Brasilianische Street Art von Os Gemeos und der legendäre brasilianische Künstler Hélio Oiticica sind derzeit in Portugal zu bewundern. Kuratorin Martina Weinhart reiste nach Lissabon.
Wenn man sich für brasilianische Kunst interessiert -- und das tun wir ganz professionell, schon allein, weil Brasilien im kommenden Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse sein wird -- wenn man sich also für brasilianische Kunst interessiert, reicht es manchmal schon, nur die halbe Strecke hinter sich zu legen. Das bringt einen nach Lissabon, in die Hauptstadt der ehemaligen Kolonialmacht und des „Mutterlandes", mit dem es immer noch vielfältigen kulturellen Austausch betreibt. Die Verhältnisse scheinen nun aber genau umgekehrt: Lissabon wirkt heute beschaulich mit seinem verträumt nostalgischen Flair und längst von der Dynamik des Riesenstaates in der neuen Welt mit Megacities wie Rio de Janeiro oder São Paulo in den Schatten gestellt.
Und so passiert es, dass uns bereits auf dem Weg vom Flughafen in die Stadt an einer der weniger schönen Einfallstraßen „gute alte Bekannte" aus Brasilien begegnen -- und das auf ganz spektakuläre Weise: An der Avenida Fontes Pereira de Melo haben Os Gemeos, die Stars der Graffiti-Szene aus São Paulo, ein leerstehendes altes Haus auf geniale Weise durch einen ihrer gigantischen gelben Männer verschönert, der nun scheinbar mit einer Hand durch die Wand greift und auf der anderen Seite am Balkon wieder herauskommt.
Street Art ist heute längst museumswürdig. Davon kann man sich im MUDE, dem Museu do Design e da Moda in Baixa, dem Zentrum von Lissabon, überzeugen. Hier zeigt eine kleine und lebendige Präsentation Beispiele brasilianischer Szenografie, unter anderem mit den Zwillingen Os Gemeos. An der geschäftigen Rua Augusta eröffnet sich in den umgestalteten Räumen einer ehemaligen Bank ein ganz eigenes Universum. Mitten in der Krise bleibt das nicht ganz ohne Untertöne: Der gesamte Innenraum wurde seiner repräsentativen Verkleidungen entledigt und zeigt jetzt die nackte Schönheit der Ruine -- béton brut, nur beleuchtet durch das schwache Licht des einst noblen Geschäftstresens. Jetzt beherbergt der Raum Ikonen des modernistischen Designs. Übrigens ist die gesamte obere Etage Brasilien gewidmet, spätestens seit den 1950er-Jahren ein Dorado von Architektur und Design -- ich sage nur Oscar Niemeyer...
Weiter geht es nach Belém, einem Stadtteil im Westen der portugiesischen Hauptstadt. In der Ferne grüßt Cristo-Rei als Echo auf die Cristo Redentor-Statue auf dem Corcovado über Rio de Janeiro, die einem Erzbischof von Lissabon so gut gefallen hatte, dass er die Nachbildung in der Heimat anregte. An der Praça do Império, unweit des Padrão dos Descobrimentos (Denkmal der Entdeckungen), mit dem die Salazar-Diktatur noch 1960 dem Zeitalter der Welteroberung hinterhertrauerte, steht das Museu Colecção Berardo, ein gigantischer Komplex mit einer großen Sammlung internationaler zeitgenössischer Kunst.
Hier erwartet mich mit „museu é o mundo" eine Einzelpräsentation des früh verstorbenen Hélio Oiticica einer der wohl bedeutendsten Künstler Brasiliens. Dort setzte sich eine äußerst lebendige Künstlerszene seit den späten 1950er-Jahren zunächst mit den Theorien und modernistischen Tendenzen der westlichen Metropolen auseinander. Doch schnell werden die lokalen Gegebenheiten zum Kern einer originär brasilianischen Kunst -- Oiticica ist ihr größter Verfechter. Er produziert eine Kunst, die den Betrachter zur Gänze fordert, ihn umfasst, beschäftigt, einverleibt, ihn körperlich, taktil und visuell herausfordert. Sein Hauptwerk ist die Installation „Tropicalia", gleichzeitig der Name einer ganzen Bewegung. Atmosphärisch dicht mit Palmen, lebendigen Papageien, kleinen Favela-artigen Hütten im Sand und Kieswegen ausgestattet, soll es eine Art Karte von Rio de Janeiro sein. Also Schuhe aus und hinein in den Sand der Copacabana, auch wenn er sich gerade in Lissabon befindet ...