Auf diesen afghanischen Teppichen treffen Tradition und Handwerk auf Kriege und Konflikte von heute – zwischen Kunstwerk, Souvenir und Einrichtungsgegenstand üben sie ein ganz eigene Faszination aus.
Aus der Ferne erscheinen die Baghlani-Teppiche wie viele andere, die von Nomaden in Afghanistan und in den angrenzenden Regionen Pakistans oder Turkmenistans gefertigt werden: Wechselnde abstrakte Dekore und einige Figurationen, oft mit Objekten aus dem Lebensalltag, symmetrisch gearbeitet oder als offenes Bildmotiv, in farbenprächtiger Wolle geknüpft, manche feiner geschaffen, manche grobschlächtiger.
Erst bei näherem Hinschauen offenbaren sich die geometrischen Formen als Panzer und Flugzeuge und die sattgrünen Landkarten als Kriegsschauplätze, auf denen sich Bomben, Handgranaten und Explosionen tummeln. „Afghan War Rugs“, wie die Teppiche ob ihrer Vielzahl nicht ganz präzise heute zusammengefasst werden, stellen ein besonderes Kuriosum der neueren Geschichte dar. Ihren Anfang nehmen sie etwa 1979: Kurz nach dem Einmarsch sowjetischer Truppen tauchten erstmalig Kalaschnikow-Gewehre auf den folkloristischen Tapisserien auf.
Bald könnten auch Drohnen auf den afghanischen Teppichen auftauchen
Viele davon sind von den ethnischen Gruppen der in Afghanistan, aber auch im pakistanischen Grenzgebiet lebenden Baluchi und Turkmenen gestaltet, weshalb die Teppiche synonym auch als „Baluchi Rugs“ bekannt wurden. Seitdem lässt sich ein immer umfangreicher werdendes Bildvokabular ausmachen, in dem jeweils neue Kriegsgerätschaften stetig eingebunden werden – es würde ihn, sagte beispielsweise der amerikanische Teppichsammler und New York Times-Reporter Kevin Sudeith, nicht wundern, wenn bald auch Drohnen auf den afghanischen Teppichen auftauchten.
Geradewegs unschuldig bringen die Tapisserien die Kriegsschauplätze ins Wohnzimmer, und das gerade nicht in Form eines Kunstwerks, das seine Distanz zur Welt als Möglichkeit stets vor sich herträgt, sondern zunächst einmal als dezidierter Einrichtungsgegenstand von volkstümlichem Charakter. Es verwundert kaum, dass sich die sogenannten „Afghan War Rugs“ bald einen Namen als irgendwie makabres Kuriosum in der westlichen Welt machten. Gehandelt werden sie von privat – besonders intensiv zunächst übrigens in Deutschland und Italien–, später von Spezialhändlern oder unter der Hand auf Flohmärkten, wo sie Mitte der 1990er plötzlich in New York auftauchten.
Interpretationen waren schnell geschaffen: Naheliegend, dass die Teppiche, die sowjetische und US-amerikanische Kriegsgerätschaften zu Mustern machten, gern als Zeichen des Protests gegen jenen Krieg deklariert werden. Schließlich kennt man das aktionskünstlerische Potential von Tapisserien. Doch ganz so einfach ist es in diesem Fall nicht, wie auch der Katalog zur Ausstellung „Confini e Conflitti. Pictorial Oriental Carpets. Visions of Power“ 2015 im italienischen Rovereto darlegte: Die Vorstellung, dass die Teppiche eine pazifistische Botschaft in sich trügen, beschreibt der Geographie-Professor Franco Farinelli dort als soziologisch-journalistisches Konstrukt, „eine der am wenigsten verbreiteten Auffassung in Afghanistan, selbst unter jenen, die vom Krieg die Nase voll haben“.
Der Wunsch, den Teppichen eine ebensolch eindeutige Botschaft zuzuschreiben, entspringt ja wiederum einer (geografisch) westlichen und zudem kurzsichtigen Perspektive auf die Dinge. Und sie macht die fraglichen Objekte auch sehr viel leichter konsumierbar. Kriegszustände und Konflikte herrschten auf afghanischem Gebiet und in den angrenzenden Regionen lange, bevor die ersten Sowjettruppen und später US-amerikanische Soldaten einmarschierten. Warum also war hiervon bisher wenig auf den Tapisserien zu sehen? Hat es nicht auch mit einem Erleben von Fremdheit, mit Neuartigkeit der hinzukommenden Soldaten und ihrer als übermächtig empfundenen Gerätschaften zu tun?
