Aus der deutschen Vorstadtsidylle in die brasilianischen Favelas: Künstler Igor Vidor stellt die perfiden Polizeipraktiken eindrucksvoll an den Pranger und kommentiert die fatalen Auswirkungen des Exportes deutscher Waffen.
[Triggerwarnung: Polizeigewalt, Schusswaffen]
Aus der deutschen Vorstadtidylle auf die Straßen der brasilianischen Favelas: das Produkt Gewalt ist eine hochgradig lukrative Handelsware, die unter der Werbekampagne „Sicherheit“ die Straßen Brasiliens heimsucht. In seiner Kunst kommentiert der brasilianische Künstler Igor Vidor die fatalen Auswirkungen des Exportes deutscher Waffen nach Süd- und Nordamerika seit nunmehr als hundert Jahren. Im Jahr 2019 fielen in Brasilien über 6000 Menschen der Polizeigewalt zum Opfer. Allein im Staat Rio wurden über 1800 Menschen getötet. Es handelt sich insbesondere um Menschen Schwarzer, Indigener und marginalisierter Communities, die 70% der ärmsten Bürger*innen Brasiliens ausmachen. Die verwendeten Waffen stammen aus Europa und den USA. Darunter auch aus der deutschen Manufaktur Heckler & Koch in Oberndorf am Neckar. Diese Stadt exportiert seit über hundert Jahren Waffen für den amerikanischen Kontinent.
Igor Vidor stellt die perfiden Polizeipraktiken im öffentlichen Raum eindrucksvoll an den Pranger. In der Berlinischen Galerie ist ab dem 10. September eine Auswahl seiner Videoarbeiten erstmalig in Deutschland zu sehen. Gemeinsam mit Gustav Elgin, der den Künstler bei seinen Recherchearbeiten für seine neueste Arbeit „A Praga“ (dt. „Die Plage“) in Oberndorf am Neckar begleitete, sprachen wir über neokoloniale Systeme, Deutschlands Waffenindustrie und den Status quo der Gewaltgesellschaft.
Gustav Elgin & Darja Zub: Igor, dein Engagement gegen die auf Willkür und Rassismus basierte Polizeigewalt im öffentlichen Raum Brasiliens zwang dich nach Deutschland ins Exil. Seit 2019 lebst du in Berlin. Ist das nicht ironisch, da Deutschland zu den Top-5 Waffenexporteuren der Welt zählt?
Igor Vidor: In der Tat ist es interessant, dass meine Lebensumstände mich ausgerechnet nach Deutschland brachten. Denn von Deutschland hatte ich als Kind nicht wirklich was gehört. Es war die Musik, die mein Interesse an Deutschland zum ersten Mal weckte, nämlich der Rap Song „Diário de Um Detento“ (dt. „Tagebuch eines Insassen“) der Hip-Hop Gruppe Racionais. Dieses Lied rekurriert auf das Massaker im Gefängnis Carandiru im Norden von São Paulo im Jahr 1992, bei dem Polizisten 111 Menschen erschossen. Ausgangspunkt für diesen Massenmord war ein Aufstand der Insassen gegen die inhumanen Zustände in dem Gefängnis. Auch Adolf Hitler kam in diesem Rap-Song vor, der „nach dem Massaker aus der Hölle lächelt“ sowie Waffenmarken der Waffenmanufaktur Heckler & Koch, die eine Waffe produziert, die „Diebe durchlöchert wie Papier“.
Zu diesem Zeitpunkt war ich elf Jahre alt und konnte diese Namen nicht zuordnen, mich aber mit der philosophisch-gesellschaftskritischen Ebene identifizieren: Racionais rappten über mich, meine Freunde und meine Nachbarn. Es ging um meine Community in den Randbezirken der Großstädte, die Polizeigewalt als „normal“ empfand. Es gehörte einfach dazu. Als Heranwachsender und nachdem meine Freunde im Kugelfeuer – ohne Prozess – starben, leuchtete es mir ein: das ist nicht normal. Das ist kein normales Verhalten der Polizei. Dieses traumatische Erlebnis trieb mich der Frage nach, wieso ausgerechnet in meinem Leben, meiner Nachbarschaft, Gewalt fest zum Alltag gehört.
Der Alltag sieht folgendermaßen aus: Polizisten stürmen Häuser, sie erschießen Familien mit der Legitimierung, dass es sich um Häuser der Drogenkartelle handelt. So auch im Fall deines Freundes im Jahr 2016, der durch 12 Schüsse einer MP-5 starb. Ein Prozess – Gerechtigkeit – findet nicht statt. Wie kann das sein?
Die gesellschaftlichen Probleme meines Heimatlandes sind mit einer der größten global-kapitalistischen Perspektiven verknüpft: einer Nekropolitik, die bestimmt, welche sozialen Gruppen leben und sterben. Dabei werden die Dichotomien Gefahr und Sicherheit, Kriminelle und Reiche, Böse und Gute, Peripherie und Zentrum zementiert und Gewalt als Sicherheitswerkzeug maskiert. Besonders gut eignet sich das „Label“ Drogendealer, aber auch deine Hautfarbe, die Tatsache, dass du arm bist, einer Minderheit angehörst, ist ausreichend, um dein Leben zu bedrohen. Indem Armut kriminalisiert und Angst produziert wird, wird das profitable Geschäft ja erst möglich: Du verkaufst der Angst Sicherheit, die selbst durch rigorose Gewalt unanfechtbar wird.
