Die Künstlerin Dora García über mysteriöse Verführer und die Grenze zwischen Fiktion und Wirk­lich­keit. Ein E-Mail-Interview.

Als ich anfing über Dora García zu recherchieren, um mich auf unser Gespräch vorzubereiten, entdeckte ich auf ihrer Webseite zahlreiche Onlineprojekte, darunter auch ein E-Mail-basiertes Projekt, und mir kam die Idee: Warum nicht mal etwas anderes probieren als das übliche Gesprächsformat? Warum das Interview nicht mit der Praxis der Künstlerin verbinden? Also mailten wir uns über einen Zeitraum von zwei Wochen – zu Themen wie dem Verwischen der Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit, den Romeos und der mysteriösen Welt der Spionage. Nach einer Weile fühlte ich mich selbst wie eine Hüterin von Geheimnissen.

Dora García ist eine zeitgenössische spanische Künstlerin. Sie studierte bildende Kunst an der Universidad de Salamanca und an der Rijksakademie in Amsterdam. Ihre Werke wurden international ausgestellt, und 2011 vertrat sie Spanien auf der 54. Biennale von Venedig. Ihr Fokus liegt auf der Interaktion mit den drei Säulen des Kunstbetriebs: dem Werk, dem Publikum und dem Raum.

Dora García, Foto: Bruno Simão

Am Sonntag, 30. August 2020 um 23:41 schrieb Natalie:

Hallo Dora,

ich hoffe, es geht dir gut! Bei meiner Recherche für unser Gespräch habe ich überlegt, ob du Lust hättest, dass wir es etwas anders als sonst machen? Wir könnten versuchen, ein E-Mail-Interview zu führen, indem ich mit einer Frage beginne, und das setzen wir dann so fort.

Sag Bescheid, ob du Interesse daran hast.

Natalie

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Von: dora garcia
Gesendet: Montag, 31. August 2020 um 11:09 Uhr
An: Natalie
Betreff: Re: Kontakt für Interview – zu We never sleep

Ein E-Mail-Interview finde ich ein sehr gutes Format. Wir können loslegen, wann immer du magst!

Ich freue mich.

Dora

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Am Dienstag, 1. September 2020 um 16:33 schrieb Natalie:

Prima, dann fangen wir direkt an!

Was hat dich zur Kunst geführt? Wolltest du schon immer Künstlerin werden?

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Von: dora garcia

Gesendet: Mittwoch, 2. September 2020 um 6:35 Uhr

An: Natalie

Betreff: Re: Erste Frage(n)

Mit dieser Frage habe ich ja gar nicht gerechnet! Nein, ich wollte ursprünglich nicht Künstlerin werden, aber ich habe mich schon immer für Film und Literatur interessiert, eigentlich mehr als für Bildende Kunst. Das Kunststudium begann ich dann als einen Weg der Nonkonformität. Das brachte den Stein ins Rollen, und nun bin ich Künstlerin, ohne mich eigentlich je dafür entschieden zu haben; das Einzige, was ich mir bewusst vorgenommen habe, war, einen Beruf zu finden, in dem ich meine Zeit so nutzen kann, wie ich will. Ich komme mir auch (oft) so vor, als ob ich gar keine Künstlerin wäre, sondern mich nur als eine ausgebe.

Ein Zauber­künst­ler ist ein Schau­spie­ler, der die Rolle eines Zauber­künst­lers spielt.

Jean-Eugène Robert-Houdin

Am Donnerstag, 3. September 2020 um 05:33 schrieb Natalie:

Ach, tatsächlich? Glaubst du, dass daher auch deine Faszination für das Verwischen der Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit kommt, die in deiner Arbeit oft präsent ist?

