Bunte Cartoons, getuftete Höhlenschluchten und schmelzende Teppiche: Über die Vielfalt zeitgenössischer Tapisserien.
Die überreiche Tradition eines Mediums kann Fluch und Segen zugleich sein. „Nach dem Abschluss an der Kunstakademie war ich besessen von Malerei, “ erinnert sich Jessica Campbell. „Ich fühlte mich überwältigt von ihrer Geschichte, und die Stimmen ihrer Vorfahren, all der Künstler, meiner Maldozenten schienen in meinem Atelier nachzuhallen.“ Also, ergänzt die 1983 in Kanada geborene Künstlerin, habe sie sich irgendwann den eher nicht-traditionellen Mitteln der Kunst zugewandt.
Dorthin, wo das Feld noch nicht bestellt war, die Vorbilder eindrucksvoll, aber immer noch genügend Platz und Raum lassend für eigene Pionierarbeiten. 2014 begann Campbell, die ersten Badematten auseinanderzuschneiden und zu neuen Vorlegern zusammenzusetzen. 2016 „sprangen dann die ersten Bilder an die Wand, “ wie sie es formuliert. So landete sie schließlich bei ihrem aktuellen Medium, den Tapisserien. Deren Motive weisen eine ganz spezifische Qualität auf, von der sich leicht ein Bogen zu Jessica Campbells zweiter Arbeit schlagen lässt: Dem Zeichnen und Schreiben von Comics. Campbells Textilarbeiten sind durchzogen von cartoonhafter Überdrehtheit, die Formen eher grobschlächtig, die Farben knallig. Schattierungen gibt es kaum, stattdessen zieht die Künstlerin auch schon einmal fette Linien um bestimmte Formen und Objekte.
Dabei ist der Hang zum Cartoon nicht reine Formalie, sondern bestimmt auch die inhaltliche Herangehensweise: Pop- und Alltagskultur, Kunstgeschichte, Politik und Banales werden gleichberechtigt zur Motivfindung herangezogen. Und natürlich geht es, wie oft in zeitgenössischer Kunst, auch um die „Kunst über Kunst“-Betrachtungen: Die Künstlerin bei der Arbeit, aus ihrer eigenen Perspektive, die Beine rahmen links und rechts das Motiv.
Befragt zum trockenen Humor, der sich durch viele ihrer Arbeiten mitsamt zugehörigem Titel zieht, nickt Jessica Campbell: „Humor ist grundlegend für die Art und Weise, wie ich die Welt um mich herum wahrnehme und verarbeite. Trotzdem habe ich den Humor lange Zeit aus meiner Kunst ausgeklammert, weil er ein so komplexes und herausforderndes Werkzeug ist. Es ist leicht, einen kurzen, banalen Gag draus zu machen, was mir sehr unattraktiv erscheint. Die besten Comedians nutzen Humor auf eine Weise, die Zugang zu sonst geradewegs ‚unantastbaren‘ Emotionen und Standpunkten ermöglicht.“ Mike Kelley, fügt sie hinzu, habe als Künstler eine „wunderbare Balance zwischen Humor und Trauma“ gefunden. Düstere Vorahnungen verbergen sich hier und da auch in den Fasern von Campbells Tapisserien, mit Titeln wie „Watching (Harrasser on a Bike)“.
Als die Anfrage zu diesem Interview kommt, fühlt sie sich geehrt: „Überhaupt mit Ryggen in einem Kontext genannt zu werden… ihre Arbeit ist so phänomenal, weil es diese perfekte Kombination von Figuren mit komplexen Räumen gibt, dazu Referenzen auf Politik, die dann aber wieder durch ein cartoonhaftes Vokabular und eine sehr ausgeklügelte, subtile Farbpalette ausbalanciert werden. Ich liebe ihre Arbeit!” Ihr aktuelles Medium sieht die Künstlerin selbst allerdings nicht in Stein gemeißelt.
