Direktor Max Hollein freut sich auf Wiederentdeckungen, tiefgreifende Einblicke und ungewöhnliche Gegenüberstellungen in den Ausstellungen der SCHIRN im Jahr 2016.
Bevor Sie dies lesen, schließen Sie kurz die Augen und denken an Miró. Ja, Joan Miró – einer der großen Künstler der Moderne. Und, was sehen Sie? Vielleicht Blau, viel Blau und ein sattes Rot, Konturen in Schwarz und Formen, Linien, Punkte, Kreise und vielleicht auch Zeichen und Symbole: Sterne, Augen und Monde? Aber was sehen Sie nicht? Was ist unter der Oberfläche? Und wie groß kann ein Bild überhaupt sein? In unserer ersten Ausstellung 2016 widmen wir uns den großformatigen Werken und den Bildgründen sowie Materialien, die Mirós Malerei bestimmen und mit denen er gearbeitet hat. Er war fasziniert von der Wand, der Mauer, mit ihren Schönheitsfehlern und zufälligen Spuren. Er hat sie oft abgebildet und gleichzeitig war sie ihm immer wiederkehrende Inspiration, denn sie bestimmte hauptsächlich die Materialität seiner Arbeiten. Mit „Joan Miró. Wandbilder, Weltenbilder“ schauen wir auf ein halbes Jahrhundert großartiger Malerei des Katalanen: Große, friesartige Gemälde oder Arbeiten auf Sandpapier, Teerpappe oder roher Jute. Kraftvoll, monumental und eindringlich. Denken wir an Miró, meinen wir gemeinhin schon alles gesehen zu haben. Wir kennen das bedeutende Werk dieses großen Künstlers von Besuchen in den großen Museumssammlungen der Welt und durch Reproduktionen in Zahnarztpraxen. Dass es aber auch bei den großen Meistern der rezenten Kunstgeschichte, Themen und Aspekte gibt, die noch gar nicht umfassend erforscht und betrachtet wurden, ist überraschend und herausfordernd zugleich. Immer wieder widmet sich die SCHIRN solchen Aspekten im Œuvres von etablierten Proponenten der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. Insofern, soviel kann ich versprechen, die Ausstellung wird für viele einen neuen Blick auf Mirós Bildwelten eröffnen – und das Ganze im Großformat!
Es war das Bild des Abends: Ellen DeGeneres Selfie von der Oscarverleihung 2015. Es ging einmal um die Welt und zierte zahlreiche Titelseiten: beeindruckend. In Zeiten von Facebook, Tinder und Instagram ist die Selbstinszenierung ein Massenphänomen einer Beeindruckungskultur. Wie wir uns darstellen, wie wir abgebildet werden und uns in Pose werfen, wie wir uns im Netz selbst präsentieren und reproduziert werden sind Signale für unsere gesellschaftliche Kategorisierung. Wir schauen mit der Themenausstellung „[¶£“, wie sich das traditionsreiche Genre des Künstlerselbstportraits in unserer Zeit gewandelt hat. Wie sie andere, unorthodoxe Formen entwickelt haben und damit dem Selbstdarstellungsdrang unserer Gesellschaft etwas entgegensetzen, darauf reagieren, tiefer eindringen. Das Selbstportrait, in der Bildenden Kunst ein Genre mit jahrhundertalter Tradition, ist heute Geschichte. Die Fotografie und vor allem die digitale Kultur haben die Möglichkeiten der künstlerischen Selbstdarstellung nicht nur erweitert, sondern von Grund auf revolutioniert. Unsere Ausstellung präsentiert 40 künstlerische Positionen aus Malerei, Video, Skulptur, Performance. Folgen wir diesen Bilderstürmern auf ihrer Suche nach einer zeitgemäßen Form der Selbstdarstellung. Neben Sarah Lucas, Alicja Kwade, Rosemarie Trockel, Pawel Althamer, Günter Förg oder Wolfgang Tillmans, Abraham Cruszvillegas und Ryan Gander ist auch Florian Meisenberg dabei. In der Ausstellung können wir ihm per Smartphone-Livestream auf Schritt und Tritt folgen. Im Rahmen unserer Digital Art-Projekte wird der in New York lebende deutsche Künstler uns über eine komplexe Datensammlung aus Herzfrequenzen, Geo-Daten und Bildmaterial ein intimes und unheimliches Selbstbild liefern.
