Kuratorin Ingrid Pfeiffer erlebt den Londoner Kunstherbst – abseits einer stetig expandierenden Frieze Art Fair entdeckt sie viele weitere sehenswerte Ausstellungen.
Es ist stets erstaunlich zu beobachten, dass immer neue Kunstmessen organisiert werden, dass die Messen expandieren wie private Konzerne. Nachdem die Frieze, ursprünglich eine Londoner Messe, in diesem Jahr erstmals Anfang Mai auch in New York stattfand – in einer sehr schönen geschwungenen Halle auf einer Insel – gibt es nun in London parallel zur bisherigen Frieze Contemporary auch erstmals die Frieze Masters mit Alter Kunst und Klassischer Moderne bis fast in die Gegenwart.
Jeder lobte die Eleganz der Präsentation: Man hatte sich nur auf Grautöne für Boden und Wände geeinigt, und es blieb viel Platz fürs Flanieren und den Austausch. Auch die Kunstwerke waren luftig gehängt und kamen durchweg gut zur Geltung. Für den Besucher ausgesprochen angenehm, doch ob die insgesamt 28.000 Besucher genug gekauft haben? Das Format wird wohl beibehalten, ebenso wie die neue New Yorker-Messe.
Die zeitgenössische Frieze verzeichnete insgesamt 55.000 Besucher, und gerade am Eröffnungstag hätte der Kontrast nicht größer sein können: Die Überfülle des bunten Angebots, das grelle Licht, Kojen mit pinkfarbenem Fußboden, um partout aufzufallen, und dazu wahre Menschenmassen – man fragt sich, wer da noch die Konzentration aufbringen kann, Kunstwerke wirklich aufzunehmen oder sogar neue Künstler zu entdecken! Ich habe es als optischen Overkill empfunden, der eher abschreckte als zum Verweilen einlud. Sehr schön fand ich allerdings die von Thomas Bayrle gestalteten Ruhezonen.
Aber man fährt nicht nur wegen der Messen im Herbst nach London, sondern auch, weil es stets gute Ausstellungen in den zahlreichen Museen und Galerien zu entdecken gibt: Das Highlight für mich war diesmal eine kleine aber sehr feine Ausstellung, die auf der Rückseite der Royal Academy zu sehen war und von der Pace Gallery organisiert wurde: Die Gegenüberstellung der Meeresfotografien von Hiroshi Sugimoto und den „Dark Paintings“ von Mark Rothko. Man kann sich vorher denken, dass das gut funktioniert, da beide Künstler viel gemeinsam haben: von der Komposition der Horizontlinie bis zum meditativen Inhalt. Trotzdem war es ein überwältigendes Erlebnis, denn die Hängung und die Präsentation waren perfekt. Nur dadurch kamen die subtilen Vergleiche, die gegenseitige Steigerung der Wirkung beider Künstler wirklich zustande.
Positiv überrascht war ich auch von einer China-Ausstellung in der Hayward Gallery, denn nach den vielen Ausstellungen zu zeitgenössischer Kunst aus China in den letzten zehn Jahren ist, zumindest bei mir, ein gewisser Ermüdungseffekt eingetreten. Sehr negativ habe ich noch eine Ausstellung in der Saatchi-Gallery in London 2008 in Erinnerung, in der eine überdimensionierte Materialschlacht mit wenig interessantem Inhalt vorherrschte. Material und Arbeitskraft sind in China bekanntermaßen sehr viel günstiger als in Europa und den USA, weshalb einige Künstler dazu neigen, ihre vergleichsweise kleinen Ideen in riesige Skulpturen und großformatige Gemälde umzusetzen. Ganz anders die Ausstellung jetzt in der Hayward-Gallery, denn nicht nur sind hier ganz andere Künstler ausgestellt (bis auf das sehr politische Paar Sun Yuan & Peng Yu), sondern auch viele Künstler, die eher Fragen stellen als Antworten geben.
Besonders beeindruckend wie immer der „Altmeister“ Chen Zhen, der 2000 mit nur 45 Jahren in Paris starb und in seinem Werk östliche und westliche Ansätze sensibel zusammengeführt hat. Sein mit Staub bedeckter eindrucksvoller „Purification Room“ ist gleichermaßen Sinnbild für unsere westliche fragile Welt wie auch die Chinas. Auch Liang Shaojis Installationen mit Seidenraupen gehören zu den eindrucksvollen Arbeiten der Ausstellung, denn wer von uns hat schon vorher Seidenraupen beim Fressen, Spinnen und Sich-In-einen-Schmetterling-Verwandeln zugehört? Die Ausstellung umfasst „nur“ neun Künstler, doch sie ist umfangreich und vielfältig. Zusätzlich enthält sie ein digitales Archiv, in dem man sich über Ausstellungen, Performances und die Kunstszene Chinas seit 1979 informieren kann – ein sehr ambitioniertes Projekt.
In der Tate Modern lief gerade die dritte Station der Edvard Munch-Ausstellung, die dieses Frühjahr in der SCHIRN einen Besucherrekord erreichte. Während die beiden ersten Stationen der Ausstellung im Centre Pompidou und in Frankfurt sehr ähnlich strukturiert waren, gab es in London einige Veränderungen und Zusätze im ersten Raum mit Selbstporträts sowie im weiteren Verlauf. Die Räume in der Tate sind offensichtlich etwas größer, daher hat man einerseits vereinzelt Bilder aus Oslo dazu geliehen, andererseits fehlten aber einige Werke, die vorher in Paris und Frankfurt gezeigt wurden. Es ist interessant zu sehen, wie unterschiedliche Räume auch die Wirkung der Werke verändern.
Eine Entdeckung war für mich eine Ausstellung zum Spätwerk von Richard Hamilton, dem im letzten Jahr verstorbenen großen Pionier der Pop Art, die in der National Gallery gerade eröffnet wurde. Dieses sonst der älteren Kunst gewidmete großartige Museum mit seiner exquisiten Sammlung Alter Meister versucht neuerdings, sich mit jüngerer Kunst zu verbinden; ein Konzept, das man mittlerweile oft, etwa auch im Musée d’Orsay in Paris, findet. Mit Hamilton gelingt diese Verbindung besonders gut, denn er setzte Vorbilder der Renaissance in seiner letzten Werkserie ein und verknüpfte moderne Medien und Mischformen wie „Fuji/Oce Light Jet on Canvas“, also digitale Fotografie mit Leinwand, nennt dies aber „Painting“. Der Künstler spielte mit Traditionen und Medien, mit Wahrnehmung und Zentralperspektive, mit Serialität und dem großen Vorbild Duchamp. Eine inspirierende Schau, die viel Stoff zum Nachdenken und Genießen bietet. Das gilt für viele weitere, auch kleinere Galerie-Ausstellungen des Londoner Kunstherbst. Doch diese alle aufzuzählen, würde den Rahmen sprengen.