Ist die ausgestellte Raubkatze im Museum "echt"? Was ist der Goldstandard der Tierpräparation? Das SCHIRN MAG auf Forschungsreise bei den Zoologischen Präparatoren des Senckenberg Museums.

Anmutig thront der Jaguar auf seinem Ast: Die Vorderpfoten untereinander verschränkt, die Hinterläufe baumeln herab, den Kopf hat er leicht zur Seite gedreht. In den Flecken und Farben seines betörend schönen Fells, für das seine Artgenossen so oft gejagt wurden, verliert sich der Blick des Betrachters. Er strahlt Gelassenheit aus – aber wer kann das schon sagen, eine Raubkatze wie er könnte jederzeit wieder auf die Jagd gehen, wenn Hunger und eine passende Gelegenheit auftauchen.

Lebensecht, aber eben: nicht lebendig. Die perfekte Illusion ist das Metier von Udo Becker und Hildegard Enting, den Zoologischen Präparatoren im Frankfurter Senckenberg Museum. Und sie wird hier im besten Sinne handwerklich, mit höchster Präzision und Kunstfertigkeit geschaffen. „Wenn Kinder vor den Schauvitrinen stehen, fragen sie gern: ‚Ist das echt?‘“, erklärt Becker. „Aber was meinen sie damit überhaupt?“ Echt im Sinne von lebendig oder irgendwann einmal ein echtes Lebewesen? Oft verschwimmen die Begriffe wohl auch beim Betrachter selbst ein wenig. Die Erörterung dieser Fragen ist alles andere als banal: Vorstellung, Abbild und Repräsentation, um sie dreht sich alles, im Kunst- wie im Naturkundemuseum. Und dann spielt auch noch der Zeitgeist eine Rolle. Doch dazu später mehr.

Dreidimensionale Planungsprogramme?

Betrachtet man den hier ausgestellten Jaguar, der nun keiner mehr ist, ganz nüchtern, so könnte man ihn als Dermoplastik bezeichnen: Eine lebensnahe Körperplastik, die in etwa so schwer ist wie das tatsächliche Tier, und die schließlich mit der tatsächlichen Tierhaut überzogen wurde. Damit das funktioniert, musste nach dem Tod des Jaguars Ende 2012 alles schnell gehen, noch bevor die organischen Zersetzungsprozesse beginnen. Haut und Fell wurden zum Gerber gebracht, die einzelnen Körperpartien bis ins kleinste Detail dokumentiert. Dreidimensionale Planungsprogramme? Gibt es hier nicht! Die Präparatoren messen und errechnen alles selbst. Weil das Senckenberg nicht nur Museum, sondern in erster Linie auch Forschungsanstalt ist, wurden Gewebeproben und Skelett zum Beispiel für die Mammologie, die Säugetier-Experten im Haus, aufbereitet.

Nun beginnt die eigentliche Arbeit von Udo Becker: Weil das Material später sehr schwer wird, formt er die Plastik auf einer Metallkonstruktion. Wie ein Bildhauer gestaltet er nun ganz ohne Abguss und vorgefertigte Formen den Tierkörper, den er vorher so genau studiert hat, um Muskeln, Rippen und Proportionen exakt nachzubilden. Seine wichtigste Aufgabe dabei: „Ausdruck schaffen!“ Natürlich muss jedes Exponat naturwissenschaftlich korrekt sein, „…wir erschaffen hier keine Phantasiewesen.“ Die Biologie gibt den Rahmen vor, innerhalb derer zoologische Präparatoren aber durchaus Gestaltungsspielraum haben. Was das Tier gerade tun soll, in welcher Pose und Umgebung es dargestellt wird, ist dabei Ergebnis von Absprachen, aktuellen Anforderungen und schließlich auch der Vorstellung des Präparatoren.

Verantwortung und Respekt

Weil man im Frankfurter Zoo keine Jaguare findet, recherchierte er Filmaufnahmen, Bücher und Fotos. Ein Motiv der Tierschutzorganisation WWF von Yves-Jaques Rey-Millet gefiel ihm so gut, dass er die Pose des Tieres darauf zum Vorbild nahm. Auch diese Haltung muss exakt auf die Maße des tatsächlichen Tieres übersetzt werden, nur dann passt das aufbereitete Fell perfekt. Frisch vom Gerber zurück, musste Udo Becker die noch feuchte Tierhaut schließlich auf die fertige Dermoplastik anbringen. Er zeigt Bilder: Auf einem Foto ist das Jaguarfell quasi im Millimeterabstand mit Klammern gespickt. Sie verhindern, dass sich während der Trocknung Hohlräume oder Falten bilden. Seine Hülle soll dem Tier auch in neuer Position wie angegossen sitzen.

