Der Künstler Theo Altenberg im Interview über den provokanten Wiener Aktionismus, das utopische Leben in der Kommune Friedrichshof und die Abgründe von Richard Gerstl. Der Künstler spricht am 26. April in der SCHIRN.
Herr Altenberg, wie sind Sie Künstler geworden?
Die Aufbruchsstimmung der 1960er-Jahre hat mich geprägt: die Idee, mit Kunst die Gesellschaft, das gesellschaftliche Bewusstsein zu verändern war faszinierend. Die These „Leben ist Kunst, Kunst ist Leben“ war ein Ausgangspunkt für utopisches Denken. Wir wollten aus den alten Normen und Tabus raus und das zusammenbringen, was zusammengehört: Individualität und Gemeinschaft.
Außerdem ging es um die Frage, wieso dieser ganze politische Wahnsinn nicht funktioniert: Die Vorstellung des Kommunismus war eine gute Theorie, wurde aber in der Praxis von hasserfüllten Holzköpfen umgesetzt. Man hat erleben können, wie solche autoritären Systeme die Kreativität von Menschen ersticken. Wir träumten vom Ende der patriarchalischen Systeme.
Zunächst habe ich mich als performativer Künstler gesehen, parallel habe ich Ideen in der Fotografie entwickelt und Super8 Filme gedreht. Die Haltung, sich nicht auf ein Medium zu beschränken hat man spüren können, z.B. bei Beuys, Warhol oder Nam June Paik – es war der Geist der Zeit, die Wahrnehmung zu erweitern und Grenzen zu sprengen. Auf der documenta 5 in 1972 war das deutlich zu sehen. Der „Wiener Aktionismus“ war die radikalste Formulierung einer „direkten Kunst“, die sofort Emotionen provozierte. Deshalb bin ich 1973 nach Wien gefahren, um Günter Brus, Otto Muehl und Hermann Nitsch kennenzulernen.
Sie lebten ab 1973 in der Kommune Friedrichshof von Otto Muehl. Wie kam es dazu, dass Sie dort einzogen?
Wir waren vier Studenten und sind mit unserem VW-Bus Richtung Wien gefahren.
Dort erfuhren wir, dass Otto Muehl eine Kommune gegründet hat. Es war ein unglaubliches Erlebnis, diese abenteuerliche Künstler-Enklave in der Praterstrasse, eine vollkommen andere Welt. Besonders prägend war es zu erleben, dass dort Männer und Frauen gleichberechtigte Erscheinungen waren und dass die Frauen unglaublich selbstbewusst waren. Das war nicht selbstverständlich, weil auch in der Alternativ-Szene immer noch meist die Männer das Sagen hatten!
In der Kommune ging es aber nicht nur um die Veränderung der Gesellschaft, sondern auch um die Kunst. Wie viel Kunst war denn im Alltag, wie viel Alltag in der Kunst?
Es ging darum, dass sich jeder so viel wie möglich kreativ einbrachte. Schreiben, zeichnen, Siebdrucke produzieren, eigene Kleidung entwerfen, an unserer Zeitschrift arbeiten. Abends gab es gemeinsame Sitzungen, bei denen Konzepte für Aktionen entwickelt wurden oder an Drehbüchern für Spielfilme gearbeitet wurde.
Ein wichtiger Teil des Zusammenlebens in der Kommune war die „Aktionsanalyse“, die Sie mitgestalteten. Worum genau handelt es sich dabei?
Die Kommunarden machten „Aktionsanalyse“ nach Wilhelm Reich, die das Ziel hatte, sich seiner ganzen „Panzerungen“ zu entledigen, das heißt man provozierte das nochmalige „Erleben“ seiner Kindheit, um Traumata hochzuholen und zu behandeln.
Die „Aktionsanalyse“ geht zurück auf Wilhelm Reich und seine Theorie der „Charakterpanzerung“, die durch den Einfluss der gesellschaftlichen Umstände entsteht und vor allem in der Körperhaltung bzw. im gesamten Verhalten erkennbar ist. Diese Panzerung galt es, aufzubrechen?
Genau. Wobei „auflösen“ ein besserer Begriff ist, auflösen durch emotionales Wiedererleben bzw. durch das Gegenteil, nämlich das Erleben von Geborgenheit und Zuneigung. Es gab „Nester“, in denen man zusammen kuscheln konnte und sich seine Erlebnisse erzählte - ein kollektiver Zustand des Geborgenseins.
In Wien ist dieses Thema mit Freud und der Psychoanalyse aufgemacht worden – und bei Richard Gerstl hat es zu einem Ausbruch von Auflösung und Destruktion in der Malerei geführt. Mit der dramatischen Inszenierung in seinen Selbstporträts hat er Bilder geschaffen, die genau in diese Abgründe hineinschauen.
Im Mittelpunkt stand meist der eigene Körper, was besonders in den damals ziemlich provokativen Selbstbemalungen und Selbstverstümmelungen von Günter Brus, einem zentralen Künstler des Wiener Aktionismus, deutlich wird. Wieso immer wieder der Körper?
