Kuratorin Martina Weinhart im Gespräch mit Anishinaabe-Filmemacherin Lisa Jackson und Chief Negotiator der Gwa’sala-Nakwaxda’xw Nations Colleen Hemphill.
SCHIRN-Kuratorin Martina Weinhart sprach im Oktober 2020 mit Anishinaabe-Filmemacherin Lisa Jackson und Colleen Hemphill, einer Vertreterin der Gwa’sala-Nakwaxda’xw Nations, über ihre Videoarbeit „How a People Live“, in der sie anhand von Interviews und historischem Filmmaterial die Geschichte und die Folgen der traumatischen Umsiedelung der Gwa’sala-‘Nakwaxda’xw First Nation dokumentiert. [Anm. d. Redaktion]
Der 2013 erschienene Dokumentarfilm „How a People Live“ wurde von den Nakwaxda’xw und Gwa’sala First Nations in Auftrag gegeben. Er handelt von der Zwangsumsiedlung der Indigenen Völker, die 1964 ihr traditionelles Territorium an den Smith und Seymour Inlets sowie den benachbarten Inseln an der Küste British Columbias verlassen und in die Tsulquate Reserve übersiedeln mussten. Fangen wir vorne an: Wie kam es zu diesem Filmprojekt?
COLLEEN HEMPHILL (CH): Die Ältesten und die Gemeinschaft der Gwa’sala-Nakwaxda’xw Nations (GNN) hatten dazu aufgefordert, unsere Geschichte zu dokumentieren und mit Zeitzeugen zu sprechen, die sich noch an diese furchtbaren Maßnahmen der kanadischen Regierung erinnern konnten und 1964 die tragische Umsiedlung miterlebt hatten. In den frühen 1990er-Jahren hatten wir schon einmal einen erfolglosen Versuch gestartet, einen solchen Film zu realisieren. Diesmal waren die GNN bereit und auch finanziell in der Lage, mit einer Historikerin und mit Lisa Jackson, einer sehr renommierten Indigenen (Anishinaabe-)Regisseurin, zusammenzuarbeiten.
LISA JACKSON (LJ): Die Gwa’sala-Nakwaxda’xw sprachen mich an, weil sie Filmarbeiten von mir im Fernsehen gesehen hatten. Als Erstes nahm ich dann an einem einwöchigen Medienworkshop für Jugendliche teil, der im Rahmen des Programms „Our World“ in der Gemeinschaft in Tsulquate stattfand. Mehrere Angehörige dieser Gemeinschaft drehten bei dem Workshop Filme, unterstützt von Mentor*innen (wie mir). Außerdem durchforstete ich im Archiv die umfangreichen Bild- und Schriftquellen, die die GNN zusammengetragen hatten. Der Workshop fand in einem Gebäude im Zentrum der Tsulquate Reserve statt, sodass die Bewohner jederzeit vorbeikommen, sich dort treffen und austauschen konnten. Am Ende der Woche fand eine Filmvorführung statt, auf der ich auch einige meiner Kurzfilme vorführte, über den geplanten Dokumentarfilm sprach, und zu Gesprächen einlud. Da ich ja aus einer anderen Nation und einem anderen Territorium stamme, war es wichtig, dass die Menschen mich nicht nur als Regisseurin kennenlernen, sondern auch als Mensch, dem sie sensible und traumatische Erlebnisse anvertrauen würden.
Meine Aufgabe war es, die Geschichte der GNN aus ihrer Sicht zu erzählen. Es fehlte zwar nicht an Medienberichten und ethnografischen Studien über diese Nationen seit den Anfängen der Kolonisierung, doch das war stets der Blick von außen, aus kolonialistischer Perspektive, die viel Schaden angerichtet hat. Umso wichtiger war es, im Film nun die Geschichte der GNN unter besonderer Berücksichtigung der Umsiedlung, die so großes Leid mit sich brachte, zu schildern. Durch ihn konnten die jüngeren Gemeinschaftsmitglieder viel lernen, die Erfahrungen der Älteren sollten gewürdigt werden, und Außenstehende würden einen wahrheitsgemäßen Einblick in das Schicksal der GNN erhalten, alles aus in einer nicht mehr kolonialistischen Perspektive. Ich erarbeitete ein kurzes Exposé zur möglichen Form des Films undgrübelte nach der Zustimmung einen Monat über mehr als 1000 Seiten Archivmaterial sowie Dutzende von Bildern. Daraus entwickelte ich ein detailliertes Szenario mit drei Handlungssträngen: die Archivquellen, eine Bootsfahrt zu den Homelands, dem ehemaligen Territorium der GNN, sowie Erfahrungsberichte von Mitgliedern der Gemeinschaft.
Es fehlte zwar nicht an Medienberichten und ethnografischen Studien [...] doch das war stets der Blick von außen, aus kolonialistischer Perspektive, die viel Schaden angerichtet hat.
