Der in Berlin lebende Fotograf und Künstler Joseph Wolfgang Ohlert untersucht in seinem Fotoband "Gender as a Spectrum" die Identität abseits von ausgetretenen Wegen. Ein Interview auf dem SCHIRN MAGAZIN
Clemens Jahn: In der SCHIRN läuft zurzeit die Ausstellung ULAY. LIFE-SIZED über den deutschen Foto- und Performance-Künstler Ulay. Es gibt einige Parallelen zwischen Ulays Werk – mit seinem starken Fokus auf Trans-Gender und Gender-Identität – und deinem Fotobuch "Gender as a Spectrum", das du Anfang dieses Jahres veröffentlicht hast. Darin porträtierst du Menschen mit den unterschiedlichsten Gender-Identitäten, jenseits festgefahrener Geschlechterauffassungen und -zuordnungen, und präsentierst damit Gender-Identität als etwas Offenes und Dynamisches, als Möglichkeitsraum und nicht als etwas Gegebenes. Wie kam es zu diesem Projekt?
Joseph Wolfgang Ohlert: Ursprünglich war "Gender as a Spectrum" das Abschlussprojekt meines Fotografiestudiums. Davor hatte ich viel im Mode-Bereich gemacht und mir wurde klar, dass ich ein Projekt brauchte, bei dem es nicht nur darum geht, wie Leute aussehen. Ich wollte ein Thema finden, das auf die Suche nach mir selbst ausgerichtet ist: Wer bin ich eigentlich? Wer möchte ich sein? Was unterscheidet mich als schwuler Mann von einem Hetero-Mann? Wie unterscheide ich mich von einer Frau? Welche persönlichen Eigenschaften stehen in Verbindung mit meiner äußerlichen Erscheinung und meinem Geschlecht? Diesen Fragen wollte ich anhand von Portraits von Leuten nachgehen, die sich selbst gefunden haben oder auf der Suche nach sich sind. Vielleicht bin ich auch deswegen nach Berlin gekommen. Hier gibt es viele Leute die sich selbst infrage stellen. Solche Menschen brauche ich um mich herum. In meinem Buch habe ich sie porträtiert. Kaey, eine Trans-Freundin von mir, hat die Textredaktion des Buchs übernommen. Am Anfang dachten wir an etwa 20 bis 30 Portraits, am Ende waren es 80. Das Bildmaterial war so gut, dass wir mehr daraus machen wollten. Ich habe eine Crowdfunding-Seite erstellt, damit 10.000 Euro gesammelt, mir den Rest geliehen und dann das Buch selbst herausgebracht.
CJ: Du bist in Bayern und Baden-Württemberg aufgewachsen. Hast du das Gefühl, dass es in Berlin einfacher ist, sich solche Fragen zu stellen, Identität als etwas zu begreifen, das man sich selbst schafft oder aussucht und weniger als etwas Gegebenes oder Vorherbestimmtes?
JWO: In Berlin gibt es vielleicht mehr Leute, die sich selbst infrage stellen. Das hat mich von Anfang an sehr inspiriert. Insofern kann ich schon sagen, dass ich in Berlin geblieben bin, weil es hier Leute gibt, die mir dabei helfen, mich selbst besser kennenzulernen und dass das für mich hier besser funktioniert als in Süddeutschland. Wenn die Leute sich dort wohlfühlen und mit der gegebenen Struktur und ihrem Leben glücklich sind, ist alles in Ordnung. Wenn sie sich aber nicht wohlfühlen, dann ist das schlimmste was sie tun können, sich selbst zu belügen.
CJ: Du bist nach Berlin gekommen um zu studieren?
JWO: Nach dem Fachabitur in Baden-Württemberg bin ich zuerst nach München gegangen, habe viel am Theater als Regie- und Bühnenbildassistent gearbeitet und bei studentischen Filmproduktionen mitgearbeitet. Dann bin ich ans Deutsche Theater nach Berlin gegangen und habe die Stadt zum ersten Mal richtig kennengelernt. Ich habe mich dann an der Fotoschule Ostkreuz beworben, wurde angenommen und habe erst dort damit angefangen, mich mehr auf Fotografie zu fokussieren. Letztes Jahr habe ich dort abgeschlossen und studiere nun bildende Kunst im dritten Semester an der Universität der Künste (UdK) Berlin.
CJ: Du hast für "Gender as a Spectrum" aber nicht nur in Berlin fotografiert sondern bist auch herumgereist.