Das ist Business of Protection: Das sind nicht nur Polizeigewalt, dazu zählt der Privatbesitz von Waffen, auch Technologien zur Massen-Überwachung. Von der Angst ernährt sich diese Industrie, Angst ist profitabel. Und Angst ist territorial: sie ist verwoben mit den Favelas, den Randbezirken, in denen es viel Armut gibt. Wo Angst vor Moral regiert und Gewalt zur Sicherheit wird, kann es keine Gerechtigkeit geben. Also bauen Brasilianer*innen in reichen Nachbarschaften Zäune, rüsten sich privat auf und sehen zu, wie die Polizei Menschen tötet. In Oberndorf ist das genaue Gegenteil der Fall. Es ist so ruhig, es gibt keine Zäune, keine Überwachungsvideos. Das ist die neokoloniale Logik, dass Angst und Gewalt als Ware exportiert wird. Solange dieses systemische Gefälle nicht erkannt und dekonstruiert wird, frisst die Gewaltgesellschaft sich selbst.
In deiner Videoarbeit „Carne e Agonia“ (dt. „Fleisch und Agonie“) zeigst du ballistische Waffentests und untertitelst diese mit Interviewaussagen eines Polizisten und eines Drogendealers. Dein Versuch mit den Dichotomien zu brechen?
Für mich sind diese Stigmen >Gut gleich Polizist< und >Böse gleich Drogendealer< zwei Seiten derselben Medaille. Die Perspektive legt das Narrativ fest. Für mich ausschlaggebend war eher das Videomaterial ballistischer Tests von den Waffen, die meine Freunde töteten und was diese Waffen dem Körper antun. Die Schockwellen sind so gewaltig, dass sie in wenigen Sekunden Krater in der Größe von Basketbällen im Körper hinterlassen. Diese Technologie ist so ausgelegt, dass sich niemand auch nur von einer Kugel erholen kann. Diese Waffen schießen bis zu 700 Kugeln pro Minute. Was hat das mit Sicherheit zu tun? Besonders wenn man bedenkt, dass diese Waffen in manchen Ländern auch verboten sind, wie in Deutschland selbst. Jedoch werden sie in andere Länder exportiert, in Länder wo Menschenrechte nicht beachtet werden.
Der Tod ist zu einem der rentabelsten Geschäfte geworden. Die Idee des Staates wird durch Grenzziehungen und Gewalt in der Geschichte definiert. Und so ist Brasiliens Geschichte auch eine Geschichte der Gewalt und des Todes, sie fußt in der Versklavung und Ermordung von Indigenen und in der Ausbeutung ihres Landes. Wie etwa das Massaker an dem Volk der Canudos im Jahr 1897– mit deutscher Munition aus den Fabriken Mauser, der Vorahnen von Heckler & Koch, die auch 1939 bis 1945 die Nationalsozialisten aufrüsteten. Dieser historisch-strukturelle Rahmen, wie die brasilianische Gesellschaft entstanden ist und wie die globale Waffenindustrie seit der Kolonisierung durch den Export von Terror ein lukratives Geschäft führt, ist der Kern meiner Arbeit.
Wo Angst vor Moral regiert und Gewalt zur Sicherheit wird, kann es keine Gerechtigkeit geben.
Deine neueste Videoarbeit „A Praga“, die in der Berlinischen Galerie zu sehen ist, thematisiert den Export von Terror nach Brasilien als Plage. Du verblendest Found Footage Aufnahmen mit eigenem dokumentarischem Material und einer narrativen Inszenierung in Oberndorf am Neckar. Wieso verwendest du Fantasie als Werkzeug?
Zu allererst wollte ich wissen, wo das Zentrum dieses Herstellers ist, deren Waffen mein Privatleben so dominieren. Also fuhr ich dorthin, um in diesem Territorium zu sein. Würde ich es sehen, schmecken oder riechen können, dass diese Stadt Gewalt exportiert? Als ich dort war, war ich von der Stille, die die Stadt umgab, schockiert. Auch neben der Fabrik ist es unheimlich leise, wenn man bedenkt wie viele Waffen dort produziert und getestet werden. In Brasilien gehört der Geräuschpegel von Massenschießereien zum Alltag. Das Found Footage Material, das ich verwende und mit eigenen Videoaufnahmen vor Ort fusioniere, stammt aus den Medienarchiven in Brasilien und zeigt Polizeieinsätze, die von Journalisten aufgezeichnet und in Fernsehen und Massenmedien ausgestrahlt wurden.
