Das Sinnbefreite wird bei Samuel Beckett zur absurden Haupthandlung. Und bei Bruno Gironcoli zum Gesetz.
Er fesselt sich nackt an einen Schaukelstuhl und wartet bis er zum Stillstand kommt. Murphy hat seinen idealen Seinszustand gefunden: die völlige Stasis, die nur aus der vorangegangenen Bewegung erreicht werden kann. Nur so kann Murphy, der Protagonist in Samuel Becketts gleichnamigem Roman aus dem Jahr 1938, seiner Lieblingsbeschäftigung – der Trennung von Körper und Geist – nachgehen. Wir befinden uns im London der Vorkriegszeit, wohin der Ire Murphy flüchtet, um seiner Geliebten in Dublin zu entkommen.
Es passieren im Folgenden noch so einige andere Dinge in Becketts Roman, die sich aber eher wie eine Aneinanderreihung von Nebenhandlungen zur Erläuterung der Haupthandlung entfalten, die dann aber ausbleibt. Man muss sich als Leser einfinden, lose Enden und Erzählstränge zu einem Ganzen verknüpfen. Murphy hingegen versucht alle Handlungen zu vermeiden: Er entkommt einer Frau, verlobt sich mit der Prostituierten Celia, die er aber letztendlich ebenso wenig begehrt wie seine ehemalige Geliebte, und findet widerstrebend eine Anstellung als Wärter in einer Nervenklinik, wo er Schach spielt und die Patienten um ihre fensterlosen Gummizellen beneidet. Am Ende stirbt Murphy an einer Gasexplosion in seiner eigenen Wohnung.
Auf Erklärungen kann man lange warten
Das Absurde steht in Becketts Roman immer im Vordergrund. Zum Beispiel beschreibt der Autor die Verlobte Murphys anhand einer detaillierten Tabelle, die nicht nur ihre körperlichen Maße umfasst, sondern auch wertet, welche Merkmale von Bedeutung sind: „Age. Unimportant; Head. Small and Round. Eyes: Green (…) Hips, etc. 35’’; Instep. Unimportant.“ Diese Beschreibung wird nicht weiter erläutert, könnte aber ein Einblick in Murphys Gedankenwelt sein, die im Kontrast zu Celias passionierter Liebe zu ihrem Verlobten steht. An einer anderen Stelle werden die einzelnen Züge eines sonderbaren Schachspiels aufgelistet, das Murphy mit Mr. Endon, einem Patienten der psychiatrischen Klinik, spielt. Wer Becketts Werke kennt, weiß: auf Erklärungen kann man so lange warten, wie auf Godot.
So kann das Bild, das Beckett mit dem an den Schaukelstuhl gefesselten Murphy malt, als programmatisch für den gesamten Roman stehen: Existieren als unmittelbare Erfahrung. Oder wie es ein Freund von Murphy auf den ersten Seiten des Romans formuliert: „Murphy, all life is figure and ground.“ Damit führt uns Beckett im Gegenzug nur die Absurdität unseres eigenen Lebens, unserer Bestrebungen, unserer „Bedeutung“ vor Augen.
Mit dieser übersteigerten Weigerung, sich den Notwendigkeiten des Lebens zu unterwerfen und dem menschlichen Alltag anzupassen, scheint sich der Künstler Bruno Gironcoli nur zu gut identifizieren zu können. Genau 30 Jahre nach Erscheinen von Becketts „Murphy“, schafft Gironcoli seine Skulptur „Modell in Vitrine. Entwurf für eine Figur“ (1968). Die Skulptur nennt er „Murphy“ und begründet damit eines der grundlegenden Modelle seiner späteren Werke, in denen immer wieder diese Figur zu finden ist.
Nach Gironcolis eigenen Angaben entstand seine Murphy-Figur aus dem Experimentieren mit Gips: „Ich habe damit begonnen, indem ich zwei viereckige Biskuitformen aus der Küche mit Gips gefüllt habe.“ Ergebnis war eine Plastik, die eigentlich nur durch ihre Proportionen an einen Körper denken lässt. Schlauchförmig liegt der reduzierte Körper auf einer Art Sitzgelegenheit, eingeschlossen von der Glasvitrine, klassisch thronend auf einem Sockel.
Murphy erscheint als Prinzip der Reduzierung des Lebens auf eine Figur
Gironcoli erklärt seine Faszination für den Beckett’schen Protagonisten mit der völligen Reduzierung menschlichen Lebens auf eine Figur: „Da hier jemand versucht, eben dieser Murphy, seine Lebensbereiche so stark einzuschränken, dass sie auf ein nichtiges - nicht auf ein Nichts -, ein nichtiges Leben hin orientiert zu sein scheinen.“ Murphy erscheint also als eine Art Prinzip, das dann immer wieder als Detail in seinen monumentalen Skulpturen auftaucht.
Und damit war Gironcoli nicht der einzige Künstler, der Figuren oder Motive von Samuel Beckett in seinen Werken aufgreift. Im selben Jahr, in dem Gironcolis „Murphy“ zum ersten Mal in Erscheinung tritt, schafft auch der amerikanische Künstler Bruce Nauman seinen „Slow Angle Walk (Beckett Walk)“.
Die Performance bildet den Auftakt einer Reihe bewegungsbasierter Arbeiten, in denen Nauman alltägliche Bewegungen, wie Gehen, Hüpfen oder Ballspielen, ausführt und untersucht. Der „Beckett Walk“ wird als Videoinstallation ausgestellt, die Nauman dabei zeigt, wie er eine Stunde lang eine Reihe von Geh-Übungen wiederholt. Beispielsweise durchquert er den Raum (sein Studio), die Hände auf den Rücken gebunden, indem er eines seiner Beine im rechten Winkel nach vorne wirft, seinen Körper um 45 Grad dreht und plötzlich zurückfällt, ein Geräusch macht und das andere Bein hinter sich hochhebt, wobei er seinen Körper wie ein Pendel nach vorne neigt. Es folgen mehrere Sequenzen dieser Art, die Bewegungen werden dabei mit einer solchen Konzentration und Überzeugung ausgeführt, dass das Ergebnis ebenso kraftvoll wie absurd ist. Jeder Meter des Fortschritts erscheint als ermüdender, komplizierter Prozess.
Da hier jemand versucht, eben dieser Murphy, seine Lebensbereiche so stark einzuschränken, dass sie auf [...] ein nichtiges Leben hin orientiert zu sein scheinen.
Die sonst so banalen Alltagsübungen des Gehens oder auf dem Schaukelstuhl Sitzens bekommen plötzlich eine eigene Bühne. Die endlosen Wiederholungen und Bewegungen des Körpers füllen den Raum. Bei Nauman und Gironcoli erfüllt die Beckett-Referenz eine Art Prinzip oder Regel: Das Sinnbefreite, Nebensächliche, das sich so schnell in Gewohnheit verliert, wird zur absurden Haupthandlung. Zur Reduktion auf Figur und Grund.