JWO: Das stimmt. Das hat sich so ergeben. Ich habe in Berlin angefangen zu fotografieren und hatte ursprünglich nicht geplant, für das Projekt zu verreisen. Das Projekt dauerte dann allerdings zwei bis drei Jahre in denen ich viel unterwegs war. Dabei habe ich gemerkt, dass es anderswo auch interessante Leute gibt. Mit Hilfe von Facebook konnte ich immer recht schnell Leute finden, die sich für das Projekt porträtieren ließen. Jetzt sind in dem Buch Bilder von Menschen aus Berlin, San Francisco, New York, Kopenhagen, Paris …
CJ: Unter den Portraitierten mischt sich dein engerer Freundeskreis mit Freunden von Freunden, Bekannten und auch Fremden?
JWO: Die meisten Porträtierten kannte ich zuvor gar nicht. Ich hatte vor dem Projekt auch nur wenig Ahnung vom Thema „Gender“. "Gender as a Spectrum" war ein Versuch, mich selbst zu begreifen – und zwar nicht im Sinne einer Zuordnung zu einem bestimmten Begriff, sondern als fluiden Menschen, der mit Maskulinität und Femininität spielen kann. Viele Leute verwechseln Sexualität mit der geschlechtlichen Identität. Ich musste selbst erst lernen, dass das zwei komplett verschiedene Dinge sind. Das habe ich mit der Arbeit an dem Buch begriffen und habe versucht, diese Erkenntnis darin zum Ausdruck zu bringen und mit anderen zu teilen. Das zeichnet das Buch aus: dass ich bei dessen Entstehung selbst einen Lernprozess durchgemacht habe.
CJ: Ich könnte mir vorstellen, dass der gut gewählte Titel "Gender as a Spectrum" zum Erfolg des Buchs beiträgt. Gab es diesen Titel von Anfang an, oder hat er sich erst im Laufe des Projekts entwickelt?
JWO: Der Titel ist ein Zitat von Emma Watson, die 2014 im United Nations Headquarters eine Rede zum Thema Geschlechtergleichstellung hielt. „Gender as a spectrum“ brachte für mich auf den Punkt, dass es nicht einfach nur Mann und Frau gibt und dann noch „die anderen“, die „Gender-Fluids“. Tatsächlich sind wir alle im gleichen „Gender-Pool“. Wenn jemand sagt, er sei ein Mann, dann ist das seine Entscheidung. Was ein Mann ist, kann aber nur er für sich selbst definieren, und auch nur für diesen einen Moment. Ich sage immer: Mann und Frau sind die Leinwand und der Pinsel und was du damit malst, ist das was du bist.
CJ: In der Ulay-Ausstellung gibt es eine Fotoarbeit, in der sich Ulay die eine Gesichtshälfte als Dragqueen schminkt, während die andere Gesichtshälfte ungeschminkt und unrasiert bleibt. Die Arbeit stammt aus den 1970er-Jahren und veranschaulicht möglicherweise das Grundproblem eines binären Geschlechterbildes, das nur zwei Möglichkeiten – Mann oder Frau – kennt: dazwischen ist nichts, es gibt keinen fließenden Übergang, nur eine harte Linie. Glaubst du, dass sich dieses binäre Denken in der Zwischenzeit etwas aufgelockert hat? Dass die jüngeren Generationen offener für bzw. interessierter an fließenden Geschlechter-Übergängen sind?
JWO: Viele Leute fühlen sich von dieser Frage noch immer überfordert. Deswegen habe ich das Buch gemacht: um einem breiten Publikum zu zeigen, dass es bei Gender nicht nur um irgendwelche Rollen und Fixpunkte geht, sondern um einen Pool in dem man selbst entscheiden kann, wer man ist. Eine Transfrau, beispielsweise, hat vielleicht noch einen Penis, aber das macht sie nicht mehr oder weniger zu einem Mann oder einer Frau. Viele verwechseln das und sagen: „Das ist ja keine richtige Frau, die hat noch einen Penis.“ Das finde ich total bescheuert. Wieso macht ein Penis jemanden zum Mann? Das ist doch nur eine körperliche Erscheinung. Viele verstehen nicht, diese Körperlichkeit von der Person an sich zu trennen. Das erfordert ein Umdenken – auch bei mir. Ein großes Problem liegt aus meiner Sicht auch darin, dass unsere Sprache so stark auf dem Prinzip Mann und Frau basiert. Daran ändert sich zwar gerade einiges und man kann immer „fluider“ sprechen. Es gibt aber noch keine endgültige Antwort darauf, wie man frei von diesem Stigma miteinander kommunizieren kann.
CJ: Gibt es konkrete Vorbilder die dich inspiriert oder der Arbeit eine gewisse Perspektive gegeben haben? Oder ist das Projekt eher aus sich heraus gewachsen?
