Zeitgenössische Kunst hat ihren eigenen Sound. Für diese Ausstellung verwandeln internationale Künstlerinnen und Künstler die SCHIRN in einen Konzertsaal.
Sound ist ein zentraler Bestandteil der zeitgenössischen Kunst. Dennoch stehen Musikinstrumente, die gleichsam Skulpturen sind, für eine noch relativ unbekannte, junge Entwicklung in der Gegenwartskunst. Vom 19. Juni bis zum 8. September 2019 präsentiert die Schirn in der international besetzten Gruppenausstellung „Big Orchestra“ künstlerische Arbeiten, denen gleichzeitig die Funktion von Musikinstrumenten innewohnt. Zu sehen sind Werke von 16 Künstlerinnen und Künstlern. Das Spiel auf den skulpturalen Instrumenten steht im Mittelpunkt der in ständiger Veränderung begriffenen Ausstellung.
Während der Laufzeit wird die Schirn zu einem Konzertsaal, in dem die Arbeiten aktiviert und zum Klingen gebracht werden. Für die Besucherinnen und Besucher wird der Sound der Kunstwerke live erlebbar. Eine mobile Display-Architektur schafft Raum, um den Klang der Instrumente in immer neu zusammengestellten Ensembles von Musikerinnen und Musikern live in der Ausstellung zu erforschen und anschließend in Konzerten zu präsentieren. Die eigens für die Ausstellung geschriebene Komposition „Music for Exhibitions“ von Orm Finnendahl vereint alle Werke ausgehend von Samples in einer algorithmisch strukturierten Partitur, die zwischen den Workshops und Konzerten zu hören ist.
Die künstlerischen Arbeiten werden als hybride Objekte verstanden
Ausgangspunkt des Ausstellungskonzepts ist der erweiterte Kunst- und Musikbegriff der Fluxusbewegung der 1960er-Jahre. Die Schirn zeigt die Produktion von Sound in ihrer Gesamtheit, das Hörbare und das Sichtbare stehen auf einer Stufe. Die künstlerischen Arbeiten werden als hybride Objekte verstanden. Sie sind visuelle Skulpturen wie auch Musikinstrumente, ihre Aktivierung körperliche Performance.
Ein Motiv in zahlreichen Arbeiten ist das Musikmachen als kommunikativer, sozialer Austausch, der dort anknüpfen kann, wo andere Formen der Sprache versagen. Wie etwa der „Onyx Music Table“ des Multimediakünstlers Doug Aitken. Hier ist die Platte eines Tisches durch ein Mosaik ersetzt, das mit Schlägeln wie ein Lithophon bespielt werden kann. Die Klangskulptur lädt zur musikalischen Erweiterung des Tischgesprächs ein. Nevin Aladağ greift die Idee und Form des historischen Musikzimmers auf, in dem sich Menschen zum Musizieren treffen. Mit einfachsten Mitteln schafft Rie Nakajima aus Gegenständen des täglichen Gebrauchs unvorhersehbare, kinetische Klangwerke.
Die performative Seite des Musikmachens rückt in den Vordergrund
Die traditionelle Auffassung der Trennung von Instrument, Partitur und Aufführung wird wiederholt auf den Prüfstand gestellt und neu gedacht. Dabei rückt die performative Seite des Musikmachens in den Vordergrund. So basiert die Arbeit von Christian Marclay auf einer Kollektion aus gefundenen Kleidungsstücken, auf denen Noten aufgedruckt sind. Sie erklingt als Zusammenspiel von Performern, die diese Kleidungstücke anziehen, und Musikern, die die Noten von ihren Körpern ablesen und interpretieren. Das Künstlerpaar Allora & Calzadilla hingegen experimentiert in zahlreichen Arbeiten mit Sound und Musik und fusioniert kulturelle, historische und geopolitische Fragen.
Ein weiteres Thema ist das Experimentieren mit anderen Formen des Spielens und der Rezeption von Musik. Für das Projekt „WITHIN“ hat Tarek Atoui zusammen mit gehörlosen und höreingeschränkten Menschen Musikinstrumente entwickelt, die so konzipiert sind, dass alle den Klang verstehen und auf den Werken musizieren können. Der Künstler und Musiker Cevdet Erek beschäftigt sich mit der Nachahmung von Naturphänomenen durch künstlerische Mittel. Seine mit dem Nam June Paik-Award ausgezeichnete Arbeit ist ein Teppich, auf dem die Besucherinnen und Besucher mit der Berührung ihrer Hände die Anmutung eines Meeresrauschens erzeugen können.
Die Verhandlung von kultureller Identität und gesellschaftspolitischen Konflikten spielt in mehreren Arbeiten eine zentrale Rolle. David Zink Yi etwa beschäftigt sich intensiv mit der Komplexität und Geschichte der kubanischen Musik, die afrikanische Einflüsse mit Elementen des Jazz kombiniert. Die Arbeit von Carlos Amorales entstand für den mexikanischen Länderpavillon auf der 57. Biennale von Venedig 2017 und thematisiert Migration und Sprache. In zahlreichen Papierarbeiten und Flöten aus Keramik entwirft der Künstler ein abstraktes Alphabet.
Guillermo Galindo zeigt eine Skulptur, die aus Überresten eines Grenzzauns gefertigt ist. Sie entstand im Zuge eines Gemeinschaftsprojekts, bei dem an der Grenze zwischen Mexiko und den USA weggeworfene Gegenstände gesammelt wurden, um daraus Instrumente zu bauen. Naama Tsabar spielt in ihrer Serie „Work On Felt“ mit geschlechtsnormativen Rollen und den Stereotypen weiblich bzw. männlich konnotierter Kunst. Großformatige, monochrome Filzmatten, die in ihrem Formalismus an die Minimal Art der 1960er-Jahre erinnern, werden mit einer Klaviersaite unter Spannung gesetzt. Weitere Arbeiten der Ausstellung stellen Improvisation, Spontanität und Zufall in den Vordergrund.
Carsten Nicolai trägt seit den 1990er-Jahren ein umfassendes Soundarchiv elektronischer Klänge zusammen. Mit „bausatz noto ∞ (color version)“ macht er dieses auf Schallplatten gepresst verfügbar. Vier Turntables und Kopfhörer laden dazu ein, die Soundloops der Vinylplatten in immer neuen Variationen zusammenzufügen. Die ungewöhnlichen Instrumente des Projekts KlangMøbil konzipierte Hans van Koolwijk gemeinsam mit einem internationalen Team aus Musikern und Komponisten in experimentellen Workshops. Davon ausgehend, dass das Musikmachen sich je nach Raum und Situation verändert, vereinen die Instrumente mehrere Angebote der Nutzung.