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Von: dora garcia

Gesendet: Donnerstag, 3. September 2020 um 9:49 Uhr

An: Natalie

Betreff: Re: Erste Frage(n)

Ich glaube, die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit ist immer verwischt. Wenn ich sage, dass ich gar keine Künstlerin bin, sondern mich nur als eine ausgebe, dann beschreibt das, wie ich es empfinde. Ich glaube, das geht allen Künstler*innen ein Stück weit so. Mir fällt da das berühmte Zitat von Jean-Eugène Robert-Houdin ein: „Ein Zauberkünstler ist ein Schauspieler, der die Rolle eines Zauberkünstlers spielt.“ Denn ich glaube, wir alle sind Schauspieler, und ich spiele eben die Rolle einer Künstlerin. Von dieser Vorstellung handelt auch ein Buch, das mich sehr beeinflusst hat: „Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag“ von Erving Goffman. Darin steht im Grunde genommen, dass man im Medizinstudium weniger das Fachliche erlernt als die Weise, wie ein Arzt spricht, wie er sich bewegen und verhalten soll.

Wir arbeiten jeden Tag an unserer Rolle, damit sie glaubwürdig ist; und gelingt es uns aus irgendeinem Grund nicht, diese Erzählung zu konstruieren, dann ist das eine Katastrophe. Kinder wissen das sehr gut, genauso wie Freud. Das heißt aber nicht, dass die Dinge nicht wahr wären, dass es keine Realität gäbe, sondern es bedeutet, dass wir eine Erzählung konstruieren müssen, die die Wahrheit erträglich macht, die uns die Wirklichkeit aushalten lässt. Das führt jetzt hoffentlich nicht zu weit weg von der Frage :)

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Am Sonntag, 6. September 2020 um 17:27 schrieb Natalie:

Überhaupt nicht, Dora, deine Antwort finde ich sehr gut. Sie hat mich zum Nachdenken gebracht, und genau darum geht es ja in der Kunst. Du hast Goffman und Freud als Einflüsse genannt – gibt es noch andere, die dich inspiriert haben?

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Von: dora garcia

Gesendet: Montag, 7. September 2020 um 12:55 Uhr

An: Natalie

Betreff: Re: Inspirationen?

Viele Menschen und Dinge inspirieren mich, die Liste ist zu lang, um sie hier aufzuzählen. Im Fall von „The Romeos“, der Arbeit, die ich in der Schirn zeige, sind die Einflüsse vor allem deutsche... Denn konzipiert wurde das Werk im Rahmen eines Stipendiums 2006/07 in Leipzig, als ich über Struktur und Arbeitsweisen der Stasi und des DDR-Auslandsgeheimdienstes, der zum Ministerium für Staatssicherheit gehörte, recherchiert habe.

Mich faszinierten die Aussagen vieler „inoffizieller Mitarbeiter“, die keinen Widerspruch darin sahen, kein Problem damit hatten, Informationen über jemanden, mit dem sie verheiratet oder in den sie verliebt waren, an die Stasi weiterzugeben. Es machte ihnen nichts aus, ein Doppelleben zu führen, Teil der Oppositionsbewegung zu sein und gleichzeitig dem repressiven Staatsapparat zu dienen. Bei dieser Arbeit über Spione des Kalten Krieges hat mich vor allem das literarische Werk von Wolfgang Hilbig, Uwe Johnson und natürlich Heinrich Böll beeinflusst, außerdem Bücher wie „Spionagechef im geheimen Krieg. Erinnerungen“ (1997) von Markus Wolf und Filme wie „Eins, zwei, drei“ (1961) von Billy Wilder. Jedes meiner Projekte erfordert viel Recherche und führt verschiedenste Einflüsse zusammen – so auch bei den „Romeos“.

Am Mittwoch, 9. September 2020 um 03:21 schrieb Natalie:

Aha! Die Spionage und die Stasi, das ist eine spannende Welt. Ich habe mich gefragt, wie du wohl auf die Romeos gekommen bist, von denen hatte ich bis dahin noch nie gehört. Danke, dass du deine Inspiration dazu geteilt hast!

Vielleicht können wir noch etwas bei den Spionen bleiben, die im Auftrag der Stasi Sekretärinnen westdeutscher Politiker verführt haben, um Informationen zu beschaffen. Als ich von deinem Projekt las, da hat mich vor allem eins erstaunt: Ein Teil der Performance besteht ja darin, dass das Publikum schon zu Beginn in die Existenz der Romeos eingeweiht wird, teilweise arbeitest du sogar mit Abbildungen von ihnen auf Plakaten. Erkennen die Leute sie denn nicht wieder und nimmt das nicht dem Doppelbödigen des Spionage-Spiels den Reiz?

