Ein zerlegter Konzertflügel, dazu fliegende Eier und Musik aus Popcorn und Papierschmetterlingen. 1962 entsteht die folgenreiche Fluxus-Bewegung in Wiesbaden, die bis heute welt­weit Aufmerk­sam­keit generiert.

Im September 1962 finden im Museum Wiesbaden die „Fluxus Internationalen Festspiele Neuester Musik“ statt. Die 14 Konzerte werden an vier Wochenenden aufgeführt und markieren damit den Beginn der Fluxus-Bewegung. Während Darmstadt und Köln in den 1960er Jahren bereits Hochburgen der Neuen Musik sind, ist es vor allem den US-amerikanischen Militärbasen in Darmstadt und Wiesbaden-Erbenheim zuzuschreiben, dass die Initialzündung von FLUXUS als historischer Moment der jüngeren Kunstgeschichte ausgerechnet in Wiesbadens Städtischem Museum stattfindet. 

Denn die amerikanischen Organisatoren und Akteure finanzieren sich überwiegend durch kreative Jobs bei den Streitkräften. Erste musikalische Performances keimen zu der Zeit bereits an verschiedenen Orten in den USA, Europa und Japan auf, die sich durch spielerischen Ernst und Minimalismus auszeichnen. Zeitgleich flieht der an der privaten Kunsthochschule Cooper Union ausgebildete Grafiker und Galerist George Maciunas vor seinen Gläubigern aus New York mit einem Militärtransport nach Deutschland. Der Exil-Litauer ernennt sich selbst zum Kapitän und Zeremonienmeister des Schiffs und steuert fortan unter dem Begriff FLUXUS alles, was eigentlich nicht plan- und schon gar nicht steuerbar ist.

Harm­los als Konzerte ange­kün­digt, entwi­ckeln sich die Fest­spiele zu einem Skan­dal

Die neu begründete Kunstrichtung beginnt also fließend (das lateinische Adjektiv fluxus bedeutet „fließend, unsicher, wandelbar“). Maciunas ist sich der medizinischen Bedeutung des Begriffs FLUXUS, nämlich der so genannten flüssigen, oft exzessiven Entladung der Gedärme oder anderer Körperteile bewusst, als er in seiner New Yorker Galerie Yoko Ono – anlässlich ihrer ersten Ausstellung – FLUXUS als Titel für sein geplantes, allerdings nie erschienenes Kunstmagazin nennt. Möglicherweise denkt er auch an Hans Arps Definition der dadaistischen Antikunst, die „unmittelbar den Gedärmen des Dichters“ entspringt. 

George Maciunas, Fluxus Manifest, 1963, Image via WikiCommons

Während bei Dada gefundene Objekte für Collagen und Assemblagen als „Objets trouvés“ zur Kunst werden, sind es bei FLUXUS Alltagshandlungen, Gesten und gefundene Töne: „Événements trouvés“. John Cage eröffnet derweil mit seiner musikalischen Maxime „Everything we do is music“ den theoretischen Hintergrund für dieses Phänomen, das sich in den Anfängen der 1960er Jahre in der bildenden Kunst entwickelt. Noch ist der Begriff der Performance innerhalb der Kunst nicht im Gebrauch, doch gehen den Wiesbadener „Fluxus Internationalen Festspiele Neuester Musik“ bereits einige „Konzerte“ voraus. 

Yoko Ono, Sky Piece to Jesus Christ, performed by Yoko Ono, Carnegie Recital Hall, New York, 1965 Photo by Peter Moore © Estate of Peter Moore/Licensed by VAGA, NY

So finden in Deutschland die ersten „Prä-Fluxus“-Veranstaltungen 1960/61 im Kölner Studio bei der Partnerin des Komponisten Karl-Heinz Stockhausen, der Künstlerin Mary Bauermeister, statt. Während Stockhausen durch die „Internationalen Ferienkurse für Neue Musik“ in Darmstadt geprägt ist, sind die Abende im Atelier von Mary Bauermeister als paralleles Gegenfestival zu dem der „Internationalen Gesellschaft für Neue Musik“ (IGNM) angelegt.

Diese Konzerte werden zum Treffpunkt der internationalen Avantgarde und ein Netzwerk entspinnt sich, das die Basis für FLUXUS in Wiesbaden und die weiteren Feste dieser neu entstandenen Szene werden soll. Harmlos als Konzerte angekündigt, entwickeln sich die Festspiele im beschaulichen Wiesbaden zu einem Skandal. Im Gegensatz zu den bis heute noch jährlich wiederholten kaiserlichen „Mai Festspielen“ wird im September 1962 mit allem gebrochen, was bis dahin im bürgerlich gesättigten Kunst- und Politikbetrieb nach dem Zweiten Weltkrieg je erlebt wurde.

 

Ben Patterson spielt Solo for Double Bass, Wuppertal, Deutschland, 1962. Foto: Rolf Jährling, Image via www.documenta14.de

Die „Fluxus Festspiele Neuester Musik“ gelten international als die Geburtsstunde von FLUXUS: Nam June Paik taucht seinen Kopf samt Haaren anstelle eines Pinsels in einen Eimer Tinte, um damit einen meditativen Strich auf Papier zu ziehen, Dick Higgins lässt sich den Kopf von seiner Frau Alison Knowles rasieren, Eier fliegen sanft ins Publikum, das mit Papierfliegern antwortet, Emmett Williams spielt seine Oper, bei der er 45 Minuten rhythmisch auf eine Bratpfanne einschlägt, Wasser tropft und Ben Patterson, ausgebildeter Kontrabassist, entlockt seinem Streichinstrument unter anderem mit Papier, Popcorn und Plastikschmetterlingen ungehörte, ja unerhörte neue Töne. In kollektiver Erinnerung geblieben ist die brachiale wie klangvolle und fotogene Zerlegung eines Konzertflügels.

FLUXUS gene­riert bis heute welt­weit Aufmerk­sam­keit

Die Partitur des amerikanischen Komponisten Philip Corners „Piano Activities“, gibt vor, einem Klavier Töne zu entlocken, ohne dabei dessen Tasten zu berühren.... Hier agieren sie alle: Nam June Paik, George Maciunas, Ben Patterson, Emmet Williams, Wolf Vostell, Dick Higgins, Alison Knowles. Tatsächlich ist diese unautorisierte Weiterentwicklung der Partitur jedoch aus finanzieller Not geboren, um einen kostengünstigen Abtransport des sperrigen und defekten Instruments nach der Veranstaltung zu ermöglichen.

Emmett Williams, George Maciunas, Benjamin Patterson, Dick Higgins, Alison Knowles, Philip Corner’s Piano Activities, Fluxus Internationale Festpiele Neuester Musik, Hörsaal des Städtischen Museums, Wiesbaden, Foto: DPA © 2015 Philip Corner. Digital image © Museum of Modern Art/Licensed by SCALA/Art Resource, NY, Image via cdn.walkerartcenter.org

FLUXUS generiert bis heute weltweit Aufmerksamkeit, Anhänger und Akteure. Gleichzeitig aber bleibt FLUXUS nahezu unsichtbar und kaum erlebbar in den bekannten Kunstmuseen und -sammlungen. Ohne die Vorleistung der FLUXUS-Protagonisten der 1960er Jahre wäre heute manches in der Kunst undenkbar: Video-, Installations- und Computerkunst, vor allem aber das generelle Crossover, kommentiert in der Zeitung von den amerikanischen Streitkräften „The Stars and Stripes“: „There’s Music – And Eggs – In The Air!“

There’s Music – And Eggs – In The Air!

Kommentar „The Stars and Stri­pes“