Erst waren es nur die Gedanken der Künstlerin, die man in Briefen und ihrem Tagebuch lesen konnte. Dann kamen die Briefe und Tagebucheinträge von Otto Modersohn ans Licht. Wir haben mit seiner Enkelin Antje Modersohn über das bewegte Leben des Künstlerpaars gesprochen.

Der Briefwechsel umfasst den Zeitraum von 1895, dem Jahr der ersten Begegnung Paula Beckers mit der Malerei Otto Modersohns in einer Ausstellung der Kunsthalle Bremen, bis zum Jahr 1908, in dem die Erschütterung der Familie und Freunde nach dem Tod Paula Modersohn-Beckers im November 1907 schriftlichen Ausdruck findet. Dieser eröffnet ganz neue Perspektiven auf die individuellen Charaktere von Paula Modersohn-Becker und Otto Modersohn sowie deren von großem Respekt getragenen Beziehung zueinander. Ein Gespräch mit Modersohns Enkelin gibt einen persönlichen Einblick in das Leben und Werk des Künstlerpaars.

Frau Modersohn, in welchem Verwandtschaftsverhältnis stehen Sie zu Paula Modersohn-Becker? Könnten Sie sich einmal vorstellen?

Ich bin die Enkelin von Otto Modersohn. Mein Vater Christian Modersohn ist der jüngste Sohn aus Otto Modersohns dritter Ehe mit der Sängerin und Malerin Louise Modersohn-Breling. Mit Paula Modersohn-Becker bin ich also nicht verwandt.

Sie haben den Briefwechsel zwischen Paula Becker und ihrem späteren Mann Otto Modersohn herausgegeben, enthalten sind auch Tagebuchauszüge der Beiden sowie Briefe an Freunde und Familie. Unter welchem Gesichtspunkt haben Sie die Schriftstücke ausgewählt?

Es gab keine Auswahl, das Buch gibt den vollständigen Briefwechsel wieder, ohne Kürzungen.

Es entstand eine Primärliteratur unter der Herausgeberschaft der Paula Modersohn-Becker- Stiftung in Bremen und der Otto Modersohn-Stiftung in Fischerhude. Die aussagekräftigsten Tagebuchauszüge hingegen wurden gemeinsam von den Herausgebern ausgewählt.

Welcher Brief oder welcher Tagebucheintrag ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben? Otto Modersohns Brief vom 6. April 1906 an Paula Modersohn-Becker: „Du suchst Freiheit. Nimm' alle Freiheiten, reise, lebe von mir getrennt mal, wohne bei Brünjes auch des nachts, tue alles, was Deiner Natur nötig ist.“

Hat sich durch die Herausgabe der Briefe Ihre Sicht auf Otto Modersohn, Paula Modersohn-Becker und deren Kunst verändert?

Nicht meine Sicht und Wertschätzung auf ihre Kunst, wohl aber meine Sicht auf die Persönlichkeiten der beiden.

Paula Becker und Otto Modersohn lernten sich in Worpswede kennen und schätzen – zunächst durch ihre Kunst. Menschlich gesehen hielt Otto Modersohn Paula Becker für zu ungestüm, häufig kam es zu Meinungsverschiedenheiten. Lässt sich in ihrem Briefwechsel erkennen, wieso aus Freundschaft doch eine Beziehung wurde?

Mir ist nicht bekannt, dass Otto Modersohn sie für ungestüm gehalten hätte. Diese Charakterisierung träfe wohl eher auf Clara Westhoff zu. Man muss sich vorstellen: Paula Becker war gerade 24, als sie den elf Jahre älteren, frisch verwitweten Otto Modersohn kennenlernte. Kein Wunder, dass sich der stille, eher introvertierte Künstler an die selbstbewusste junge Frau, ihr unkonventionelles, manchmal gewiss überschäumendes und bisweilen auch rebellisches Temperament gewöhnen musste. Auch fiel es ihm schwer „mit ihr zu schwingen“, wenn sie ihn – malend im Atelier vorfindend – spontan zu einer Schlittschuhpartie überreden wollte.

Am 27. September 1900 schreibt er dann in sein Tagebuch: „Lange standen wir uns sympathisch gegenüber. Immer stärker, ganz von selbst, verwandelte die Zuneigung sich in glühende Liebe. Am 12. September verlobten wir uns. [...] meine Paula ist ein einziges Mädchen. Sie strebt nach echtem künstlerischem freiem Leben, hat reiche Veranlagung, und feinstes Verständniß für alle Künste, besonders für Malerei. [...] “ Otto Modersohns erste Frau Helene Schröder war ja gerade erst nach langer Krankheit verstorben und eine neue Bindung vor Beendigung des Trauerjahres wäre ihm von seiner Familie verübelt worden. Es war eher Paula Becker, die zur Bindung drängte, wie Otto Modersohn in einem Brief an Gustav Pauli erinnerte.

