Zusammen mit gehörlosen Studenten hat Künstler Tarek Atoui neue Instrumente geschaffen – auf der Suche nach einer universalen Wahrnehmung von Sound.
Es gibt Instrumente, die sind so selten, dass sie selbst das geneigte Publikum nur mit einigem Glück zu Gehör bekommt. Das Ondes Martenot ist so eines: Seit 1928 macht das sagenhafte Ding als eines der ersten elektronischen Musikinstrumente überhaupt von sich reden – dabei sieht es für den Laien zunächst einmal aus wie eine Art Orgel. Über einen Draht lassen sich dem Objekt dann aber wabernde, scheinbar unvorhersehbare Geisterklänge wie beim übrigens im selben Jahr in Russland erfundenen, aber sehr viel verbreiteteren Theremin entlocken (das man zum Beispiel aus dem Beach Boys-Song „Good Vibrations“ kennt).
Bis heute ist das Ondes Martenot ein geliebter, aber rarer Exot unter den Instrumenten. Der französische Komponist Olivier Messiaen schrieb ein ganzes Stück fürs Instrument, „Radiohead“-Gitarrist Johnny Greenwood nennt das Instrument sein Eigen, und auch Daft Punk nutzen die außergewöhnlichen Klänge des Ondes Martenot gern für ihre Aufnahmen.
Haufenweise Instrumente aus aller Welt lagerten in den Museumssammlungen
Unter den Exoten wiederum ist das Ondes Martenot immerhin schon eines der besser bekannten Instrumente. Wie musste es da erst um die Musikgeräte bestellt gewesen sein, die der Künstler Tarek Atoui vor einigen Jahren im Berliner Museen Dahlem aufgetan hatte? Haufenweise Instrumente aus aller Welt lagerten in den Museumssammlungen, kein einziges war dem Soundkünstler zuvor bekannt. Und kein einziges kam mit einer Anleitung zur Bespielung daher – ein paar kurze Stichpunkte mussten als Anhaltspunkt genügen. Atoui lud mehrere Musiker zur Probe ein und zeichnete die Sessions auf. In einem zweiten Schritt spielte er diese Aufnahmen dann Instrumentenmachern vor, auf dass sie Geräte bauen mögen, die ebensolche Musik ermöglichten – man kennt das Prinzip aus dem Reverse Engineering, also der Konstruktion von Gerätschaften und Maschinen nach bereits bestehenden Vorbildern.
Anschließend brachte Atoui jene neu gebauten Instrumente unter dem Titel „The Reverse Collection“ selbst auf die Bühne. Wie das Koto, eine Konstruktion aus gebündelten Orgelpfeifen, die über Kupferkabel mit einem Luftkompressor verbunden sind und dessen Spiel man zum Beispiel 2016 bei den „Reverse Collection Sessions“ in der Londoner Tate Modern lauschen konnte.
Straff gespanntes Trommelfell mit schillernden Murmeln und abgegriffene Flummis
Eine ähnliche Form der experimentellen Instrumentenerforschung sind auch die rätselhaft anmutenden Vorrichtungen, die aktuell in der SCHIRN präsentiert werden: Straff gespanntes Trommelfell, auf dem zum Beispiel schillernde Murmeln und abgegriffene Flummis auf ihren noch unbestimmten Einsatz warten. Sie sind zunächst nur Anschauungsobjekt, das im Spiel zum Leben erweckt wird. Einige dieser Instrumente stammen aus Tarek Atouis Zusammenarbeit mit der Al Amal School for Deaf Students, wo der Künstler 2012 erstmals gehörlosen und schwerhörigen Studierenden begegnete und mit ihnen die Möglichkeiten der Klangerzeugung auslotete.