Jaguar bei der Trockung, Copyright SGN

Wenn Udo Becker von seinem Beruf spricht, dann auch von Verantwortung und Respekt: Nie würde es ihm einfallen, ein Tierfell wie bloßes Material zu behandeln. Eine Raubkatze wie diese zu präparieren, kommt selten genug vor, entsprechend kostbar ist sie mit all ihren physischen Bestandteilen. Doch Becker meint mehr: Nicht nur im monetären Sinne, auch im ideellen geht es ihm um den Wert des Lebewesens, mit dem er gerade arbeitet. Blutige Bilder, die seinen Arbeitsprozess zwangsläufig dokumentieren, zeigt er ungern. Sie gehören selbstverständlich dazu, wenn er einzelne Gewebeproben entnimmt, Sehnen präpariert, das Tier in all seinen Bestandteilen vermessen muss. Aber als einzelnes Motiv herausgenommen ist ihm das zu effekthascherisch: Das Bild vom ganzen Lebewesen geht zumindest für den Besucher, der nicht dabei gewesen ist, verloren.

100 Augenpaare auf dem Besucher

Doch wie ließe sich nun die Frage der Kinder beantworten? Nicht so leicht, in jedem Fall. Wenn das Exponat fertig ist, dann ist es für Udo Becker zu ebendem geworden – ein Ausstellungsstück, für das ein lebendiges Tier Vorbild stand. Oft hat es noch einzelne Elemente dessen, meist die Außenhülle, Fell oder Federn. Bei Fischen, Reptilien und Amphibien sieht das wieder anders aus. Aber wenn der Präparator durch die Schausammlung geht, dann verfällt er nicht den Blicken der 100 Augenpaare, die hier auf den Besucher gerichtet sind.

Künstlicher Körper eines Jaguars, Copryright SGN

Wir passieren eine Arbeit von Herman ter Meer, dem weltberühmten Vater der Dermoplastik: Er hat das Verfahren, das bis heute Goldstandard ist, Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt. Dank seiner Erfindung können Säugetiere vom Fuchs bis zum Jaguar heute lebensecht präpariert statt lediglich und im wahrsten Sinne des Wortes ausgestopft werden. Udo Becker ist von ter Meers Exponat bis heute begeistert: „Schauen Sie, hier, “ deutet er auf das Ensemble zweier Orang-Utans zwischen Geäst, „das ist eine wahrhaft künstlerische Bildgestaltung – und trotzdem lebensecht!“ Der eine Menschenaffe, weiter unten liegend, schaut den anderen an, die Pose seines angewinkelten Arms spiegelt sich in der Linie des oberen Baumstammes wieder.

Kreativer Gestaltungsspielraum

Neben ter Meers berühmtem Exponat sind die Dioramen des Hauses seit Jahrzehnten zuverlässiger Zuschauermagnet. Für Udo Becker „die absolute Königsdisziplin“ – obwohl er erfahrener Zoologischer Präparator ist, konnte er bis heute noch keines selbst gestalten. Der Bedarf an neuen Exemplaren dieser illusionistischen Schaukästen, die unendliche Weite suggerieren, ist nicht besonders groß. Ein Steinbock vor entsprechender Bergkulisse, ein Paar Rehe im Feld: Eine etwas antiquierte Melancholie strömt aus den gebauten Bildern. Obwohl oder wohl gerade weil Tier und Raum menschengemacht sind, die Weite so simpel und handgemacht, der Zaubertrick nachvollziehbar, bleiben sie anziehend.

Image via: fr.de, Foto: Andreas Arnold

Vor über 30 Jahren ist Udo Becker ins Senckenberg gekommen: Nach einer vorbereitenden Schule hat er die Ausbildung direkt im Haus gemacht. „Natur, Technik, Handwerk“, das sind die drei Säulen seiner Arbeit. Kreativen Gestaltungsspielraum gibt es, im begrenzten Maße, natürlich ebenso. Auf dem Weg zur Zoologischen Präparation passieren wir alle erdenklichen Spezialräume: Staubfrei, zur Metallverarbeitung oder für Kunststoffe – die Präparatoren müssen sich auch materialtechnisch auf dem neuesten Stand halten.

Ausdruckstarke Gesichter von Menschenaffen

Wer ihm nur eine kurze Weile zuhört, der mag sich kaum vorstellen, dass all diese Kenntnisse in einer zwei- oder auch vierjährigen Ausbildung vermittelt werden können. Können sie auch nicht, sind sich beide Präparatoren einig: „Man lernt ein Leben lang.“ Ihre Werkstatt ist Büro und Arbeitsplatz zugleich. Hier stehen Computer und Papiere, Lehrbücher und Anatomische Tafeln, ein Karton mit der Aufschrift „Korallen“, Farbpigmente, Federproben, dreidimensionale Modelle. An einer Wand hängen Totenmasken, sozusagen, die beeindruckend ausdruckstarken Gesichter von Menschenaffen und Giraffen in Abgüssen für die Ewigkeit eingefroren.