Wie sah das tägliche Leben des Künstlerpaares aus?

Ihr Tag war streng geregelt. Nach einem gemeinsamen Frühstück gab Paula der Haushälterin Anweisungen, was zu tun war. Dann brachen beide Künstler in ihre jeweiligen Ateliers in Worpswede auf, Paula in ihren nicht weit vom Wohnhaus entfernten Arbeitsraum auf dem Hof des Bauern Brünjes, in den Modersohn ihr ein großflächiges Oberlicht einbauen ließ. Zum Mittagessen traf man sich wieder zuhause, um nach einer kurzen Ruhepause und einem Kaffee erneut an die Staffelei zu gehen. Abends wurde geschrieben oder gelesen, Paula spielte Klavier und Otto zeichnete seine Kompositionen.

Der Sonntagvormittag war ihren gegenseitigen Atelierbesuchen vorbehalten. Dann wurde begutachtet, was der jeweils andere während der Woche gearbeitet hatte. Zu Mittag fand man Paula in der Küche. Es folgten dann nach der Mittagsruhe Besuche der Familie und der Freunde. Abends trafen sich die Freunde u.a. auch Rainer Maria Rilke und Carl Hauptmann auf Heinrich Vogelers Barkenhoff. Am 30. 12. 1900 schreibt Paula Becker an ihre Tante Marie Hill: „Draußen leben wir eine stille Gemeinde: Vogeler und seine kleine Braut, Otto Modersohn und ich, und Clara Westhoff. Wir nennen uns: die Familie. Wir sind immer Sonntags beieinander und freuen uns aneinander, und teilen viel miteinander. So mein ganzes Leben zu leben ist wunderbar.“

Sie strebt nach echtem künst­le­ri­schem freiem Leben, hat reiche Veran­la­gung, und feins­tes Verständ­niß für alle Künste, beson­ders für Male­rei.

Otto Modersohn
Paula Modersohn-Becker in ihrem Atelier bei Brünjes, um 1905, Foto: Karl Brandt

In einem Tagebucheintrag bezeichnet Otto Modersohn seine spätere Frau als „ultramodern“. Wie würden Sie die Persönlichkeit Paula Modersohn-Beckers beschreiben?

Er hielt Paula eher für künstlerisch sehr begabt, aber auch für „ultramodern, frei bis zum Excess, verbildet“, ohne eine Spur von Naivität, „sähe alles vom großen Pariser Standpunkte“ aus,  , würde sich wohl schwertun einem Haushalt vorzustehen etc. So seine Bedenken gegenüber seinem Tagebuch vom Juli-August 1900. „In der Kunst verstehen wir uns zwar, aber im Leben nie“. Kurz darauf, im September 1900: „Paula Becker zieht mich wieder an. Verständnis hat sie doch sehr viel, anregend ist sie doch sehr, wie hier keine, es ist ein interessantes Mädchen ohne alle Frage. Äußerlich regt sie mich auch sehr an, ihr Auge, ihr Dunkles, sonniges Auge - ihre freie Haltung“. Sie war neugierig und wissbegierig, las neue Literatur, u.a. Nietzsches „Gedichte und Sprüche“, und wusste Rainer Maria Rilke und Otto Modersohn durch ihre Bildung zu beeindrucken. Die Aufenthalte in den Großstädten Berlin und Paris, mit den dort empfangenen vielfältigen Eindrücken und künstlerischen Anregungen mögen auch ihre Wirkung hinterlassen haben. Ansonsten bietet der Briefwechsel vielerlei Einblicke in ihre Persönlichkeit.

Wie ist das Werk Otto Modersohns in der Kunstgeschichte zu verorten, im Gegensatz zu dem von Paula Modersohn-Becker?

Otto Modersohn hat ein außergewöhnlich umfangreiches malerisches und zeichnerisches Werk hinterlassen, das im 19. Jahrhundert wurzelt und sich in die Tradition der französischen Landschaftsmalerei stellt, jedoch keiner kunsthistorischen Strömung zugeordnet werden kann. Er wird heute zu den wichtigsten Landschaftsmalern seiner Zeit gezählt, der seine künstlerischen Ziele mit den Begriffen Einfachheit, Intimität und Innerlichkeit definierte und seine kreative Kraft aus der geistigen Versenkung in die Natur schöpfte.

