Die neue MMK-Ausstellung versteckt sich in den Frankfurter Grünanlagen. Die Performance zum Auftakt hat Schirn-Kurator Matthias Ulrich zum Nachdenken angeregt. Ein Bericht.
Ein beinahe unsichtbares Spektakel kennzeichnet den Prolog dieser dreiteiligen Performance von Cyprien Gaillard, auf die an diesem frühen Samstagmorgen Ende Mai 2021 etliche Kunstdurstige gewartet haben. Nach über einem Jahr des künstlerischen Schweigens endlich wieder eine bekannte Stimme, die es immerhin erreicht, dass pünktlich um sieben Uhr die eine Seite der Untermainbrücke in Frankfurt mit Menschen vollgefüllt ist, die hinter Masken noch miteinander reden, als der Hauptdarsteller der Aktion bereits angefangen hat, im Main zu schwimmen.
Angezogen mit schwarzem Hoodie, schwarzer Hose und schwarzen Chucks, gleitet die Person von Dribbdebach geräuschlos unter der Brücke ins 12 Grad kalte Wasser. Diagonal in einem kleinen spitzen Winkel schwimmt sie zum anderen Ufer. Etwa in der Mitte verstummen die Gespräche, weil jetzt alle der Aktion gewahr wurden und gespannt aufs Wasser schauen, wo der Schwimmende mit leisen Bewegungen auf das Ziel zusteuert.
Im Stil eines religiösen Rituals umschreitet der Performer die Denkmäler
Als ob sie das Haus verließe und sich zu Fuß auf den Weg machte, steigt die Figur über eine Leiter aus dem Wasser und läuft tropfnass hoch zur Brücke, um sich zielstrebig in Richtung Theater zu begeben. Das Publikum folgt in respektvollem Abstand dem tropfenden Körper, dessen Schuhsohlen ein sich schnell auflösendes Aquarell auf dem Betonbelag hinterlassen. Der zügige Spaziergang setzt sich fort durch die mit Denkmälern und öffentlichen Kunstwerken bestückten Gallus- und Taunusanlagen. Im Stil eines religiösen Rituals umschreitet der Performer einige dieser Objekte mehrere Male und wird dabei von einer repetitiv auf der Querflöte gespielten Tonfolge begleitet.
Den Anfang macht das aus Fernsehnachrichten bekannte Eurozeichen von 2001, das der Künstler Ottmar Hörl entworfen hat und an dem Performer und Publikum vorbeilaufen. Es folgt die blaue Skulptur von Franz West aus dem Jahr 2012, dem Todesjahr seines Schöpfers, die der Performer gesenkten Kopfes zweimal umrundet. Die nächsten Umdrehungen gebühren Friedrich Schiller, dessen Denkmal 1864 entstanden ist und 1955 von der Hauptwache an diesen Standort übersiedelte. Von Georg Kolbe stammt das Denkmal zu Ehren von Heinrich Heine, das 1913 aufgestellt und 1933 von den Nazis umgestürzt und beschädigt wurde. Dann eine Runde um die Skulptur „Ein Haus für Goethe“ des baskischen Bildhauers Eduardo Chillida, bevor es auf einen kleinen Hügel geht mit einem Denkmal des deutschen Komponisten Ludwig van Beethoven, dessen allegorische Umsetzung von 1948 erneut von Kolbe in einem 20 Jahre andauernden Prozess vollendet wurde.
Gaillard zitiert Hieronymus Boschs „Garten der Lüste“
Der Spaziergang endet bei einem aus dem Boden herausragenden, begehbaren, runden Schacht, in dem die Abgase aus dem Untergrund durch ein ebenerdiges Metallgitter in die Luft ausgeschieden werden. Cyprien Gaillard hat die Innenwand des nach oben offenen, etwa vier Meter hohen und 2m im Durchmesser zylindrischen Raums mit einem synthetischen, rosafarbenen Marmor ausgekleidet. Die Farbgebung zitiert Gaillard aus einem Detail des Gemäldes „Der Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch, das eine Art pflanzliche Behausung mit Röhren oder den Innenraum eines menschlichen Körpers darstellt, in dem nackte Menschen irgendwie kindlich und unschuldig herumtollen.
