zur Rolle der Kunst und zur Stellung der Frau in der Gesellschaft. Eindrücklich verband Ryggen in ihrem Werk das Persönliche mit dem Politischen. Im Zentrum der Präsentation stehen Ryggens antifaschistische und pazifistische Werke. Sowohl die Anzahl als auch die großen Formate dieser Arbeiten zeugen von der immensen Schaffenskraft, mit der die belesene und gut informierte Künstlerin nationale und internationale politische Ereignisse verhandelte. Als öffentliche Kommentare konzipiert, waren diese Tapisserien von politischer Brisanz. Mit „Etiopia“ („Äthiopien“, 1935) prangerte Ryggen Italiens Invasion in Äthiopien an. Als eine ihrer ersten international ausgestellten Arbeiten wurde sie im Norwegischen Pavillon auf der Weltausstellung 1937 in Paris in unmittelbarer Nähe von Pablo Picassos „Guernica“ gezeigt – allerdings zensiert, da man fürchtete, die italienische Staatsmacht zu beleidigen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg positionierte sich Ryggen weiterhin zum Zeitgeschehen
Auch während der nationalsozialistischen Besatzung Norwegens webte die Künstlerin ungeachtet der damit verbundenen Gefahr deutliche Stellungnahmen zum Zeitgeschehen. In vielen ihrer Arbeiten setzte Ryggen dem Widerstand politisch Verfolgter ein Denkmal. Nach dem Zweiten Weltkrieg positionierte sich Ryggen weiterhin zum Zeitgeschehen und äußerte sich etwa mit zum umstrittenen NATO-Beitritt Norwegens und zur atomaren Aufrüstung der Weltmächte.
Noch mit 72 Jahren webte sie aus Protest gegen die Kriegsführung in Vietnam „Blod i gresset“ (Blut im Gras, 1966) und benutzte für das blutrote Gittermuster zum ersten Mal künstliche Farbe. Fast zehn Jahre investierte die Künstlerin, um autodidaktisch ihre Webtechnik zu perfektionieren. Alle Materialien für ihre Webarbeit gewann sie auf ihrem Hof und aus der sie umgebenden Natur, sie spann die Wolle selbst und färbte sie mit natürlichen Farben. Sie verband unterschiedliche Bildtraditionen, etwa die norwegische Webkunst und Freskenmalerei mit moderner Formensprache. Charakteristisch für die Künstlerin sind ihre narrative, oft szenische oder theatralische Darstellungsform, die collageähnlichen Kompositionen sowie die Parallelität von realen, fiktiven und mythischen Personen und Motiven.
Ryggen informierte sich über die zeitgenössische Kunstszene, in einigen Tapisserien setzte sie sich unmittelbar mit dem Werk anderer Künstler auseinander. Ein besonderes Augenmerk der Ausstellung liegt auf dem frauenpolitischen Engagement Ryggens. Immer wieder reflektierte sie in ihrem Werk die Rolle der Frau in einer männlich dominierten Gesellschaft. Das großformatige Triptychon „Ugift mor“ („Unverheiratete Mutter“, 1937) widmet sich den Lebensumständen alleinerziehender Mütter, während „Mors hjerte“ („Mutterherz“, 1947), eine persönliche Arbeit über die Mutterschaft und die spannungsvolle Beziehung zu ihrer an Epilepsie leidenden Tochter Mona. Die eindringliche Mutter-Kind-Schilderung ist eine Pionierarbeit in der Darstellung eines dezidiert weiblichen Erfahrungshorizonts.
Sie entfaltet eine philosophische Betrachtung des menschlichen Daseins
Den Abschluss bildet Hannah Ryggens ikonisches Werk „Vi lever på en stjerne“ („Wir leben auf einem Stern“, 1958), eine Auftragsarbeit für den Eingangsbereich des Regierungshochhauses in Oslo. Ein halbes Jahr benötigte sie, um die Wolle für das großformatige Werk zu färben, weitere 13 Monate webte sie daran. Auf dem Bildteppich entfaltete sie eine philosophische Betrachtung des menschlichen Daseins sowie der zentralen Stellung von Kunst und Liebe als persönlichen und politischen Kräften. Am 22. Juli 2011 wurde dieser Teppich bei dem Bombenanschlag des rechtsextremistischen Terroristen Anders Behring Breivik auf das Regierungsgebäude beschädigt. Wie eine Narbe erinnert heute der restaurierte Riss am unteren rechten Bildrand an diesen Angriff auf die Demokratie.