Musik war ihre erste Liebe, das ist bei Naama Tsabars Kunst deutlich spürbar. Und New York die zweite. Wir haben sie in ihrem Studio in Brooklyn besucht und ihre eleganten Skulpturen zum Leben erweckt.
Es ist ein grauer und regnerischer Nachmittag im April, als ich in Greenpoint, einem Stadtteil von Brooklyn, ankomme, um die Bildhauerin und Performancekünstlerin Naama Tsabar in ihrem Studio zu besuchen. Die Gegend ist industriell geprägt, mit riesigen Backsteinbauten und verlassenen Bürgersteigen, und niemand in Sicht, den ich nach dem Weg fragen könnte. Nach Williamsburg und Bushwick gehört Greenpoint zu den begehrtesten Brooklyner Vierteln unter Künstlerinnen und Künstlern, wegen seiner alten Fabrikgebäude mit weiten, freien Innenräumen, die für Ateliers ideal sind.
Ich habe Mühe, den Eingang zu finden, bleibe schließlich an einer Straßenecke stehen und rufe die Künstlerin an. Nach dem zweiten Klingelton hebt sie ab. „Gehen Sie noch etwas die Straße runter, dann sehen Sie mich schon.“ Nur Augenblicke später öffnet sich eine unmarkierte schwarze Metalltür und Naama Tsabar tritt heraus. Sie ist in dem für die New Yorker Kunstszene allgegenwärtigen und trotzdem stylishen Schwarz gekleidet. Mit einem freundlichen Lächeln bittet sie mich herein.
Kaum in New York, schon war sie im renommierten Guggenheim zu sehen
Ich folge ihr einen langen schmalen Gang entlang, zwei Treppenläufe hinauf und in eine Holzwerkstatt (Tsabar teilt sich die Atelierfläche mit fünf weiteren Künstlerinnen und Künstlern) und dann in ihr Studio, bestehend aus zwei Räumen: Der erste dient zum Erproben von Werken – zwei große Filzarbeiten hängen dort an der Wand – der zweite ist ein Lager- und Bürobereich. Dort sammeln sich ausgeschlachtete Verstärker, Schutzbrillen, Kabel, Farbdosen, allerlei Werkzeug, ein Fahrradhelm und aufgerollte Filzstücke, alles ordentlich verstaut in Boxen, die mit selbstgemachten, blauen Etiketten aus Klebeband beschriftet sind. In der hellen Neonbeleuchtung wirken die blendend weißen Wände der Räume fast kreideartig, interessanterweise aber nicht kalt.
Naama Tsabar wurde 1982 in Tel Aviv geboren. Nach einem Bachelorstudium an der Faculty of Arts - HaMidrasha in Israel fasste sie schließlich den Entschluss, in die Vereinigten Staaten zu gehen, um ihren Master of Fine Arts an der Columbia University zu machen. „Ich kam 2008 nach New York. Das war ungefähr vier Jahre, nachdem ich die Akademie verlassen hatte. Ich hatte bis dahin ein bisschen in Europa ausgestellt und in Israel, wollte mich weiterentwickeln.“
Nach ihrem Master entschied sie sich, zu bleiben. „Für mich ist New York eine Droge, man will es, man will es nicht, aber man muss es einfach haben. Es ist so intensiv hier, so ...“ Sie holt tief Luft. „Wissen Sie, als ich in Israel war, da war der Sprung nach New York und all das in Wirklichkeit zu sehen, wovon ich gehört hatte, so unglaublich, da konnte ich einfach nicht zurück und nur in Büchern blättern.“ Seitdem hat sie international ausgestellt und ihre Performances wurden unter anderem im Palais de Tokyo in Paris, im Kunsthaus Baselland in der Schweiz und im renommierten New Yorker Guggenheim Museum präsentiert. Naama Tsabars Arbeit bewegt sich zumeist an der Schnittstelle von Kunst und Musik: Sie gestaltet skulpturale Werke, die ebenso als Musikinstrumente fungieren können. Von zerbrochenen Gitarren, durch Saiten neu miteinander verbunden, über große, mittels Klaviersaiten in Form gebrachte Filzmatten bis hin zu Verstärkern, die zerlegt und auf Leinwand neu zusammengesetzt wurden, bereit, Klang in den Raum zu tragen (einige von ihnen summen sogar).
Für mich ist New York eine Droge, man will es, man will es nicht, aber man muss es einfach haben.
„Als Kind habe ich klassisches Klavier und Jazzpiano gespielt, und als Jugendliche begann ich dann, Gitarre zu spielen; während all der Jahre in Tel Aviv war ich in einer Band. Von meinen Auftritten kenne ich diese sehr körperliche Erfahrung, was es heißt, auf der Bühne zu sein, vor einem Publikum zu stehen. Ich sage immer, Musik war meine erste Liebe, die erste Art, kreativ zu sein, die mich bewegt, mich an andere Orte gebracht hat.“ Der Großteil von Tsabars Werken führt eine Art Doppelleben.