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Von: dora garcia

Gesendet: Donnerstag, 10. September 2020 um 4:30 Uhr

An: Natalie

Betreff: Re: Spionage-Spiele & Romeos

Tatsächlich besteht die Performance „The Romeos“ (nicht nur manchmal, sondern immer) aus zwei Teilen: der Performance selbst und den dazugehörigen Printmaterialien. Das sind Plakate, teilweise auch Postkarten. Ihre Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass sich die Performance eher im Kopf abspielt, als dass sie etwas ist, das man sich ansieht. Denn wenn man das Plakat (oder die Postkarte) liest, dann „weiß“ man ja, worum es geht. Und in dem Moment wird automatisch jeder junge Mann in Sichtnähe zu einem potenziellen Romeo (so wie es im Aushang steht). Damit wird auch die Wirklichkeit, die bis dahin normal erschien, auf einmal „verdächtig“, eben weil man das Plakat kennt.

Man weiß, dass es eine weitere Ebene gibt; andere wissen das nicht. Jedes Mal, wenn man dann einen jungen Mann sieht, der freundlich jemanden anspricht, vielleicht sogar einen selbst, dann denkt man: „In Wirklichkeit interessiert er sich gar nicht für diese Person oder für mich, er wurde nur angewiesen, freundlich zu sein. Was mache ich jetzt? Gehe ich auf ihn ein oder nicht?“ Mir geht es hier darum, dass man sich fragt, ob der junge Mann ein Performer ist oder nicht. Denn es bleibt ja offen, ob es neben den Romeos, die auf dem Plakat abgebildet sind, noch weitere gibt. Außerdem sind Porträtaufnahmen nicht unbedingt aussagekräftig, viele junge Männer sehen sich ja ähnlich. Und möglicherweise tragen die Romeos jetzt Brille, haben eine neue Frisur oder sich einen Bart stehen lassen. Inzwischen sehen sie vielleicht anders aus als auf den Plakatfotos.

Neben den ursprünglichen Romeos als historisches Phänomen des Kalten Krieges interessiert mich aber auch das, was wir unter „echter Zuneigung“ verstehen – bedeutet etwa die Tatsache, dass jemand (etwa Krankenpfleger*innen, Ärzt*innen, ein Erzieher*innen,  Psycholog*innen, Sexualarbeiterin*innen) dafür bezahlt wird, Zuwendung im Rahmen der Arbeit zu zeigen, dass sie zwangsläufig unecht ist? Nein! Darüber hinaus interessiere ich mich sehr für die Vorstellung von der Performance als etwas, was das Publikum WEIß, anstatt dass es sie SIEHT. Und mit diesem Wissen ändert sich die Wahrnehmung der Wirklichkeit.

… … …

Am Freitag, 11. September 2020 um 14:27 schrieb Natalie:

Danke für die ausführliche Antwort, Dora!

Interessant, „Wissen“ ist mächtiger als „Sehen“. Auf diese Weise kann das Publikum an der Performance teilnehmen selbst wenn man im Ausstellungsraum keinem Romeo begegnet, denn es besteht ja die Möglichkeit, überall einen anzutreffen. Das verändert auch unseren Umgang mit jungen, attraktiven Männern im Museum, wir hinterfragen Begegnungen, unterstellen verdeckte Beweggründe. Das stellt die Wahrnehmung der Wirklichkeit auf den Kopf, wie du gesagt hast. In gewisser Weise könnte auch unser Interview ein Teil dieses WISSENS sein, es vielleicht sogar noch verstärken – spannend!

Du interessiert dich nun schon seit Langem für die Interaktion zwischen Kunstraum, Publikum und Werk. Glaubst du, dass die aktuelle globale Pandemie deine Arbeitsweise in Zukunft verändern wird?