Das Ziel der Deportation war Tsulquate. Ein Satz aus dem Film ist mir in besonderer Erinnerung geblieben: „Wir lebten vom Land und wussten, das war unsere Heimat. Alles kommt vom Land.“ Könntet ihr diese Vorstellung vom Land näher beschreiben? Sie scheint so ganz anders zu sein als in europäischen Gesellschaften.
CH: Land und Meer ermöglichen uns, das Leben in diesem Teil der Erde zu meistern. Alte Mythen und Legenden erzählen, wie unsere Urahnen durch die Gaben von Land und Meer die Nationen und Clans unserer Vorfahren begründen konnten. Diese erhielten die Gebote der Harmonie und Liebe, der Nachhaltigkeit, Achtung und Wertschätzung der Familie, nach denen sie leben sollten. Man braucht nur unseren überlieferten Zeremonien beizuwohnen, um zu spüren, dass diese grundlegende Ordnung der Dinge, die auf dem Land und dem Meer basiert, heute noch in Liedern, Tänzen und Reden weiterwirkt. Diese Gebote gelten für alle Lebewesen, auch für reglose Felsen. So handelt etwa die Metsa-Legende davon, wie der Nerz den Felsen heiratet.
Die Interviews mit den Ältesten haben mich sehr bewegt – die Traumata, die sie durch die Zwangsumsiedlung erfahren haben, aber auch durch Einschränkungen wie das Verbot des Potlatchs, die Einweisung der Kinder in Internate und weitere Maßnahmen. War die Arbeit an dem Film auch Teil eines Heilprozesses?
CH: Eine interessante Frage – und es stimmt, während der Dreharbeiten haben wir erste Anzeichen von Heilung bemerken können. Dieser Prozess setzt sich heute noch fort, indem die den GNN angehörenden Menschen über ihre Ursprünge nachdenken, über die Auswirkungen der Kolonisierung und die Wege, die wir künftig beschreiten wollen – über die Verantwortung, die wir haben, das zu bewahren, was unseren Nationen, unseren Gesellschaften am Anfang der Zeit anvertraut wurde.
Wie kam es zu dem Filmtitel?
CH: Eigentlich auf zwei Wegen: Zum einen war da das Buch eines ehemaligen kanadischen Regierungsbeamten. Er war für die Distrikte mehrerer First Nations zuständig – und angesichts des Regierungsprogramms und der Umsiedlung der GNN glaubte er, dass unsere Indigenen Nationen bald untergehen würden. Er schrieb einen Roman, der in den frühen 1970er-Jahren in Kanada unter dem Titel „How a People Die“ erschien. Unser Film „How a People Live“ war gewissermaßen eine Antwort auf diese furchtbare Prophezeiung. Und zum anderen sagt in dem Film ein Erbhäuptling bei einem traditionellen Sagwoombalah in einem Nakwaxda’xw-Dorf, nachdem der junge Buddy Walkus ein heiliges Lied über Liebe und Achtung gesungen hat: „This is how our people lived.“ Unsere sehr einfühlsame Regisseurin Lisa griff das auf; sie schlug den Titel vor, als wir eine Rohfassung des Films ansahen, und dabei blieb es dann.
Land und Meer ermöglichen uns, das Leben in diesem Teil der Erde zu meistern.
Die Fahrt zu den Homelands ist zugleich eine Reise zurück in die Geschichte und wirft ganz grundlegende, komplexe Fragen danach auf, wie man einer Geschichte nachspüren kann, die vorher doch anders erzählt wurde. „How a People Live“ kombiniert Interviews mit den Ältesten und neues Filmmaterial, das bei einer Fahrt ins Dorf der Vorfahren entstand, mit Archivgut. Könntest du etwas zu deiner Recherche sagen, was für Materialien es da gab, wo und wie du dann deine Auswahl getroffen hast?
LJ: Das Bild- und Schriftquellenarchiv warumfangreich und von den GNN vorher zusammengestellt worden. Ich habe die Gelegenheit genutzt, uns das Archiv wieder anzueignen, sodass die GNN als Autoren ihrer eigenen Geschichte in den Mittelpunkt rücken würden. Das sind keine Bilder von passiven Beobachtern mehr, der Film und die Fotografien lassen die Ereignisse durch die Augen der Gemeinschaft wieder lebendig werden. Und die historischen Schriftdokumente offenbaren in erschütternden Details die Haltung der Kolonisatoren, den Leidensweg, der mit ihrer Ankunft begann, die Systeme, die sie schufen, um die Indigenen Völker des von ihnen vereinnahmten Landes zurückzudrängen und zu kontrollieren. Vor den Dreharbeiten habe ich ein Resümee der historischen Materialien erstellt, die für den Film nützlich sein könnten, sodass ich mich vor der Filmproduktiongenau in der Geschichte auskannte.