In der Folge der Denkmäler und Skulpturen im öffentlichen Raum, handelt es sich bei dem „Frankfurter Schacht“ um ein singuläres Werk und eine Würdigung eines jeden Lebens, egal ob irdisch, unterirdisch oder überirdisch. Darüber hinaus schließt sich der im Wasser begonnene Kreis im nach unten und oben geöffneten Schacht, wie überhaupt das Bild des Kreislaufs von zentraler Bedeutung der Performance ist.
Es handelt sich um eine Würdigung eines jeden Lebens
Zunächst aber musste ich an eine invertierte Fassung des Rattenfängers von Hameln denken, der durch seine betörende Flötenmusik die von einer Epidemie heimgesuchte Stadt befreite und den folgsamen Ratten den todbringenden Weg ins Wasser durch seine Kunst ebnete. Die folgsamen Ratten in Gaillards Erzählung sind dann wohl wir, die Zuschauer*innen, die dem Künstler blindlings hinterherlaufen und in der kollektiven Aktivität nicht darüber nachdenken, welche Idee/Ideologie wir gemeinsam tragen und durch unsere physische Anwesenheit kooperativ herstellen. Gaillards Parcours durch den Skulpturenpark wirft ein assoziatives Netz über die politischen und kulturellen Interdependenzen von Zeichen, angefangen mit einer ins Gigantische vergrößerten Währung über den Denkmalsturz des Juden Heinrich Heine durch die Nazis bis hin zur kulturellen Aneignung der Musik von Beethoven durch Diktatoren und Freiheitskämpfer*innen gleichermaßen.
Abgesehen von den nachträglichen, erzieherischen Qualitäten von Denkmälern und der bürokratischen Verwaltung des öffentlichen Raums, unternimmt die Aktion von Gaillard eine religiöse Mystifikation, eine Art Prozession oder Wallfahrt, in der ein Austausch von Energie stattfindet – von der umrundeten Skulptur auf den Performer, von dem Performer auf uns Mitläufer*innen und von uns auf die gesamte Situation. Auch in diesem Szenario also ein Kreislauf, eine prozessuale Steigerungsdynamik, die sich in der Kontinuität der Bewegung und der Wiederholung entfacht, ähnlich einer Endlosschleife, die, einmal angeworfen, unendlich lange läuft und alles umfasst.
Eine andere Interpretation erscheint mir naheliegender, weil zeitgemäßer. In ihr sind die Ratten die Denkmäler und Kunstwerke im öffentlichen Raum und wir Zuschauende das öffentliche Organ, das darüber entscheiden muss, ob die jeweiligen Erzählungen noch zeitgemäß sind oder nicht und welche davon ein falsches und unangebrachtes Selbstbild in eine veränderte und zu verändernde Kulturgeschichte einführen. In Bristol landete vor einem Jahr die Bronzestatue eines ehemaligen Sklavenhändlers im Wasser des Avon, wo sie durch Black Lives Matter-Aktivist*innen versenkt wurde. Allerdings erscheint mir der künstlerische Anspruch, vorausgesetzt Gaillard teilt diese Interpretation, zu dünn, um einer bereits laufenden Diskussion eine andere Perspektive zu verleihen als die einer kritischen Revision. Auch wenn diese bei den Anwesenden der Performance in jedem Fall angeregt wurde.
Museum für Moderne Kunst Frankfurt
CYPRIEN GAILLARD. Frankfurter Schacht
Ab Samstag, 29. Mai 2021. Die Skulptur befindet sich zwischen den S-Bahn-Aufgängen 3 und 4 der Taunusanlage und gegenüber der Adresse Taunusanlage 12