Das ist beängstigend, nervenaufreibend und sehr befriedigend – wenn es gut ist.
Sie entstehen als elegante, minimale Skulpturen im Atelier, können aber im Ausstellungsraum klanglich aktiviert oder durch eine speziell für die Ausstellung neu konzipierte Performance zum Leben erweckt werden. „Ich hab‘ das Gefühl, dass ich sowohl die Kontrolle im Studio habe als auch den Moment des Loslassens im realen Raum habe. Das ist beängstigend, nervenaufreibend und sehr befriedigend – wenn es gut ist.“
Jede Performance wird von Grund auf neu erarbeitet
„In den ersten zwei, drei Tagen dreht sich alles um Spiel und Improvisation. Die Musikerinnen befinden sich im Raum, und ich gebe ihnen Übungen vor, um sie durch die verschiedenen Abläufe und Bewegungen zu führen, die verschiedenen im Werk angelegten Möglichkeiten, und all das filme ich. Danach gehe ich den gesamten Filmmitschnitt durch und suche das heraus, was gelungen ist. Dieses Material sichten wir dann und beginnen, die Teile zusammenzusetzen. Das geschieht sehr strukturiert, alle wissen ja, was in den einzelnen Partien zu tun ist, und trotzdem kann mal eine Saite reißen, eine Note verstimmt sein. Das ist nicht so festgeschrieben wie bei einem regulären Instrument.“ Darüber hinaus wird jede Performance mit lokalen Musikerinnen aufgeführt, denen Tsabar in den meisten Fällen zuvor nie begegnet ist. „Wir müssen viel Vertrauen ineinander und in den Prozess haben. Das ist es auch, was es so magisch macht. Und wenn es funktioniert, dann wird man in andere Sphären enthoben.“
Und noch etwas anderes hebt Naama Tsabar aus der Kunstszene heraus. Sie traf die sehr bewusste Entscheidung, ausschließlich mit weiblichen, sich als Frau definierenden oder nicht genderkonformen Musizierenden zu arbeiten. „Es gibt so viele hervorragende Musiker, die meisten davon Frauen.“ Sie lacht. „Oft werden sie aber wegen ihres Geschlechts übergangen. Dass ich mich für die Zusammenarbeit nur mit Frauen und nicht genderkonformen Menschen entschieden habe, hindert mich nicht daran, an ganz grandiose Musiker zu kommen, aber gleichzeitig ist es ein starkes politisches Statement, hinter dem ich hundertprozentig stehe, weil ich Feministin bin, was wir alle sein sollten. Ich finde, in der kreativen wie in der nicht kreativen [Welt] besteht eine Ungleichheit, die Frauen diskriminiert, eigentlich jeden, der nicht weiß und männlich ist.“
Sie richtet sich auf ihrem Stuhl auf und stellt die Füße fest auf den Boden. „Diese Schemata müssen sich ändern, wenn wir aber nicht bewusst kleine Schritte unternehmen, ändert sich nie was. Und das ist eben meine Art, solche Schritte zu tun. Ich möchte denen einen Raum und eine Bühne geben, die nicht immer die Chance dazu bekommen, obwohl sie die Fähigkeiten haben.“ In der Ausstellung BIG ORCHESTRA zeigt Tsabar eines ihrer Werke aus der Serie „Work on felt“: große, monochrome Filzmatten in Verbindung mit je einer Klaviersaite, die mittels eines Bogens, Drumsticks oder einfach mit den bloßen Händen gespielt werden können.
„Das alles begann zunächst als eine Art Übung. Eine Organisation, die israelische Kunst im Ausland fördert, bat mich um eine Arbeit auf Papier. Ich habe zwar Entwurfsskizzen, arbeite aber eigentlich nicht auf Papier, ich bin hauptsächlich Bildhauerin. Auf der Kunstschule, wenn man da an Papier und Zeichnung denkt, denkt man zuerst an die ‚Linie‘, oder? An die Bedeutung, die ihr im formalen Bereich der Kunst zukommt. Ich wollte zurück zu dieser Linie, aber gleichzeitig über ihr Verhältnis zum Papier nachdenken, wie die Linie das Papier verändern kann. So überlegte ich mir diese Technik, bei der ich ein anderes Material ins Papier einbette, ohne dessen Aussehen zu verändern. Und in Kombination mit einer Gitarrensaite entstand ein kleinformatiges Werk: durch eine einzige Linie, die ich zog, bekam das Papier eine skulpturale Form. Als das funktionierte, und als, wenn man die Saite zupfte, ein Ton dabei herauskam, hat mich das einfach umgehauen. […] Anschließend habe ich mich intensiver mit der Bedeutung von Sound in der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts befasst, und da war Filz ein nahe liegender Werkstoff für mich. Man denke nur an [Joseph] Beuys und an seine Verwendung von Filz als etwas Schützendes, Absorbierendes, als Wärmequelle. Filz ist ein so kraftvolles Material, er findet sich aber auch in Instrumenten – in Klavieren etwa oder in Trommeln. Es hat einfach ‚klick‘ gemacht.“
Der letzte Schritt ist das Zupfen auf der Saite
Als ich nach den praktischen Aspekten ihrer Arbeit frage, scheint sich Tsabar aufrichtig über mein Interesse zu freuen. Ihre Gesten sind selbstbewusst und resolut, machen deutlich, dass sie sich ihrer künstlerischen Praxis absolut sicher ist. „Bei den ‚Works on felt‘ integriere ich Carbonfasern – daraus entstehen diese superleichten Fahrräder und Flugzeugteile – in den Filz. Durch das Einbetten dieses Materials kann ich den visuellen Aspekt des Filzes beibehalten. Es sieht immer noch aus wie Filz, verhält sich aber anders, ist in gewisser Hinsicht also eine optische Lüge.“
Filz ist ein so kraftvolles Material, er findet sich aber auch in Instrumenten – in Klavieren etwa oder in Trommeln. Es hat einfach ‚klick‘ gemacht.