„Ich würde mich nicht als ‚Teppichkünstlerin‘ bezeichnen, auch wenn ich die Vorgänge, das Teppichmachen und Weben liebe, “ meint Campbell. Aus der De- wurde bald eine Rekonstruktion von Mustern und Materialien, heute erschafft die Wahl-Chicagoerin Teppicharbeiten in verschiedenen Techniken: Noch immer gern in einer Art Mosaik- oder Collagetechnik, relativ selten in diesem Medium, mit Inlay- oder Tuft-Technik. Hierbei wird Garn auf die bereits gewebte Stoffbasis von außen eingebracht, wodurch beispielsweise Verzierungen oder erhabene Muster entstehen.
Das Tuften hat auch Alexandra Kehayoglou zu ihrer Lieblingsarbeitsweise erkoren: Die 1981 in Buenos Aires geborene Künstlerin fertigt ihre Wände und manchmal gar Räume ausfüllenden Tapisserien im eigenen Studio mit Hilfe einer Tuftingmaschine, wie sie ähnlich auch in der Teppichindustrie zur Herstellung von Bodenbelägen und Automatten zum Einsatz kommt. Dabei sollte man nicht dem Trugschluss erliegen, die halb-automatisierte Herstellungsweise, die heute im Gegensatz zu vorindustriellen Zeiten immer noch per Hand, aber heute eben mit maschineller Unterstützung durchgeführt wird, führe deshalb auch ganz automatisch zu beeindruckenden Resultaten.
Ich würde mich nicht als ‚Teppichkünstlerin‘ bezeichnen, auch wenn ich die Vorgänge, das Teppichmachen und Weben liebe.
Aus Kehayoglous Atelier heißt es in jedem Fall, der Arbeitsprozess der Künstlerin sei „beschwerlich und lang“ und erfordere „körperliche Anstrengung ebenso wie eine sehr präzise Technik.“ Die Resultate sind Tapisserien von nahezu topografischer Genauigkeit, die sich wie Landschaften aus Moos und Gestein in den Raum erheben. Manchmal, wie in ihrer Serie „What If All Is“, ergeben sich ganze handgetuftete Höhlen, vom Boden über die Wände bis zur Decke vollends textil ausgekleidet.
Ihr Gespür für Material und Texturen bewirkt eine beeindruckende Illusion
Es sind Nachbildungen ursprünglicher Landschaften, die die Künstlerin irgendwann bereist hat und die sie für die Nachwelt gewissermaßen erhalten möchte. Damit steht Alexandra Kehayoglou an der Schnittstelle zur aktionistischen Kunst, ohne, dass ihre Arbeit allein in einer solchen Kategorie aufgehen würde. Ihr Gespür für Material und Texturen gewährleistet eine beeindruckende Illusionsleistung; oft lässt sich erst auf den zweiten Blick oder mit dem Wissen hierum ausmachen, dass es sich bei den Arbeiten technisch betrachtet um Teppiche handelt. Tapisserien sind ein relativ voraussetzungsreiches Medium: Man kann damit selbstredend experimentieren wie mit allen anderen Mitteln der Kunst. Aber sie erfordern doch einen ungleich höheren Grad an Vorwissen, Planung, Überlegung.
Weshalb die Beobachtung, dass das gewobene, geknüpfte oder getuftete Medium derzeit „im Kommen“ sei, im Vergleich zu Zeiten von Hannah Ryggen oder einer Textilkünstlerin wie Annie Albers, natürlich stimmen mag. In absoluten Zahlen aber sind es immer noch wenige, die sich als ausgewiesene „Teppichkünstler“ bezeichnen lassen könnten. Hierunter sind wiederum mehrere Künstlerinnen und Künstler, die – ähnlich wie Kehayoglou - bereits eine familiäre Beziehung zum Medium mitbringen.