In der Faszination liegt ebenso die Möglichkeit zur Abscheu wie zur Anziehung
Faszination ist ja gewissermaßen ein Vorgang vor der Bewertung: In ihr liegt ebenso noch die Möglichkeit zur Abscheu wie zur Anziehung. Fraglos mehr als gut denkbar, dass der oder die einzelne Teppichknüpferin entschieden nicht einverstanden ist mit dem Einmarsch der Sowjets, später der US-Amerikaner. Dass sie oder er persönliches Leid erleben musste, aus angestammten Gebieten vertrieben wurde, Familienmitglieder verlor. Das macht einen Einbezug jener Motive, die viele nomadische Bergvölker mit einiger Wahrscheinlichkeit ursprünglich durch über ihrem Gebiet abgeworfene, illustrierte Informationszettel erstmalig überhaupt gesehen haben, aber noch lange nicht zum Automatismus.
Auch würde die Reduktion auf ein alleiniges Zeichen des Protests die lange Tradition ausblenden, in der die Teppiche von den ursprünglich nomadischen Teppichknüpfern gefertigt wurden. Einen Teppich zu schaffen, dazu gehört eben mehr als die Motivfindung, gehören Zeit, Material, Kontexte, in denen sie entstehen und entstanden sind. So war Afghanistan vor der Machtergreifung der Taliban ein Land im Aufbruch, in dem Frauen nicht ausschließlich, wie es beliebte Bilder aus jener Zeit zeigen sollen, aber eben doch auch in kurzen Röcken über die Straße flanierten und man abends ins Kino ging, um einen Film zu schauen.
Wo das Phänomen genau seinen Ursprung nahm, lässt sich nicht ausmachen
Zwar gibt es inzwischen ganze Experten-Webseiten, die sich ausschließlich mit jenen Kriegsteppichen beschäftigen, sie in verschiedene Schulen und Stile kategorisieren. Doch wo das Phänomen genau seinen Ursprung nahm, lässt sich nicht exakt ausmachen. Vielleicht waren es zunächst nur sehr vereinzelte Exemplare, in denen zufällig neuartige Kalaschnikows in den Mustern und Bildern sich wiederfanden. Vermutet werden kann, dass die ersten Kunsthandwerker, die jene Kriegsteppiche mitbegründeten, ihre neuartigen Motive tatsächlich nicht aus nächster Nähe, sondern nur von Bildern kannten.
Nach 9/11 jedenfalls etablierte sich nochmals eine neue Art von Teppichmotiven, die jenen Anschlag auf das World Trade Center in teils drastischer Detailverliebtheit illustrierten. Auch diese Bilder kannten die Teppichknüpfer allenfalls aus dem Fernsehen, wahrscheinlicher aber auch von Flyern und Fotografien, auf denen der Terrorakt argumentativ mit dem Einmarsch in Afghanistan verknüpft wurde. Es lässt sich nicht sicher ausmachen, ob die Darstellung 9/11 in zynischer Manier zelebriert wird, mahnend verdammt – oder ob es sich, wie auch in den Kriegsteppichen früheren Datums, zunächst einmal um eine Darstellung im eigentlichen Sinne handelte, ursprünglich ohne formulierte Intention.
Zumindest für die Teppiche neueren Datums gibt es so auch inzwischen ganz andere, schnöde Erklärungen: Der Hype um die Kriegsteppiche hat sich selbstverständlich herumgesprochen, und mit steigender Nachfrage wurde auch deren Produktion deutlich ausgebaut. Oft genug sind die unter diesem Label verkauften Tapisserien nun ihrerseits Reproduktionen bereits vorhandener Teppiche, nicht selten von Kindern gefertigt.
Der authentische Ausdruck, den der gut zahlende Sammler für sein Geld erwünscht, ist in vielen Fällen nicht viel mehr als ein Marketingargument. So haben auch die afghanischen Kriegsteppiche den Weg eines jeden erfolgreichen Produkts beschritten und sind nun heute nicht mehr nur Sammlerfaszinosum, sondern längst auch beliebtes Souvenir zum Beispiel unter Militärangehörigen, die jene Teppiche für ihre Familien mit nach Hause nehmen (viele afghanische Händler bekommen spezielle Erlaubnisse ausgestellt, um sie direkt auf den Militärbasen verkaufen zu dürfen). Das mag man zynisch und makaber finden, ebenso wie die Motivfindung selbst. Es zeugt aber erst einmal vom tief menschlichen Wunsch, von den Schauplätzen etwas mitzunehmen.
Die Teppiche sind längst beliebtes Souvenir unter Militärangehörigen
Wo Bilder in digitaler Omnipräsenz schon beinahe nicht mehr als existent wahrgenommen werden, bietet ein Teppich als kunsthandwerklich hergestelltes Medium einen außergewöhnlichen Mehrwert. Seine Produktion kostet Zeit. Und wenn sich in die Schwere aus Jahrhunderten an Tradition und Kunsthandwerk plötzlich Kriege und Konflikte im jüngsten Gewand mischen, dann passiert etwas offenbar höchst Merkwürdiges. Je weniger ihnen der ambigue Charakter ausgetrieben werden soll, je weniger sie auf diese zugegeben verlockende Symbolik reduziert werden, umso mehr wirken diese Teppiche als Störfaktor.