Aber der gesamte Prozess der Anfertigung eines Werkes aus Filz hat seinen Ausgang, erneut, beim Papier. „Ich erstelle zuerst eine Art Miniatur, nur aus dickem Papier und Faden. Daraus erarbeite ich die Form, spiele herum, bis die richtige Form gefunden ist, und bilde sie in Carbonfaser-Filz nach. Der letzte Schritt ist dann das Zupfen der Saite, um zu sehen, welche Art von Note entsteht, und mit der müssen wir dann arbeiten. Ausgehend von der Form, gelangen wir so zum Klang. Die Funktion, die Note, folgt der Form, nicht umgekehrt. Das ist genau entgegengesetzt zur Vorgehensweise beim traditionellen Instrumentenbau.“
Wie wichtig ist es denn dann, dass die Werke gespielt werden? Müssen sie gespielt werden, um sie gänzlich erfahrbar zu machen? Naama Tsabar schüttelt energisch den Kopf.
„Nein. Auch das Nicht-Spielen ist für mich eine Entscheidung. Die Werke sind jederzeit spielbereit, sind immer mit einem Verstärker verbunden, sodass jeder kommen und an der Saite zupfen kann. Trotzdem möchte ich nicht, dass ein Schild mit der Aufschrift ‚Bitte berühren‘ aufgestellt wird. Unter anderem geht es ja auch um die Grenzen, auf deren Einhaltung uns der Ausstellungsbetrieb konditioniert. Und überschreitet man hier die Grenze, kriegt man keinen Klaps auf die Finger, sondern wird mit Klang belohnt und damit, dass das Werk auf einen reagiert. In diesem Moment verlagert sich auch die Perspektive und die Betrachter werden zu Performern. […] Also brauchen die Werke nicht gespielt zu werden, aber werden sie es doch, dann expandieren sie dadurch. Durch das Spielen treten sie ein in die Welt des Instrumentalen, ansonsten verharren sie in der des Skulpturalen. Das eine ist weder besser noch schlechter als das andere.“
Und überschreitet man hier die Grenze, kriegt man keinen Klaps auf die Finger, sondern wird mit Klang belohnt und damit, dass das Werk auf einen reagiert.
Ein paar Tage später bin ich zu einer von Naama Tsabars Performances in der Kasmin Gallery in Chelsea eingeladen. Um Punkt 18 Uhr treten die Musikerinnen hochkonzentriert durch die Hintertür der Galerie und nehmen ihre Position neben den „Melodies of Certain Damage“ ein, einem neuen Projekt, bestehend aus zerschlagenen und zu neuen Formen verbundenen Gitarrenteilen. Die Musikerinnen sind ganz in Schwarz gekleidet, einige von ihnen in durchscheinendem Stoff, was dem Ambiente etwas Intimes, fast Privates verleiht. Einen Moment lang geschieht nichts, dann sind die ersten Töne, mehr Geräusch als Musik, zu hören.
Den Applaus warten die Performerinnen gar nicht erst ab
Ein Kratzen und Klopfen und Zupfen an den Saiten, dass sich allmählich zu einem gemeinsamen Rhythmus, einem orchestrierten Ganzen fügt. Die Leute beginnen zu lächeln, Köpfe nicken, und ich kann den Bass im Bauch fühlen. Die Instrumente werden mit Fingern, Bögen und Flaschen bearbeitet, um ein einzigartiges Klangerlebnis zu erschaffen, das seinen Höhepunkt in einem wilden, ekstatischen Crescendo mit entfesseltem Headbanging und fliegenden Haaren findet. Als der Sturm vorüber ist, verlässt die heterogene Gruppe von Musikerinnen den Raum ebenso ruhig, wie sie ihn betreten hat. Den Applaus warten sie gar nicht erst ab, fast so, als wäre das Spielen Belohnung genug.