Wie klang Berlin vor 100 Jahren? Und was macht den Sound von Vancouver so besonders? Zur erstaunlich jungen Geschichte der Soundscapes.
Eine der ersten fotografisch festgehaltenen Straßenszenen ist beinahe zwei Jahrhunderte alt: Dank der Daguerreotypie wissen wir heute ganz genau, wie es 1838 oder 1839 auf dem Pariser Boulevard du Temple im 3. Arrondissement in seiner mit Bäumen gesäumten Allee aussah. Auch die 1920er Jahre in Berlin, die Ruinen von Delhi um 1910, die Jahrhundertwende auf der überfüllten Mulberry Street in New York City – allesamt gut fotografisch und teils sogar im bewegten Bild festgehalten und dokumentiert.
Die ersten Tonaufnahmen einer Stadt? Die sind hingegen gerade mal wenige Jahrzehnte alt. In „The Atlantic“ machte sich Alexis C. Madrigal 2010 auf die Suche nach dem ersten Soundscape, also der ersten Aufnahme einer akustischen Umwelt, die den Menschen umgibt. Er fand (zunächst) keine. Und der schreiende Zeitungsjunge, den man aus Filmen als typisch für die Zeit um die 1910er und 1920er Jahre in den Metropolen der westlichen Hemisphäre empfinden könnte, er war letztlich auch nur eine Inszenierung aus dem Studio.
Wie klang um die Jahrhundertwende New York oder Paris?
Dass ein auditives Kollektivgedächtnis bis in die neueste Geschichtsschreibung nicht denkbar war, hat vor Allem mit den technischen Schwierigkeiten der Tonaufnahme zu tun. Thomas Edisons Phonograph, der 1877 regelrechte Begeisterungsstürme auslöste, verursachte selbst so starke Vibrationen, dass die hieraus entstandenen Aufnahmen vergleichsweise leise waren. Nur sehr starke Tonsignale konnten hiermit überhaupt aufgezeichnet werden. Auch diverse Nachfolgegeräte waren eher für die Aufnahme im Tonstudio als in der freien Wildbahn der Städte und Trottoirs gemacht. Tatsächlich kann niemand sicher wissen, wie es um die Jahrhundertwende in der New Yorker Mulberry Street klang oder 1838 auf dem Pariser Boulevard du Temple. Das, was aus den Zeiten der frühen Tontechnik an Klanglandschaften übrigbleibt, sind demnach vor allem inszenierte Soundschnipsel.
Dies änderte sich erst grundlegend Anfang der 1970er Jahre, als der kanadische Avantgarde-Komponist, Musiktheoretiker und Professor R. Murray Schafer mit einer Gruppe Studierender der Simon Fraser University in Vancouver sein „World Soundscape Project“ (WSP) ins Leben rief. Dabei war das systematische Aufnehmen und Katalogisieren solch akustischer Landschaften ursprünglich nur Nebenprodukt eines ganz anderen Vorhabens: Schafer, einer der Vorreiter der sogenannten Sound Ecology, störte sich an dem, was er als zunehmende „Geräusch-Verschmutzung“ des städtischen Lebensraums empfand. Das Dröhnen, Summen und Rauschen bildet die Soundkulisse des modernen Alltags. Mit seinem eigenen Uni-Seminar wollte Schafer ein Bewusstsein für jenes Phänomen schaffen, von dem doch Jeder betroffen wäre.
Eine solche Aufzeichnung hatte es bis dato ja noch gar nicht gegeben
Neben der akustischen Überlagerung unseres Alltagslebens beschäftigten Schafer und seine Studierenden der ganz allgemeine Wandel jener Hörlandschaften. Oder umgekehrt: Wie sich der Wandel unserer Lebensräume anhört. Und damit wieder zurück zum Ausgangspunkt, denn: Eine solche systematische Aufzeichnung und Archivierung hatte es bis dato ja noch gar nicht gegeben. Zunächst begann die Gruppe, ihr näheres Umfeld einzufangen, wie Feldforscher mit Mikrofon und Aufnahmegeräten. Auf „The Vancouver Soundscape“ folgte 1973 „The Soundscapes of Canada“, für die Bruce Davis and Peter Huse das gesamte Land bereisten und dessen Ergebnisse später unter demselben Titel als Radioreihe für den Sender CBC ausgestrahlt wurden.
Dabei ging es den Soundforschern von Anfang an nicht um eine willkürlich-subjektive Zusammenstellung, sondern um eine möglichst kategorische Erfassung akustischer Umgebungen, erfasst und erfahrbar in Kriterien wie Rhythmus & Tempo, Sprache, Gesten und Texturen oder der Wandel des sich verändernden Soundscapes. Die wachsende Aufmerksamkeit und Unterstützung ermöglichte immer ausgedehntere Recording-Reisen: 1975 ging Schafer schließlich mit einer Studentengruppe nach Europa, um hier die großen Metropolen akustisch einzufangen. In Vorträgen vor Ort wurde die Idee eines weltweiten Soundscape-Projekts vorgestellt und schnell zum Vorbild für andere. Dabei standen nicht nur die Großstädte im Fokus: In Schweden, Deutschland, Italien, Frankreich und Schottland nahmen sich die Kanadier jeweils ein Dorf vor, darunter das bayerische Bissingen, in dem die Akustikforscher das rhythmische Hämmern der Schmiede einfingen.
Dank Smartphone für immer mehr Menschen verfügbar
Den ultimativen End- und Höhepunkt von Schafers Arbeit markierte 1977 „The Tuning of the World“, ein dem Titel entsprechend global angelegtes Soundscape-Unterfangen, während sein Kollege Barry Truax ein Jahr später mit dem „Handbook for Acoustic Ecology“ das erste Standardwerk zum Thema vorlegte. Zumindest in den letzten zehn Jahren kann von einem Mangel akustischer Dokumente keine Rede mehr sein: Analog zur Bild- wird auch die Tonaufnahme dank Smartphone immer leichter in durchaus ansprechender Qualität für immer mehr Menschen verfügbar. Vancouver bleibt ein wichtiger Nabel der Sound-Ökologie und Akustik-Erforschung, doch längst werden die Methoden und Ansätze, die einst von hier ausgingen, in der ganzen Welt praktiziert.
Heute kann man sich ein viertelstündiges Soundscape der Frankfurter Hafenbahn anhören oder einen Regentag im chinesischen Xianmen; man kann ganze Metropolen akustisch kartografiert vom Sofa aus erforschen oder einen Soundwalk auf dem New Yorker Times Square nachvollziehen. Auch im künstlerischen Kontext werden Soundscapes und Soundwalks in Installationen integriert oder als eigene Arbeit ausgestellt.
Eine kategorische Erfassung des akustischen Status quo liegt allerdings immer noch in weiter Ferne, denn mit zunehmender Anzahl an Dokumenten, die irgendwo zwischen Youtube, privaten Blogs und den Archiven der Uni-Bibliotheken hinterlegt sind, wird es zunehmend unübersichtlich. Aber sollte jemand eines Tages das Mammutprojekt einer weltweiten Auswertung in Angriff nehmen, um zu erfassen, wie sich die akustische Welt im Abstand von Monaten, Jahren und Jahrzehnten in den jeweiligen Flecken dieser Erde verändert, so wäre heute zumindest reichlich Material dafür vorhanden.