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Von: dora garcia

Gesendet: Samstag, 12. September 2020 um 10:30 Uhr

An: Natalie

Betreff: Re: Spionage-Spiele & Romeos

Ja, absolut. Zum einen sind da die psychologischen Auswirkungen, unter denen wir alle leiden, einige mehr als andere, letztlich aber alle: die Trauer um die Toten, das Wissen darum, dass wir unser Leben, unsere Zukunft nicht selbst bestimmen können, das Gefühl, dass andere uns gefährden und wir eine Gefahr sein können für Menschen, die wir lieben, die Wut über das Missmanagement der Pandemie, die Empörung über den Neoliberalismus, der für den Abbau des Gesundheitswesens, unserem einzigen Schutz, gesorgt hat. Auch Positives gibt es, etwa die Überzeugung, dass wir nur gemeinsam da herauskommen, die Rückkehr von Sozial- und Gemeinsinn, von Fürsorge und Gemeinschaft, von häuslichem Leben und Alltagsaktivismus.

Dann, im Bereich meiner Arbeit, die Erkenntnis, dass der Neoliberalismus beeinflusst hat, wie wir Kunst konsumieren und ausstellen, wie Künstler*innen arbeiten (mit völlig unnötigen Flugreisen und unmöglicher Zeitplanung). Auch das Gefühl des Getriebenseins, dass wir immer meinen, schnell weiter zu müssen. Andererseits ist da der Wunsch, langsamer zu arbeiten, gemeinschaftlich, mehr an andere Künstler*innen zu denken, an die Menschen, die mit uns zusammenarbeiten, außerdem das Bedürfnis, sich weniger an der Karriere auszurichten und mehr zu leben, mehr an das Publikum zu denken, ihm zu erlauben, Kunst zu genießen, anstatt sie zu konsumieren. Das ist eine große, große Veränderung hin zum Guten. Ich denke, dass Geld im kreativen Bereich eine weniger wichtige Rolle spielen wird, allerdings war es noch nie wichtig für mich. Ich war immer relativ arm, und trotzdem bin ich, verglichen mit der Mehrheit, privilegiert, und dieses Privilegs bin ich mir sehr bewusst.

Eine lange Antwort! Sorry.

Neben den ursprüng­li­chen Romeos als histo­ri­sches Phäno­men des Kalten Krie­ges inter­es­siert mich aber auch das, was wir unter „echter Zunei­gung“ verste­hen [...]

Dora García

Am Mittwoch, 16. September 2020 um 01:29 schrieb Natalie:

Sehe ich genauso! Es wird interessant zu verfolgen, ob die finanzielle Seite des Kunstmarktes in den nächsten Jahren an Wichtigkeit verlieren wird. Seit Ende der 1990er-/Anfang der 2000er-Jahre setzt du Kunst auf deiner Webseite auch im Netz um – so kann man deine Werke überall auf der Welt konsumieren. Wie kam es dazu, und glaubst du, dass das Internet der Kunstraum der (Post-COVID-19-)Zukunft wird?

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Von: dora

Gesendet: Mittwoch, 16. September 2020 um 8:55 Uhr

An: Natalie

Betreff: Re: Das Internet als künftiger Kunstraum?

Als ich 1999 das Internet als Medium zu nutzen begann, um meine Performance-Arbeiten zu strukturieren und zugänglich zu machen, da ging es mir um eines: Ich wollte die Institutionen umgehen, nicht die gewohnten Pfade durch das Labyrinth der Kunstgalerien und Museen gehen, ich wollte meine Arbeit einem breiten Publikum zugänglich machen, ohne ihr das Etikett Kunst aufkleben zu müssen. Inzwischen hat sich vieles verändert. Das Internet hat jeden Anschein von Gegenkultur verloren, heute geht es nur noch ums Geschäft. Schon vor COVID war das Netz der öffentliche und halb öffentliche Raum schlechthin. Das Leben spielt sich im Internet ab. Dort verbringe ich 60% meiner Zeit und muss mich förmlich zwingen, da rauszugehen. Ich muss mir bewusst vornehmen, zu lesen, zu schreiben, zu sprechen, am analogen Teil meines Lebens festzuhalten. Und das Kuriose ist, das Internet ist eine einzige große Repräsentation – die Wirklichkeit ist da draußen: mit Krankheit, Liebe, Tod, Politik. Wir müssen uns vom Netz befreien, vor und nach COVID.

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Am Mittwoch, 16. September 2020 um 04:00 schrieb Natalie:

Das ist ein toller Abschluss, Dora, vielen Dank für das spannende Gespräch!

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