Obgleich Paula Modersohn-Beckers Werk heute international hoch geschätzt wird – Otto Modersohn schreibt bereits 1902: „In aller Stille wird sie weiter streben u. eines Tages alle in Erstaunen setzen“, wartet es dennoch auf eine eindeutige Einordnung in die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts, die ihre außergewöhnliche Rolle am Beginn der Moderne in Deutschland würdigt. Die Bewertung eines Werkes ist abhängig vom Standpunkt des Wertenden. Nachdem sich die Kunstgeschichte von einer zeitlich linear verlaufenden Moderne unter dem Gesichtspunkt einer der Konvention entsagenden Avantgarde mit ständig wechselnden Ismen verabschiedet hat und der Unabhängigkeit und Unverwechselbarkeit der singulären künstlerischen Position eine stärkere Bedeutung verleiht, hat sich auch die Wertschätzung des Gesamtwerks Otto Modersohns gewandelt.

In aller Stille wird sie weiter stre­ben u. eines Tages alle in Erstau­nen setzen.

Otto Modersohn
Paula Modersohn-Becker, Dämmerungslandschaft mit Haus und Astgabel, um 1900 © Kunsthalle Bremen - Der Kunstverein in Bremen

Otto Modersohn, Dorfstraße in Worpswede, 1897, Image via www.modersohn-museum.de

In den Tagebucheinträgen Otto Modersohns wird immer wieder Kritik laut an der künstlerischen Herangehensweise seiner Frau. Worin unterschieden sich die Beiden in Bezug auf ihre Kunstanschauung?

Ausgehend von dem gemeinsamen Erlebnis der Landschaft Worpswedes und der in ihr lebenden Menschen, strebten beide – in der Abneigung gegen Konvention, Pathos und Veräußerlichung – Einfachheit an, als malerisches Programm und als menschliche Haltung. In Otto Modersohn fand Paula Becker einen kritisch verständnisvollen, zuweilen begeisterten Förderer ihrer künstlerischen Entwicklung. Er erkannte die außergewöhnliche Begabung Paula Beckers als erster und verteidigte sie gegen das Unverständnis innerhalb des Worpsweder Künstlerkreises und ihrer eigenen Familie. Nach vier ausgesprochen glücklichen Ehejahren (glaubt man der Korrespondenz und den Tagebucheintragungen) kam es im Jahr 1905 zu ernsten Spannungen, die durch Enttäuschungen, Missverständnissen und gegenseitigem Unverständnis auch künstlerischer Art begründet waren. Otto Modersohn beklagt in seinem Tagebuch „Eigensinn und Beratungsresistenz“ und von Paula Modersohn-Beckers Seite wird das zunehmend eintönige und spannungslose Leben in Worpswede zur Sprache gebracht. „Paula macht mir in ihrer Kunst lange nicht so viel Freude wie früher. Sie nimmt keinen Rath an. [...] Sie ist hochkoloristisch – aber unmalerisch hart, besonders in ausgeführten Figuren“, bemerkte Otto Modersohn 1905.

Aber auch dieser zunehmend kritische Blick Otto Modersohns auf ihre Malerei wird zum Zerwürfnis beigetragen haben. Zudem fühlte er sich durch manche fundamentale Infragestellung seiner Malerei verunsichert. Paula Modersohn-Becker zweifelte spätestens ab 1905 an der künstlerischen Potenz ihres Mannes, je mehr sie sich mit den aktuellen Tendenzen der französischen Avantgarde auseinandersetzte. Ihre ungewöhnliche Selbständigkeit im Leben wie in der Kunst und ihr zielstrebiger Instinkt für die Kunst ihrer Zeit führten sie zu eigener Bildsprache, die sich in dem von ihr und Otto Modersohn gebrauchten Begriff „das Ding an sich in Stimmung“ manifestierte. Im Gegensatz zu den Landschaften Otto Modersohns, die von Luftperspektive, Atmosphäre, Licht- und Schattenspiel getragen sind, schildert Paula Modersohn-Becker die Dinge in möglichster Ausschaltung der Raumtiefe ganz aus der Nähe. Sie erfasst die Dinge, ob Landschaft oder Figur in einfachen, großen Formen und malte gewissermaßen alles als beseeltes Stillleben, das Ding an sich betonend, vom Gegenstand ausgehend.