Ahmeds Teppichkunst scheint sich selbst geradewegs zu verflüssigen
Für diese nötige Durchdringung des Teppichs quasi in seinem Grundwesen steht aktuell vielleicht niemand so wie Faig Ahmed: „Wie jede Familie in Aserbaidschan hatten auch wir überall Teppiche – auf dem Boden, an den Wänden, in jedem einzelnen Zimmer, “ erklärt der 1982 in Sumqayit geborene Künstler. Seine Arbeiten leben von absoluter Akkuratesse, die erst den Moment der Überraschung ermöglicht. So ist zum Beispiel der Name seiner Serie „Liquid“ wörtlich zu nehmen: Ahmeds Teppichkunst scheint sich selbst geradewegs zu verflüssigen; was oben als traditionelles Muster beginnt, ist unten zu einem Konglomerat an Farben zusammengeschmolzen. Faig Ahmed lässt seinen Tapisserien Makel angedeihen, die so makellos sind, dass sie als Naturgesetz erscheinen.
An anderen Stellen dehnt er Teppichmuster aus, bis sie zu Beulen anschwellen, oder er lässt vermeintliche schwarze Farbe auf seine Muster herunterregnen, die an den nicht zufällig so betitelten Ölteppich erinnert – mit dem feinen Unterschied, dass all diese Störungen nicht von außen kommen, sondern von Beginn an in den Teppich selbst eingearbeitet sind. Und handelt es sich dann überhaupt noch um Störungen? Warum nimmt man dies nun als korrekte Form des Teppichs wahr und jenes eben nicht? Sobald das Gesetz des Musters aufgebrochen wird, beginnt das kontrollierte Chaos. Ahmed erklärt, wie er dies auf den Teppich bringt: „Meine Skizzen erstelle ich am Computer und übertrage diese dann auf ein spezielles Ingenieurspapier, Punkt für Punkt. Anschließend gebe ich meine Zeichnungen an einen Teppichmacher weiter, der den Teppich nach althergebrachter Weise fertigstellt.“
Schon allein der nahezu anachronistische Prozess sorgt für Aufregung
Etwa am entgegengesetzten Ende dieses technischen Spektrums ließen sich Künstler wie Ann Cathrin November Høibo oder Diedrick Brackens verorten: Sowohl die norwegische Künstlerin (*1979) als auch der 1989 im texanischen Mexia geborene Brackens fertigen ihre Arbeiten jeweils im eigenen Atelier. Dass dieser nahezu anachronistischen Prozess in digitalen Zeiten schon allein für einige Aufregung sorgt, versteht sich beinahe von selbst. Und wieder zeigt sich, dass ein Medium allein noch keine Gemeinsamkeiten über die genutzte Technik hinaus macht: November Høibo beispielsweise arbeitet sich formal an der Tapisserie ab, die bei ihr oft genug nur noch als loser Zusammenhang eines Gewebes besteht, von Lücken und Löchern durchsetzt oder mit eingearbeiteten Steinen versehen. Der junge Afroamerikaner Brackens wiederum arbeitet sowohl figurativ als auch abstrakt, oft auch in Kombination.
Historisch wird er dann wieder in seinem Rückgriff auf die Menschen, deren Anteil an der langen Tradition der Textilherstellung seiner Ansicht nach nie entsprechend gewürdigt worden ist: „Frauen, queere Menschen, schwarze und braune [sic!] Leute“, fasste Brackens gegenüber ‚Artsy‘ in einem Interview zusammen, hätten und haben nach wie vor einen riesigen Anteil hieran. Und tatsächlich: Bis heute ist die Teppichknüpferei jenseits von Kunstwelt und Freizeitbeschäftigung ein Knochenjob, und die Zeit, in der wirtschaftlich oder politisch Unfreie zu seiner Herstellung herangezogen worden, nicht überall auf der Welt vorbei.
Selbstermächtigung, Stolz und Pein wörtlich verwoben in einem Stück Stoff
Brackens hievt die marginalisierten Mitmenschen und deren Lebenssituationen in all ihrer Ambivalenz schließlich als Motive auf die eigenen Teppicharbeiten: Selbstermächtigung, Stolz und Pein wörtlich verwoben in einem Stück Stoff. Zusammengesetzt aus mehreren Bahnen und aufgebrochen von abstrakten Musterungen ergeben Diedrick Brackens Arbeiten so die vielleicht angemessenste Form für eine historisch-persönliche Perspektive: einen Flickenteppich von magischer Anziehungskraft, der das schmerzhafte Wissen um seine Tradition, in der er nun einmal steht, nicht verbirgt.