Philipp Kaiser kuratiert in diesem Jahr den Pavillon der Schweiz auf der Vene-dig Biennale. Kuratorin Esther Schlicht sprach mit ihm über den Einfluss des Künstlers Alberto Giacometti auf unsere Gegenwart.
Esther Schlicht: Herr Kaiser, Sie sind Kurator des Schweizer Pavillons auf der Venedig Biennale 2017. Ich habe mich sehr gefreut, als ich gelesen habe, dass Sie eine Ausstellung unter dem Titel „Women of Venice“ planen. Der Titel bezieht sich auf die berühmte Figurengruppe Alberto Giacomettis und Ihr Projekt ist offenbar als eine Art Hommage an Giacometti angelegt. Warum Giacometti jetzt in Venedig?
Philipp Kaiser: Der Schweizer Pavillon wurde von Bruno Giacometti, Albertos jüngerem Bruder, gebaut. Insofern geht es mir darum, eine Ortsspezifik zu formulieren, die narrativ ist und mit diesem Pavillon zu tun hat. Die offizielle Schweiz hat Alberto Giacometti über zwölf Jahre hinweg vergeblich angefragt in diesem Pavillon auszustellen, etwa zur Eröffnung im Jahr 1952. Auch Frankreich hat ihn immer wieder eingeladen in Venedig auszustellen, was er ebenso abgelehnt hat. Außer der Figurengruppe "Femmes de Venise" hat er dort nie etwas gezeigt.
Schlicht: Ja, er hat sich weder von seinem Heimatland noch von dem Land, in dem er über vier Jahrzehnte hinweg hauptsächlich gelebt und gearbeitet hat, in diese Richtung instrumentalisieren lassen.
Kaiser: Was mich interessiert, ist dieser blinde Fleck der Geschichte. Und natürlich ist es auch eine Hommage, um Giacometti noch einmal neu zu denken. Ich glaube, er ist eine unglaublich wichtige Figur für die amerikanische Kunst der sechziger Jahre, weil er eine phänomenologische Vorahnung formuliert hat, die dann sehr wichtig wird, etwa für die Minimalisten. Der Sockel wird abgeschafft, die Theatralik der Figurenensembles, die eigentlich die Autonomie der Figur untergraben, Serialität, Prozess – das sind alles Dinge, die in den sechziger Jahren relevant werden.
Schlicht: Es gibt ja nur wenige Künstler dieser Generation, die sich offen dazu bekennen, aber in manchen Äußerungen, etwa von Donald Judd, schlägt doch eine gewisse Bewunderung für Giacometti durch …
Kaiser: Ja, unbedingt. Mit Michael Heizer habe ich mich kürzlich darüber unterhalten. Giacometti war eine wichtige Scharnierfigur, die auch den Mythos der amerikanischen Stunde Null völlig unterminiert. Seine große Ausstellung 1965 im MoMA war in diesem Sinne ein wichtiger Event.
Schlicht: Ihre Ausstellung in Venedig ist allerdings nicht historisch: Sie laden jüngere, zeitgenössische Künstler ein, sich im Kontext des Schweizer Pavillons mit Giacometti auseinanderzusetzen. Können Sie schon etwas über deren Vorhaben verraten?
Kaiser: Teresa Hubbard und Alexander Birchler etwa haben sich entschieden, eine filmische Arbeit über Giacomettis Verhältnis zu der Amerikanerin Flora Mayo zu machen. Sie haben sich regelrecht in die Mikrorecherche gestürzt und sind der ersten großen Liebe von Giacometti nachgegangen. Flora Mayo war selbst Künstlerin, kam aus einem sehr wohlhabenden Haus aus Colorado und lebte in Paris. 1929, als die Rezession einschlug, musste sie dann wieder zurück in die USA, ist total verarmt und hat alle ihre Arbeiten zerstört. Hubbard und Birchler haben Ahnenforschung betrieben und herausgefunden, dass es einen unehelichen Sohn gibt. Sie haben also wirklich eine neue Geschichte entdeckt. Das alles hat wiederrum viel mit dem Künstlerpaar Hubbard und Birchler zu tun, die ja selbst ein amerikanisch-schweizerisches Paar sind.