Du verwendest dabei sehr interessante Filmausschnitte. Edward Curtis’ „In the Land of the Head Hunters“ von 1914 wurde in British Columbia vor Ort mit einer rein Indigenen Besetzung gefilmt, denn man hoffte, das Publikum mit prachtvollen Darbietungen des Kwa’kwaka’wakw (Kwiakutl)-Volkes zu beeindrucken. Heute allerdings wird dieses wegweisende filmische Unternehmen vielfach kritisiert. Wie siehst du das heikle Material, das du in deinen Film einbezogen habt?
LJ: Wir haben gelernt, wie subjektiv Archivmaterialien sind, wie oft ihnen die Vorurteile und unausgesprochenen Annahmen außenstehender Sammlerinnen und Sammler solcher Bilder anhaften. Zu Edward Curtis: Ich habe lange recherchiert, vor allem über die Entstehungsgeschichte des Films, der große Beachtung fand. Man kann kritisieren, dass Curtis die Wirklichkeit der Kwa’kwaka’wakw verzerrt darstellte – der reißerische Titel negiert jeden Hinweis auf das moderne Leben und Curtis entwickelte eine Handlung, die sich für ein populistisches „Drama“ eignete, für das breite Publikum. Trotzdem ist der Film wertvoll, denn man sieht, wie Vorfahren der Gemeinschaft, von der „How a People Live“ handelt, vor über 100 Jahren traditionelle Lebensweisen vor der Kamera präsentierten. Die Kwa’kwaka’wakw stellten Kostüme und Requisiten damals unter der Leitung von George Hunt her, der dann während der Vorbereitungszeit und den Dreharbeiten von „In the Land of the Head Hunters“ (inzwischen umbenannt in „In the Land of the War Canoes“) mit Curtis zusammenarbeitete und heute als einer von dessen wichtigsten Indigenen Mitarbeiter angesehen wird.
Die Frage „Wer spricht?“ ist immer spannend, was auch die Frage beinhaltet, wessen Stimme in der Gesellschaft gehört wird. Wir zeigen den Film im Zusammenhang mit der kanadischen Moderne, um einen vielstimmigen und vielschichtigen Kontext zu schaffen, der neue, differenzierte Sichtweisen auf deren Bildproduktion eröffnet. Wie steht ihr zu den in Kanada üblichen Darstellungsmustern?
CH: Ich mag die Werke der Group of Seven sehr, weil sie die wunderschöne Landschaft Kanadas festhalten. In den Gemälden fehlen allerdings die Menschen, die seit Tausenden von Jahren in dieser Landschaft leben und Land und Meer in dem unberührten Zustand bewahrt haben, den die Group of Seven in ihren Bildern darstellen konnte. Später hat Emily Carr an der Westküste dann einige dieser Menschen in ihre Werke einbezogen.
LJ: Die Geschichte der Indigenen Völker in den Gebieten, die heute Kanada heißen, wurde die längste Zeit aus einer kolonialistischen Perspektive erzählt – und das ist heute noch so, obwohl sich die Dinge gerade ändern. Das brachte für viele hier lebende Indigene Nationen großes Leid mit sich, und Generationen von Kanadier*innen wurde die Wahrheit über ihr Land vorenthalten, dessen kolonialistische Ziele die Vertreibung, Entmenschlichung und Auslöschung Indigener Völker erforderten. Inzwischen werden wir in Film und Medien besser dargestellt, und es gibt auch viele Indigene Filmemacherinnen und Filmemacher, deren eindrucksvolle Werke in und außerhalb Kanadas Lob und Anerkennung finden: von Alanis Obomsawins Filmen über Zacharias Kunuks „Atanarjuat – Die Legende vom schnellen Läufer“ bis zu Elle-Máijá Tailfeathers’ „The Body Remembers When the World Broke Open“.
Allerdings besteht noch immer die Tendenz, Indigene Völker als die „Anderen“ darzustellen, uns zu romantisieren, unsere Erfahrungen auf Trauma und Opferdasein zu reduzieren oder uns auf andere Arten und Weisen zu zeigen, die uns unsere Handlungsfähigkeit und volle Menschenwürde nehmen. Wenn es um die Hoheit über die Narrative auf dem Bildschirm geht, fällt oft der Leitsatz „Nichts über uns ohne uns“. Kanada bewegt sich langsam auf eine gerechtere Bildschirmkultur zu, die den Stimmen jener Gehör verschafft, die so oft außen vor gelassen wurden, wenn es darum ging, die Geschichte des Landes zu erzählen, von Indigenen Völkern über Einwandererinnnen und Einwanderer bis hin zu anderen, deren Geschichten – bis jetzt – nur selten beachtet wurden.
ARTIST TALK
NOTHING ABOUT US WITHOUT US
Lisa Jackson im Gespräch mit Kuratorin Martina Weinhart. Am Donnerstag, 4. März 2021, 19 Uhr.