JWO: In der Art wie ich fotografiere gibt es sicher Vorbilder. Und ich sehe mich viel um, halte die Augen offen und war oft auf Parties von Dragqueens, wo ich angefangen habe Leute kennenzulernen. Das Projekt selbst ist aber eher aus sich heraus gewachsen. Es gibt zwar schon viele Bücher über Transleute, mir ging es aber um die Personen an sich. Ich wollte ein Portraitbuch für jedermann machen, weil jeder eine Gender-Identität besitzt, und nicht nur für die LGBTQ-Szene.
CJ: Was ist es, das dich an der Fotografie als Medium interessiert? Warum die Entscheidung, mit einem mittlerweile eher klassischen Medium zu arbeiten und nicht bspw. mit Film, 3D-Animation oder Performance?
JWO: Ich bin technisch nicht allzu versiert. Ich erzähle den Leuten auch immer, dass ich ein schlechter Fotograf bin, weil ich überhaupt keine Ahnung von dem habe was ich mache. Ich weiß lediglich wie ein gutes Bild auszusehen hat: Komposition, Farbe, Position und dann drücke ich ab. Ich fotografiere mit der alten Kamera meiner Mutter. Ich habe zwar alles in der Schule einmal gelernt, aber alles auch wieder vergessen, weil es mich nicht interessiert. Insofern kann ich mit komplexeren Medien auch nicht so wahnsinnig viel anfangen.
CJ: Das heißt, die Fotografie ist ein Medium, mit dem du schnell und einfach ans Ziel kommst?
JWO: Genau. Die Kamera ist für mich vor allem auch ein Medium mit dem ich mit Leuten in Kontakt treten kann, ein Medium, das vermittelt. Es ist einfach und schnell und ich komme damit nah an eine Person heran. Natürlich muss man dazu mit den Leuten auch richtig kommunizieren können, aber die Kamera selbst funktioniert bereits wie ein Ice-Breaker. Du bist sehr nah an jemandem dran und gleichzeitig schafft die Kamera eine Distanz. Das ist ein ungemein interessantes Zwischenspiel. So habe ich mit der Fotografie meinen Weg gefunden mit Leuten zu kommunizieren. Wer weiß, ob ich in Zukunft auch weiterhin Fotos machen werde. Gerade ist es gut und ich mag es zu fotografieren. Ich habe vor, noch stärker in Richtung Publikation zu gehen, nicht nur mit meinen eigenen Bildern, sondern auch mit denen anderer Fotografen.
CJ: Woran arbeitest du zurzeit? Hier liegt ein Entwurf für ein neues Fotobuch.
JWO: Ich habe gerade tausend Ideen. Unter anderem drei Bücher, mit denen ich angefangen habe. Ich liebe Bücher. Seit meinem zwölften Lebensjahr sammle ich Fotobücher. Dieses neue Buch mit seitenfüllenden Collagen ist gerade erst fertig geworden, hätte aber schon letztes Jahr veröffentlicht werden sollen. Es hat sich noch etwas hingezogen. Der Verlag wollte ein anderes Cover als ich und ich habe mich stur gestellt. Nächstes Jahr wird es ein weiteres Buch in Zusammenarbeit mit dem Verlag Bruno Gmünder geben. Letzte Woche hatte ich eine Ausstellung – „Posterboys“ – wo ich Fotos von Jungs aus meinem Portfolio auf Plakate gedruckt und verkauft habe. In zwei Wochen stelle ich in der UdK aus, wo ich Fotos von Penissen zeige, die ich im Close-Up fotografiert habe, was neu für mich ist, weil ich noch nicht viele Penisse fotografiert habe. Ich fotografiere zwar oft nackte Leute, aber ohne Penisse. Für mich war das eine Herausforderung: einen Penis vor dem Gesicht zu haben und zu fotografieren.
Aber das größte Projekt, das gerade anläuft, ist der Projektraum, den ich Anfang nächsten Jahres hier in Berlin eröffnen werde: eine Mischung aus Studio, Büro und Galerie, wo ich mit Leuten zusammenarbeiten werde, mit denen ich bereits an anderen Projekten gearbeitet habe. Von dort aus möchte ich an Kunstbüchern und Magazinen arbeiten und es wird ab und zu Ausstellungen von Künstlern geben – ein offener Ort für die Dinge die mich gerade interessieren, wo man frei arbeiten, sich ausprobieren und austoben kann. Dabei geht es mir in erster Linie darum, mit anderen Leuten etwas zu machen. Das muss nicht immer nur gut sein – es darf auch mal scheiße sein. Ich freue mich schon sehr darauf. Mal sehen was daraus wird.
CJ: Viel Erfolg damit und vielen Dank für das Gespräch.