Eindringlich und oft monumental muten einige ihrer Porträt- und Figurenbilder an. Das Bildformat fast ausfüllend, zeigen sie eine zuweilen bedrängende Präsenz. Gerne wird Paula Modersohn-Becker als Vorläuferin des Expressionismus vereinnahmt. Konzeptionell hat sie allerdings mit den Bildfindungen des Expressionismus nichts gemein Charakteristisch ist für ihre Malerei die Betonung der Form, bei Ausschluss der Licht- und Schattenwirkungen. Immer haben die Figuren und Dinge eine stille Verfasstheit – Ruhe statt Erregung. Stellt man nur eines ihrer Bilder in einen Raum mit Bildern des Expressionismus wird man die Unterschiede bemerken und die Besonderheit der Stellung Paula Modersohn-Beckers am Beginn der Moderne wertschätzen.

Eindring­lich und oft monu­men­tal muten einige ihrer Porträt- und Figu­ren­bil­der an. Das Bild­for­mat fast ausfül­lend, zeigen sie eine zuwei­len bedrän­gende Präsenz.

Antje Modersohn

Lassen sich gegenseitige Einflüsse im Werk der Beiden erkennen?

Der Kunsthistoriker Günter Busch hat einmal bemerkt, es gebe manche Bilder, in denen der gegenseitige Einfluss so groß gewesen sei, dass sie sich zum Verwechseln ähnlich seien. Dem kann ich aus heutiger Sicht nicht zustimmen. Manches Bild, das man in früheren Jahren Paula Modersohn-Becker zugeschrieben hatte, musste der Hand Otto Modersohns zugerechnet werden. Aber es gibt zum Beispiel. in der Sammlung Haubrich in Köln immer noch ein Landschaftsbild, das unter dem Namen seiner Frau geführt wird aber von ihm gemalt wurde. Ich warte seit Jahren auf die Umwidmung.

Je intensiver man sich mit der Malerei der beiden Künstler beschäftigt, desto deutlicher treten die Unterschiede ihrer Haltungen zu Tage.  „In der Grundanschauung verwandt – in den Äußerungen verschieden“, notiert Modersohn 1900 und am 15. Februar 1902 schreibt er: „Wundervoll ist dies wechselseitige Geben und Nehmen; [...] sie ist eine echte Künstlerin[...] Keiner kennt sie, keiner schätzt sie – das wird anders werden“. Er profitiere vom Großen, Lapidaren und Modersohn-Becker vom malerisch Intimen. Inwieweit dieser Austausch in den Bildern seinen Ausdruck fand, mag jeder selbst vor den Bildern ergründen.

Paula Modersohn-Beckers Kunst richtete sich entschieden gegen das Konventionelle, zum Beispiel durch ungewöhnliche Farbkombinationen oder der verfremdeten Darstellung von gängigen Bildmotiven. Was macht ihren Stil ihrer Meinung nach besonders?

Vor ihren Bildern wird deutlich, dass die Gegenstände ihrer Stillleben und das Inkarnat ihrer Akte und Porträts zumindest bis 1906 noch weitgehend der Lokalfarbe verhaftet waren. Über die Besonderheiten ihrer Malerei hatte ich ja schon gesprochen. In Paris beklagte sie 1905, dass die Farbe ihrer Bilder oft zu „saucig“, zu braun sei und Frische vermissen ließen. Andererseits berichtet Otto Modersohn, dass ihr die leuchtende Farbigkeit der Franzosen, der Impressionisten wie der Nachimpressionisten, ein Gräuel gewesen seien.

Mit Otto Modersohn lebte sie in der Künstlerkolonie Worpswede, aber auch immer wieder für längere Zeit alleine in Paris. Wie haben diese so unterschiedlichen Orte ihr Werk geprägt?

Pendelnd zwischen Worpswede und Paris, wo sie sich von den spätantiken Mumienporträts im Louvre ebenso anregen ließ wie von Cézanne und Gauguin, rang Paula Modersohn-Becker stets um ihre Freiheit – als Künstlerin und als Frau. Auch ein Besuch im Atelier Henri Rousseaus inspirierte sie zu einem großen Porträt Lee Hoetgers. Einflussreich wirkten auch die Bilder Van Goghs, man denke nur an das späte Bild der „Dreebeen“. Spuren der genannten Maler findet man in einigen ihrer Figurenbilder, Porträts und Stillleben. Auch mag sie wohl bei einem Besuch der Galerie Vollard etwas von Picasso erspäht haben, ohne dass dieser Einfluss tatsächlich belegbar wäre. „Ich möchte das rauschende, volle, erregende der Farbe geben, das mächtige. Meine Pariser Arbeiten (06/07) sind zu kühl und einsam und leer. […]“, schreibt sie in ihrem letzten Lebensjahr, das erfüllt ist von farbsatten, die Kontur betonenden Bildern mit starker Formvereinfachung und einer Weiterentwicklung der in Paris gewonnenen Einsichten.