Schlicht: Und außerdem wird die Künstlerin Carol Bove im Schweizer Pavillon ausstellen?
Kaiser: Ja, genau. In ihrer Arbeit sehe ich einen interessanten Ansatz über die Frage nach der Autonomie der Skulptur, die ja Giacometti auch beschäftigt hat. Einerseits formuliert er diese Autonomie, andererseits nimmt er sie in seinen Figurenensembles auch wieder zurück. Die neuen Skulpturen von Carol Bove sehen aus wie starke autonome Skulpturen, aber eigentlich begreift sie sie immer in Relation zu anderen Objekten, zu anderen Skulpturen. Und sie interessiert sich für dieses ontologische Moment von Giacomettis Skulpturen, die Vertikalität und die Essenz der Skulptur. Auch die Frage der Fiktionalität der Skulptur, also Materialität versus Fiktionalität, ist eine, die in Giacomettis Arbeit vorformuliert ist.
Schlicht: Inwieweit reagiert denn ihr Projekt auch auf die Architektur des Pavillons?
Kaiser: Carol Bove macht eine große Arbeit mit zwei Skulpturen in der hohen Skulpturenhalle. Und im Außenbereich, im Hof, wird sie sieben Skulpturen zeigen, die sich lose auf einen Wald beziehen und damit auch auf den Baum, der im Pavillon wächst - eine Figurengruppe zwischen Wald und Giacomettis „Femme de Venise“. Und die interagieren natürlich miteinander.
Schlicht: Und den Pavillon selbst – werden Sie den verändern?
Kaiser: Im Eingangsbereich des Schweizer Pavillons stand früher eine Wand. Die wird nun wieder hineingebaut, weil ich das räumlich besser finde. Es wird also ein bisschen zurückgebaut, aber nur temporär.
Schlicht: Um noch einmal auf Giacometti zurückzukommen: Haben Sie denn den Eindruck, dass bei zeitgenössischen Künstlern der jüngeren Generation wieder ein Interesse für Giacometti da ist?
Kaiser: Ich habe mich zum Beispiel mit der US-amerikanischen Künstlerin Louise Lawler über Giacometti unterhalten. Für ihre Generation war Giacometti eine wichtige Figur zwischen Spätmoderne und Postmoderne. Aber bei den ganz Jungen? Das ist eine gute Frage! Ich glaube durch eine Ausstellung wie Giacometti-Nauman wird es jungen Leuten ermöglicht, Giacometti wieder neu zu sehen. Weil dieses ganze essentialistisch-humanistische Existentialismus-Denken der 1950er-Jahre den Künstler so zugemüllt hat, dass man eigentlich vergisst, wie wichtig er war, oder? Und worum es ihm eigentlich wirklich ging.
Schlicht: Ja, ich denke auch, dass es erst wieder interessant wird, wenn man sich von den Themen und Inhalten löst und die skulpturalen Ansätze und Konzepte anschaut. Erst dann wird deutlich, wie wichtig Giacometti für gewisse Entwicklungen in der zeitgenössischen Kunst nach 1960 ist.
Kaiser: Absolut. Eine formalistische Lektüre macht es viel interessanter.
Schlicht: Es ist auch bemerkenswert, dass sich kaum junge Kunstwissenschaftler mit Giacometti beschäftigen. Dadurch passiert eben auch nicht viel. Aber jetzt noch mal zu Venedig: Wird denn Giacometti selbst auch im Pavillon zu sehen sein?
Kaiser: Nein. Ich habe darüber lange nachgedacht, aber schließlich habe ich ihn herausgenommen. Ich finde wir tragen alle Giacometti in uns, gewissermaßen, oder ein Bild von Giacometti. Ich wollte nicht, dass der Eindruck entsteht: Giacometti wollte nie dort ausgestellt werden doch jetzt kommt der Kurator und stellt ihn da rein. Das wäre unangemessen.
Schlicht: Vielen Dank für die Ausführungen. Ich bin sehr gespannt und freue mich auf den Schweizer Pavillon in Venedig!
Kaiser: Danke!