Ob Barbara Krugers Text/Bildraum, Daniele Buettis Farbhypnose, Andreas Schulzes fluoreszierende Erbsenstraße, Alicja Kwades pendelnde Uhr, Doug Aitkens „Sonic Fountain“ oder Heather Phillipsons Hommage an das menschliche Herz – die Rotunde der Schirn hat sich als origineller, herausfordernder Ausstellungsort für komplexe zeitgenössische Großprojekte in den letzten Jahren weiter etabliert. Auch in diesem Jahr haben wir zwei Künstler eingeladen, eigens für diesen stark frequentierten, transitorischen Ort zwischen Römer und Dom eine eindrucksvolle Arbeit zu entwickeln: Den Anfang macht der US-amerikanische Künstler Peter Halley, dessen Werk mich in seiner Rigidität und seismographischen Kraft seit Jahrzehnten ungemein beeindruckt. Bekannt geworden ist Halley in den 1980er-Jahren mit seinen geometrisch-abstrakten, sozial codierten Bildern, den Prison und Cell Paintings. Mit seinen Gemälden und ortsspezifischen Installationen wirft er einen kritischen Blick auf die Raum-, Kommunikations- und Organisationsstrukturen, die den Lebensalltag dominieren. Heute, wo unser Leben von Algorithmen der Digitalindustrie und den Strukturen einer matrixhaft verbundenen Welt von Daten- und Warenströmen wird, stehen wir mitten in einer Halley’schen Komposition. Er wird die Rotunde in eine gigantische Zelle verwandeln, die einer digitalen Explosion und einer analytischen Landkarte seines Gesamtwerks gleichkommt. Wir dürfen gespannt sein auf eine Arbeit, wie sie größer, detailreicher, expansiver kaum sein könnte.
Im Zentrum des Werks der italienisch-deutschen Künstlerin Rosa Barba, das wir im Herbst in der Rotunde zeigen, steht der Film: als Medium, Material und Metapher, als Erzählform und als prägendes Dispositiv für die visuelle Kultur des 20. Jahrhunderts. Barba produziert ihre Filme im traditionellen 16mm und 35mm-Format, dreht oft an abgelegenen Orten und verwebt dokumentarische und fiktionale Elemente zu fantastischen Suggestionen. Auch ihre skulpturalen Objekte und räumlichen Interventionen greifen immer wieder Aspekte der Filmsprache auf und bewegen sich im Bereich zwischen materieller und immaterieller Präsenz.
Der Comic. Das erste Bildmassenmedium der Geschichte, millionenfach reproduziert. In einer Gesellschaft ohne Fernsehen und Internet war das revolutionär. Der Comic eroberte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die US-amerikanischen Tageszeitungen. Wer waren die originellsten Zeichner, die experimentierfreudig und progressiv die künstlerischen und inhaltlichen Maßstäbe des frühen Comics setzten – und dabei große Kunst im kleinen Format bei massenhafter Verbreitung schufen? Die SCHIRN zeigt die originellsten und kreativsten „Pioniere des Comic“, Künstler, die Bürger, Arbeiter oder Einwanderer gleichermaßen mit ihren fantastischen und zugleich realitätsnahen Geschichten, skurrilen Figuren und Charakteren in ihren Bann zogen und fast nebenbei eine Kunstform begründeten. Und noch heute lacht man über George Herrimans absurden Humor in Krazy Kat und ist fasziniert von den bemerkenswerten Bildwelten eines Winsor McCays und Cliff Sterretts. Unvergessen auch Lyonel Feiningers Comicserien für die Chicago Tribune oder der erste "On Kawara" der Comicwelt: der über drei Jahrzehnte in Echtzeit erzählte Comic Gasoline Alley von Frank King. Neben all den bekannten Comiczeichnern gab es viele, die herausragende Comis schufen, aber aus Mangel an Erfolg schnell wieder von der Bildfläche verschwanden. Charles Forbell war einer von ihnen. In der SCHIRN kann im Sommer sein Gesamtkunstwerk Naughty Pete bestaunt werden.
Im Sommer feiern wir mit der Ausstellung „Kunst für alle“ auch eine Premiere. Wir zeigen beeindruckende Farbholzschnitte aus dem Wien von 1900 bis in die 1910er-Jahre. Dass der Farbholzschnitt in ganz Europa zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine bahnbrechende Wiederentdeckung erfuhr, ist kaum bekannt und wurde bislang wenig beachtet – und auch ich als Wiener muss zugeben, dass mir im Rahmen der Vorbereitung des Projekts mit so vielen Entdeckungen die Augen für diese Meisterwerke geöffnet wurden. Grund genug für die SCHIRN, diesem Phänomen eine besondere Ausstellung zu widmen. In Wien haben zahlreiche bedeutende Mitglieder der Wiener Secession und einige heute fast vergessene Künstlerinnen und Künstler mit Originalität und Begeisterung den Farbholzschnitt wiederbelebt. Rund 170 Werke – auch aus verwandten Techniken wie Linolschnitt oder Schablonendruck – werden einen faszinierenden Überblick geben und erstmals auch die ästhetischen und gesellschaftlichen Errungenschaften des Farbholzschnitts sichtbar machen. Die Ausstellung verdeutlicht gleichzeitig, wie stark der Farbholzschnitt zu einer Kunst beitrug, die alle Bereiche des Lebens erfassen wollte. Damals wurde im Rahmen der „Kunst für alle“-Bewegung lebhaft über Authentizität, Originalität und erschwingliche Preise sowie über ein Kunstschaffen jenseits des Elfenbeinturms diskutiert. Themen, die an Relevanz bis heute kaum verloren haben: Denkt man an neu erzielte Rekorde am Kunstmarkt, die Frage nach dem Wert oder wie die Zugänglichkeit und Öffentlichkeit von Kunst sich in unserer Gesellschaft entwickelt.