Udo Becker beim Studium der Anatomie eines Giraffenjungtieres, Copyright SGN

Tatsächlich macht die Präparation für Schauzwecke oder die hauseigene Forschung  nur einen Teil der täglichen Arbeit aus. Und natürlich stehen im Besuchermuseum nicht immer Großprojekte wie der majestätische Jaguar an. Ein Kollege aus der Geologischen Präparation schaut vorbei, er und Becker lachen: Der Arbeitsalltag komme manchmal auch weitaus weniger aufregend daher, wenn eine Ausstellung aufgebaut oder Papierkram erledigt werden muss. Das Aufgabenfeld der Präparatoren umspannt alles von der filigransten Bemalung einschließlich Versilberung eines Fischmodells bis hin zur Metallverarbeitung: „Ich kann auch schweißen!“

Gejagt von einem Raubtier

Eine offizielle Arbeitsaufteilung gibt es nicht, aber jeder Präparator hat seine Schwerpunkte und Lieblinge. Becker zeigt auf eine Tiergruppe, die ihm und seiner Kollegin in der Werkstatt über die Schultern blicken: „Schauen Sie nur diese Füchse an – jeder einzelne ist für sich gut gemacht, aber keiner sieht aus wie der andere. Jeder Präparator hat seine eigene Handschrift.“ In den Details liegt der kreative Spielraum. Um ein hüpfendes Känguru gerade im Sprung darzustellen, hat er einmal superleichten PU-Schaum zur Modellierung verwendet. Ansonsten ist man heute zurückhaltender bei der Darstellung von Bewegungen: Um die Jahrhundertwende waren die sogenannten „Dramatischen Gruppen“ en vogue – eine Herde Antilopen, gejagt von einem Raubtier, je reißerischer, umso besser. Heute geht es in der Zoologischen Darstellung geruhsamer zu, aber nicht langweilig: Das gerade auf vier Beinen stehende Exponat bildet ebenso die Ausnahme wie das in der Bewegung eingefrorene Motiv.

Foto: Katharina Cichosch

Doch die Welt der Tiere besteht bekanntlich nicht nur aus Fell und Augen. Genau hier wird es für Hildegard Enting spannend: „Meine Exponate können natürlich auf den ersten Blick nicht mit einer süßen Haselmaus mithalten, “ erklärt Beckers Kollegin. Sie fertigt Modelle von Tieren, die man nicht präparieren kann. Meerestiere zum Beispiel, die vornehmlich aus Weichteilen bestehen. Schaubilder von Pilzsporen, die für die Kartoffelfäule verantwortlich sind, einschließlich ihrer „richtig ekligen“ Auswirkungen – der Ekel-Fakor als vermittelndes Element zwischen Exponat und Betrachter.  Oder von ausgestorbenen Arten. Da muss man schon einmal richtig in die Literaturanalyse einsteigen: Aktuell arbeitet Enting an einer naturgetreuen Wiedergabe des Dodos, vielen nur aus „Alice im Wunderland“ bekannt. Schwierig, wenn man weder auf eigene Beobachtungen noch auf Fotos zurückgreifen kann: Ist der Dodo nun tolpatschig gewesen, fett und faul? Oder doch eigentlich ganz aufgeschlossen, filigraner, bloß eben flugunfähig? Auch aus schlechten Zeichnungen könne man viel lernen, wenn sie immer wieder ähnliche Beobachtungen darstellen.

Irgendwo zwischen Alien und Bär

Es geht in diesem Beruf um Sichtbarmachung. Manchmal im wahrsten Sinne des Wortes: „Kennen Sie das Bärtierchen?“ fragt Enting, und ihre Begeisterung für das nur wenige Millimeter große Lebewesen mündet im Vorhaben, dies unbedingt sofort zu googeln. „Das ist so niedlich!“ So wird das Häutungstier, das extremste Temperaturen und selbst einen Flug ins Weltall schadlos übersteht, tatsächlich selbst in naturkundlichen Beobachtungen charakterisiert. Ein tapsiges Wesen, irgendwo zwischen Alien mit Staubsauger-Nase und einer Art Bär zu verorten. Die Präparatorin plant ein größeres Modell von dem Tier, das kaum ein Mensch kennt, weil es im Gegensatz zu vielen anderen Kleinstlebewesen in keinerlei Beziehung zu diesem steht.

Foto: Katharina Cichosch
Foto: Katharina Cichosch

Und der Dodo? Der erhält derweil noch ein Kleid aus Fasanenfedern. Enting hat sich Proben zuschicken lassen, cremefarbene, kastanienfarbene und dunkelbraune Federn, die sie ansteckt, ausprobiert, mit Bildern abgleicht. Das Resultat von Hildegard Entings Recherche, in die historische Zeichnungen und Malereien, niedergeschriebene Tierbeobachtungen und viele eigene Skizzen und Versuche eingeflossen sind, wird dann voraussichtlich im Frühjahr ins Senckenberg-Museum einziehen: „Sehr neugierig“, mit leicht schräg gelegtem Kopf wird er die Museumsbesucher dann anblicken.