Wie üblich für Atoui, arbeitete er abermals mit Experten ihres Fachs, mit Komponisten oder Instrumentenbauern zusammen – oder, wie hier, mit dem Designer Thierry Madiot. Im Spiel der so entstandenen Instrumente und in den Aufführungen werden unweigerlich Fragen aufgeworfen, die Künstler und Publikum gleichermaßen antreiben dürften: Gibt es eine universale Rezeption von Musik und Sound, die über die individuelle Wahrnehmung hinausgeht? Und wenn ja, wo wäre sie zu finden – in den tiefen Bassfrequenzen, zum Beispiel, die der Zuschauer mindestens ebenso stark fühlen wie hören kann?
Neben solch haptischen Erlebnissen bieten Tarek Atouis Arbeiten aber auch ganz simple visuelle Qualitäten, die dann von Hörenden wie Gehörlosen gleichermaßen empfunden werden können: Ähnlich wie das sagenumwobene Ondes Martenot, entwickeln auch jene Iteration(s) on Drums mit ihren bunt schillernden Auflagen wie aus dem Kinderzimmer-Kosmos die Anziehungskraft fantastischer Ausdenk-Instrumente – umso mehr, wenn man darum weiß, dass sie tatsächlich bespielt werden können.
Seit 2012 ist der Künstler so permanent auf Mission, die Klangwahrnehmung mal um individuellste Empfindungen zu erweitern, mal auf einen vielleicht allen Menschen, Hörenden wie Gehörlosen, gemeinsamen Nenner zu bringen. 1980 im libanesischen Beirut geboren, zieht Tarek Atoui mit 18 Jahren nach Frankreich, um dort am Konservatorium in Reims Zeitgenössische und Elektronische Musik zu studieren. Zehn Jahre später wird er Co-Direktor der STEIM Studios, eine Amsterdamer Institution für Elektro-Instrumentale Musik. Zwischendurch nimmt Atoui eigene Platten auf und konzipiert Software-Tools, die sowohl als Rohmaterial für eigene Kompositionen genutzt werden wie auch als Instrument musikalischer Bildung. Er sei wohl ein Musiker, meinte Tarek Atoui einmal im Interview mit dem „Ibraaz“-Magazin, aber richtig glücklich scheint er nicht mit dieser Selbstcharakterisierung.
Und Teil einer Musikercommunity, meint Atoui an selber Stelle, sei er ebenso wenig. Das dürfte auch seiner gleichberechtigten Auffassung von Autorenschaft geschuldet sein – oder vielmehr seiner Ablehnung eines klassischen Werk- und Autorenverständnisses. Damit steht er natürlich ganz im Geiste seiner Zeit, in der auch schon Tiere als gleichberechtigte Verfasser von Malereien und Fotografien ausgegeben werden und das Künstler- oder Kuratorenkollektiv eine zunehmend beliebte Form der Arbeitsgestaltung darstellt. Doch wo kein einzelner Autor, da gerät auch die Grenzziehung des Kunstwerks manchmal schwierig: Die konstruierten Instrumente sind eben erst einmal nur außergewöhnliche Instrumente, die Tonaufzeichnungen lediglich Dokumentation ihrer Bespielung.
Sound durchdringt als physikalische Urgewalt die gesamte Materie
Was Tarek Atouis Arbeit durchzieht ist wohl, offenkundig, weniger das Interesse am klassischen Musikmachen oder am Schreiben von Songstrukturen denn am Sound höchst selbst, der als physikalische Urgewalt die gesamte Materie durchdringt. Gern spricht Atoui von der Resonanz, die der Ton in seiner Umgebung auslöst – und auch das ist ganz grundlegend gemeint: Die Vibration des Tons, erklärte er im Video zur Tate-Aufführung, durchdringe Wasser, Holz, alle Materialien. Eine ganz besondere Form der Resonanz, möchte man ergänzen, hält hier wohl der menschliche Körper bereit, wo Töne und Klänge neben diversen physischen auch das gesamte Spektrum emotionaler Reaktionen auszulösen vermögen.