Es gibt und gab nur ganz wenige Künstler, die in solcher Radikalität das eigene Leben und die Kunst zusammen bringen: Frank Uwe Laysiepen, besser bekannt als Ulay. Die SCHIRN präsentiert im Herbst die erste große Überblicksausstellung zu diesem großen Protagonist der Performance Kunst. Ulay, der von vielen primär als ehemaliger Lebensgefährte und künstlerischer Partner von Marina Abramović wahrgenommen wurde, bezeichnet sich also nicht ohne Grund selbstironisch als den „bekanntesten unbekannten Künstler“. Ulay’s Werk ist komplex, richtungsweisend und radikal - 50 Jahre stringenter künstlerischer Praxis und ein Leben für die Kunst. Mit seinem Konzept der Transformation schafft er ständig neue Identitäten. Eines der bevorzugten Medien ist dabei die Fotografie. Das Sofortbild, das vom Digitalfoto abgelöst wurde, ist für Ulay das Material seiner jahrzehntelangen Suche nach der Repräsentation des Lebens. Sein Körper dient ihm dabei bis heute als Forschungsgegenstand, auf dem sich wie auf einer Leinwand verschiedene Einflüsse abzeichnen und ablesen lassen. Neben zahlreichen Einzelaktionen der Performativen Fotografie und Body-Art hat Ulay auch viele Projekte mit anderen Künstlerinnen und Künstlern realisiert, etwa mit Jürgen Klauke, Paula Françoise-Piso und zwölf Jahre lang mit Marina Abramović. Die SCHIRN führt das bemerkenswerte Œuvre von Ulay zusammen: Dafür öffnet Ulay sein großes Archiv und präsentiert erstmals öffentlich zahlreiche Kunstwerke, die er jahrelang zurückhielt und zeigt neue Arbeiten und Performances, die er eigens für die Ausstellung entwickelt hat.
Mit dem Ende des Jahres wenden wir uns den überraschenden Verbindungen im Werk von Alberto Giacometti und Bruce Nauman zu. Obgleich wir es mit zwei Künstlern, zwei Generationen und einer denkbar unterschiedlichen Herkunft zu tun haben, kreist bei beiden das Gesamtwerk vorrangig um das Bild des Menschen und die conditio humana, die Bedingung des Menschseins, die Frage nach seiner Natur und seiner Existenz. Ein prozessuales Denken verbindet sie ebenso wie ihre Themen, etwa die Darstellung der Leere, die Beziehung von Figur und Raum oder der fragmentierte Körper. In unserer großen Ausstellung „Giacometti-Nauman“ lassen wir in einem thematisch angelegten Parcours etwa 80 Arbeiten aufeinandertreffen. Ausgewählte Skulpturen und Gemälde des Schweizer Bildhauers Giacometti treten mit Zeichnungen, Fotografien, Videos, Skulpturen und raumgreifenden Installationen des US-amerikanischen Multimediakünstlers Nauman in einen Dialog. Wir dürfen gespannt sein, wie diese Gegenüberstellung, die einer Konfrontation gleicht, wohl ausgeht. Die Zeichen stehen gut: Giacometti, dieser allseits geliebte Meister der modernen Skulptur, wird als Wegbereiter zentraler Entwicklungen der Kunst nach 1960 erkennbar, gewinnt seine einstige Radikalität zurück, während Naumans historische Bedeutung als Bildhauer verständlich wird.
Was wir mit Britta Thies Translantics und Constant Dullaarts The Possibility of an Army 2015 erfolgreich begonnen haben, werden wir auch 2016 fortführen: Unseren Ausstellungsraum ins Netz zu erweitern. Diese beiden künstlerischen Positionen, die zwar unterschiedlicher, aber auch zeitgeistiger nicht sein könnten, werden ab März durch Florian Meisenbergs digitale Arbeit im Rahmen der ICH-Ausstellung ergänzt. Und auch im neuen Jahr gibt es wieder die Möglichkeit, zahlreiche internationale Künstlerinnen und Künstler in unserer monatlichen Filmreihe „Double Feature“ aus nächster Nähe kennenzulernen, mit ihnen über ihre neuesten Videoarbeiten zu diskutieren und mit ihnen gemeinsam ihren Lieblingsfilm zu schauen.