Der Körper war das größte Tabu. Und die Literatur der Avantgarde das zweite. Die Schriften von Wilhelm Reich, Antonin Artaud, Max Stirner uva., die nach der Diktatur des Faschismus in den 1950er-Jahren wieder aus dem Giftschrank gezogen wurden, waren wichtige Wegmarkierungen. Brus ging es in der Malerei eigentlich darum, die Malerei zu verlassen. Er hat sich ins Bild geworfen, der Körper wurde zum Instrument. Wann das Bild fertig ist, wurde danach entschieden, ob das Drama sichtbar war. Es gab keine Komposition, keinen Formwillen mehr.
Brus, Muehl und Nitsch haben mit dem emotionalisierten Körper in einem Zustand der Raserei die traditionelle Vorstellung von Malerei vernichtet. Gerade deshalb sind die entstandenen Leinwände als Bilder so wichtig, weil sie die Zerstörungsprozesse wiedergeben, die in unserem Denken und in unseren Körpern manifestiert sind. Es sind Bilder, die einem wie Raubtiere ins Gesicht springen, die psychophysische Ekstase ist als Momentaufnahme gegenwärtig geblieben.
Wenn ich die Selbstbildnisse von Richard Gerstl anschaue, habe ich das Gefühl, ihm direkt in die Seele schauen zu können und den Kampf zu sehen, den er mit der Leinwand ausgefochten hat – eine anderen Möglichkeit hatte er damals nicht.
Ja, bei Gerstl sieht man ein irres Ringen mit dem eigenen Unbewussten, ständige Selbstanalyse und Ausweitung des Empfindens für Energie und Bewegung, was ja in seinen Landschaften sichtbar wird. Sein Blick fordert heraus und sagt uns unumwunden: „Gehe Wagnisse ein, verlasse bekanntes Terrain.“ Der Komponist Arnold Schönberg und Gerstl waren beide auf der Suche danach, ihr Innerstes auszudrücken, Zustände der Dissonanz, des gespalten seins. Beide wollten Grenzen überschreiten und vollkommen Neues erschließen. Schönberg hat Gerstl respektiert, weil er sich von jeglichen bestehenden Kunst-Gruppierungen distanzierte, Gerstl hat Schönberg bei der Auflösung der Kompositionsgesetze vorangetrieben und ihn ermutigt, die Ablehnung des Publikums zu ignorieren. Schönberg war später immens einflussreich für kommende Generationen. Wären Gerstls Bilder um 1909/10 in Berlin und in Paris ausgestellt worden, die Geschichte der Malerei hätte einen anderen Verlauf genommen.
Wann sind Sie das erste Mal mit Richard Gerstl in Berührung gekommen?
Anfang der 1980er-Jahre kam ich auf die Idee, Material über den Wiener Aktionismus zusammen zu tragen, um ein Archiv und eine Sammlung aufzubauen. Dadurch habe ich Hermann Nitsch und Günter Brus kennengelernt – und bin natürlich auf Richard Gerstl gestoßen, weil er für sie, wie auch für Muehl, eine zentrale Figur war.
Es bestätigte mich darin, dass man in Malerei etwas ausdrücken kann, was nur mit dem Material Farbe und einer radikalen Überschreitung von „Gesetzen“ möglich ist. Gerstl wirft die Pinsel weg, greift mit dem Finger in das pastos aufgetragene Öl und macht etwas bis dahin Unsichtbares erfahrbar. In den Gesichtern der beiden "Schönberg"-Bilder wird die bürgerliche Maske, das seriöse Lächeln weg gewischt. Gerstl macht die aufgebrachte Welt in den Köpfen der Abgebildeten sichtbar, modelliert deren Psyche als rhythmischen Ausdruck, die Figuren sind wie aus Erdbrocken oder aus rohem Fleisch.
Wie kam es dann dazu, dass Sie im experimentellen Spielfilm „Back To Fucking Cambridge“ die Rolle des Richard Gerstl gespielt haben ?
Ein Jahr später haben Terese Schulmeister, Otto Muehl und ich gemeinsam Spielfilme über berühmte Künstlerfiguren entwickelt. Entstanden sind dann „aktionistische Portraits“ über Vincent van Gogh, Picasso und Richard Gerstl. Muehl hat das Drehbuch geschrieben, Terese Schulmeister übernahm die Regie. Ich hatte die Idee, befreundete Künstler einzuladen, die in den Filmen als Schauspieler agieren sollten. So wurden wir für ein paar Jahre zum Bollywood im Burgenland.
War ihr Wechsel zur Sprache, zu den Textbildern, ein richtiger Bruch, die vollständige Abwandlung von der Beschäftigung mit dem Körper und auch von der Kommune?