Wie eine Plage zirkulieren diese Bilder in den Medien, denn in Brasilien sind diese Videos ungemein profitabel. Die unmittelbare Nähe zu den Polizisten und ihren Waffen kommt einer perfiden Spektakularisierung von Gewalt gleich. Diese Bilder überblende ich mit den Aufnahmen in Oberndorf. Den grenzziehenden Kontrast und den damit evozierten Widerspruch beider Territorien – die Straßen Brasiliens, die vom Terror heimgesucht werden, und dann das ruhige Umfeld dieser Kleinstadt, wo Terror produziert wird – will ich aufbrechen. Ziel ist es, das Ausmaß der Gewaltexporte als kapitalistisches System visuell zu machen. Wie ein Journalist suche auch ich nach verdeckten Verstrickungen, ich versuche das System zu durchleuchten, aber was kann ich als Individuum gegen das System ausrichten? Was soll ich tun, wenn das System mich nicht verteidigt? Hier war die Fiktion für mich ein geeignetes Werkzeug. Ich entschied mich für einen fantastischen Protagonisten, einen Geist derjenigen, die in diesem Terror umgekommen sind. Er kehrt zurück zum Ursprung und bringt den Terror in diese historische Stadt zurück, die seit dem 19. Jahrhundert Gewalt in die Länder Amerikas exportiert.
Wir entdecken beim Gang durch die Stadt und das Waffenmuseum neben den Modellen, die in die Länder Lateinamerikas Ende des 19. Jahrhunderts exportiert worden sind, insbesondere auch eine historische Fotografie aus dem Jahr 1887: Sie zeigt eine gehisste brasilianische Flagge. Daneben gibt es ein Zitat Winston Churchills, der Dank der deutschen Technologie trotz seiner schmerzenden Schulter den Krieg im Mittleren Osten gewonnen hat. Was wäre gewesen, wenn Churchill im Zweiten Weltkrieg nicht am Leben gewesen wäre? Der bittere Eindruck wird geweckt, dass diese Stadt ihre eigene Geschichte als Retter über die Nationalsozialisten schreiben möchte. Die Tatsache, dass die Waffenmanufaktur – damals als Mauserwerke – das Hitler-Regime aufgerüstet hat, wird ausgeblendet. Es waren auch Mauser-Waffen, die in die Länder Amerikas verkauft wurden und Indigene Völker ermordeten. Oberndorf ist ein zentraler Ankerpunkt der deutschen Kolonialgeschichte und ihres kapitalistischen Ökosystems der Gewaltexporte. Ich wollte diese Firma und ihre Gründerväter einfach verfluchen und das Leid und die Gewalt zurückbringen.
Oberndorf ist ein zentraler Ankerpunkt der deutschen Kolonialgeschichte und ihres kapitalistischen Ökosystems der Gewaltexporte.
Deine Arbeiten sind politisch aufgeladen und deine Herangehensweise ist investigativ – das hat dich auch in der Bolsonaro Regierung in Schwierigkeiten gebracht. Politische Kunst zahlt ihren Preis in einer Zeit der kapitalistischen Herrschaftssysteme. Wie findest du die Balance zwischen Widerstand und deiner Existenz als Künstler?
Für Künstler*innen aber auch Journalist*innen, die Widerstand leisten und ihre Meinung äußern, gibt es Konsequenzen. Deswegen bin ich in Deutschland. Der Preis ist unterzutauchen und sein altes Leben zurückzulassen. Künstler*in zu sein bedeutet auch Teil des Systems zu sein, auch wenn es ein großer Widerspruch ist. Doch der Kunstmarkt flirtet mit den Machtsystemen und als Künstler bin ich aufgefordert einen Raum zu suchen, an dem meine Werte und mein Lebensunterhalt koexistieren können. Auch die Menschen in Oberndorf sind Teil des Systems, sie servieren den Waffenherstellern Abendessen, sie schneiden ihre Haare. Durch die Gelder, die teilweise aus den Profiten der Waffenindustrie stammen, floriert die Stadt – aus diesen Gewinnen wird auch Kunst gefördert.
So liest man in Berlins Alte Nationalgalerie auch den Namen des Waffenherstellers Krupp neben Gemälden der europäischen Alten Meister. Es ist ein Kreislauf, den die Elite reguliert; und in einer nekropolitischen Welt bezahlt jemand anderes mit seinem Leben dafür. Kunst muss die systemischen Verstrickungen offenlegen, andere Narrative erzählen und das ist meine Essenz: Ich will mein Wissen teilen, ich will die Verstrickungen offenlegen und die Menschen damit konfrontieren. Dass ich in Deutschland bin, weil ich jene Gewalt in Brasilien kritisiert habe, die aus Deutschland exportiert wird, bildet diesen Kreislauf ab. Wie die Kugeln, die die Körper meiner Freunde durchdrungen haben und unter anderemaus der Manufaktur Heckler & Koch stammen und um die Welt zirkulieren, zirkuliert auch Geld und Kunst. Wir alle sind Teil des größten globalen Netzwerks aus Vertrieb und Einkauf. Wir müssen diese Machtstrukturen, die Verbindungen von Armut als Profit und als Teil des globalen Kapitalismus, welche Gewalt als Ware vermarktet, sichtbar machen. Gewalt ist die Grundlage der Nekropolitik und der ökonomischen Selbstbereicherung der Eliten.
Das Gespräch führten Gustav Elgin & Darja Zub