Ich möchte das rauschende, volle, erre­gende der Farbe geben, das mäch­tige [...]

Paula Modersohn-Becker
Paula Modersohn-Becker, Sitzender Mädchenakt mit Blumenvasen, 1906/1907 © Von der Heydt-Museum Wuppertal

1900 machte sie in Worpswede auch Bekanntschaft mit Rainer Maria Rilke, der später ihre Freundin Clara Westhoff heiratete. Welche Rolle spielte diese Freundschaft für Paula Modersohn-Becker?

Die Wertschätzung dieser Freundschaft ist geteilt. Das Jahr 1900 ist geprägt von Rilkes Besuchen in ihrem Atelier, ohne dass er sich mit ihrer Malerei auseinandergesetzt hätte. In seinem Tagebuch äußert er sich ausführlich über seine Besuche, die von intensivem geistigen Austausch und sympathischer Nähe zeugen. Zum vorübergehenden Bruch kam es nach kritischen Bemerkungen Modersohn-Beckers über seinen vereinnahmenden Einfluss auf das Wesen der Bildhauerin Clara Westhoff, die er 1901 geheiratet hatte. Erst im Winter 1905/1906 kommt es zu einer Wiederannäherung, der ein intensiver Austausch mit dem Ehepaar Rilke über ihre menschliche und künstlerische Entwicklung folgt, die dann zur vorübergehenden Trennung von Otto Modersohn und ihrem Fortzug nach Paris führte. Dort malte Modersohn-Becker ihr berühmtes kleinformatiges Porträt von Rilke, das wohl unvollendet blieb und von ihm, vielleicht aus erschrockener Selbsterkenntnis, nicht gemocht wurde.

Inwiefern hat Otto Modersohn zum Nachruhm seiner früh verstorbenen Frau beigetragen? Wie kam es, dass aus der unbekannten Künstlergattin nach ihrem frühen Tod eine der bekanntesten Malerinnen in Deutschland wurde, die sogar als fast einzige Frau 1912 beim Kölner Sonderbund zusammen mit van Gogh und Picasso ausgestellt wurde?

Wie der Briefwechsel nun belegt, bemühte sich Otto Modersohn schon zu ihren Lebzeiten um Ausstellungsbeteiligungen seiner Frau. So stellte die Berliner Galerie Fritz Gurlitt 1906 leider vergeblich einige Bilder neben denen Otto Modersohns und seiner Kollegen aus. Auch die Kunsthalle Bremen zeigte 1906 einige Bilder mit positiver Resonanz. Nach ihrem Tod gab es eine erste Ausstellung in Worpswede in der Galerie Philine Vogeler, die dann 1908 erweitert in der Kunsthalle Bremen gezeigt wurde. Ausstellungen im Museum Folkwang in Hagen und in Wuppertal schlossen sich an. Die Kunstsammler und -mäzene Karl-Ernst Osthaus und Baron von der Heydt erwarben Bilder. Die Galerie Alfred Flechtheim zeigte Bilder, wie auch die Galerie Cassirer in Berlin. Gustav Pauli kaufte Bilder für die Hamburger Kunsthalle und Heinrich Vogeler, Bernhard Hoetger, Georg Biermann und Curt Störmer betätigten sich mit persönlichem Erfolg als Kunsthändler und partizipierten an den sich rasch entwickelnden Preisen bei starker Nachfrage der Sammler und einem begrenzten Angebot.

1913 erschien dann ein erster Auszug der Briefe und Tagebuchblätter in der Kestner-Gesellschaft in Hannover, dem dann Buchausgaben mit zahlreichen Neuauflagen folgten und den Nachruhm noch vor den Bildern begründete. Die Wertschätzung kulminierte dann 1927 im ersten, einer Malerin gewidmeten Museum in der Bremer Böttcherstraße, in dem die von dem Bildhauer und Architekten Bernhard Hoetger zusammengetragene Sammlung Roselius eine Heimstatt fand. Verantwortlich für den Hype vor dem ersten Weltkrieg mag zum  Teil auch ihr tragisches Schicksal gewesen sein, dem das Schicksal van Goghs Pate stand, dessen Rezeption und Vermarktung in den Jahren ab 1909 parallel verlief.

BRIEFWECHSEL ZWISCHEN PAULA MODERSOHN-BECKER UND OTTO MODERSOHN

LESUNG PAULA MODERSOHN-BECKER

Dienstag, 19. Oktober 19 Uhr, Schauspieler*innen Verena Güntner und Robert Levin lesen Auszüge aus dem Briefwechsel zwischen Paula Modersohn-Becker und Otto Modersohn

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