Der Schritt zu den Sprach-Arbeiten war ein vollkommener Bruch. Die Erstarrung des Systems hatte Mitte der 80er-Jahre deutliche Züge angenommen; Otto Muehl wurde immer mehr zu einem „Maximo Líder“, ähnlich wie ein Fidel Castro. Ich habe damals versucht, eine Revolution durch die Kunst gegen dieses „Regime“ zu entfachen, aber das ist gescheitert. Wenn Lebensgemeinschaften über lange Zeiträume ohne „Durchlüftung“ fortbestehen, entwickeln sich kranke hierarchische Strukturen. Die Trägheit der Masse ist am Ende entscheidender als der sichtbar werdende bevorstehende Absturz. Es war ein Albtraum, den Untergang dieser vollkommen pervertierten ehemaligen Utopie mitzuerleben und nicht verhindern zu können, dass die positiven Errungenschaften verloren gingen.
1987 wendete ich mich, in einer Phase der inneren Isolation, Spracharbeiten zu, in denen ich der Anordnung von Wortgebilden auf den Leib rückte. Es wurde damals alles viel zu eng. Es musste ein Entzerren stattfinden. Ich ordnete die Buchstaben zunächst wie auf einer Spielkarte, um in dieser panischen Situation den Begriffen ihre Einsamkeit deutlich zu machen. Eine Art Trauma-Poesie über den Untergang dieses implodierten Kollektivs. Es ging um Begriffe wie Angst, Liebe, Hass um die kollektiven Ekstasen einer gescheiterten Vision und den Verlust einer sozialen Identität.
In einer schweren Lebenskrise habe ich die Sprache als völlig korruptes Medium zu analysieren versucht und auch die traumatischen Entwicklungen verarbeitet, die ich am Ende in der Kommune erlebt habe. Mit meinen „Spracharbeiten“ wollte ich sichtbar machen, dass jede Ideologie und die „aufständischen Begriffe“, die man damit etabliert hat, am Ende die Freiheit verhindern. Freiheit ist ein Prozess ständiger Weiterentwicklung und Veränderung. Und vor allem: Ohne Liebe geht gar nichts. In den folgenden Jahren hat dann übrigens meine Mutter die Texte als Stickbilder umgesetzt.
Und warum dann die Rückkehr zum klassischen Medium Malerei?
Durch den Film über Richard Gerstl kam Otto Muehl zurück zur „Materialmalerei“, es entstanden fantastische Bilder. Ich assistierte im Atelier. Dabei entwickelten sich eigene Vorstellungen über die Verwendung des Materials. Ich habe begonnen, Alltagsobjekte mit Ölfarbe zu behandeln, habe die Form entfremdet und sie wie Pflanzen und Tiere in einem Zoo versammelt. Es wurde immer mehr klar, dass es für mich um den verlangsamten Prozess des Malens geht, gerade nicht als Aktion, also kein Prozess aus Vehemenz und Ekstase. Die Malerei wurde zu einer Art Zeitlupenforschung.
Ich kam dann immer mehr dahin, die Farbe hin zu einem schwebenden Raum zu entwickeln und wieder da anzuknüpfen, wo z.B. Gustav Metzger mit seiner Installation „Liquid Crystal Environment“ hin wollte.
Ihre Bilder entstehen ohne „Werkzeuge“. Was heißt das genau?
Seit 2009 entstehen die Arbeiten ohne jeglichen Einsatz von Utensilien oder Hilfsmitteln. Die Bilder sind das Ergebnis von Interaktionen der "Eigenschaften" Masse, Flüssigkeitsgrad, Schwerkraft und Zeit. Es geht um dickflüssige Schichtungen und die unterschiedlich langen Trocknungsprozesse, die verschiedenen „Aggregatzustände“. Und es geht um die größtmögliche Unbekannte, die beim Zusammenkommen von sich anziehenden oder sich abstoßenden Flüssigkeiten entstehen kann. Sehr komplexe Bilder werden dann im Scanner bearbeitet. Oft sind großformatige Pigment-Drucke die Endstufe, weil dann wesentliche Details der Mikrostrukturen und Überlagerungen sichtbarer werden.
Seit einigen Jahren arbeite ich an Video-Installationen, in denen diese Malerei auf räumliche Situationen übersetzt wird. Wir „verflüssigen“ die Vorlagen im Computer. Dabei werden Prozesse „rekonstruiert“, die beim tatsächlichen Mal-Akt auf ähnliche Weise vorkommen. Ich kann aber auch Konstellationen und Bewegungsabläufe stimulieren, die nur mit dem Computer gemalt werden können. Heute ist es möglich, Farbräume zu kreieren, die den Eindruck erzeugen, dass man in einer Pigmentwolke steht. Die Projektion wird physisch.
Mit dem Projekt VAIGHT, einer 4 Kanal Video Sound Installationen, haben wir an der Volksbühne Berlin zum ersten Mal einen dreidimensionalen Raum bespielen können. Da geht’s jetzt weiter.
Vielen Dank für das Gespräch!