Manchmal braucht es nur einen Sonnenaufgang und ein Stück Moos: Inka Essenhighs Malereien sind bevölkert von mythologischen Kreaturen. Bei der Ausführung verlässt sie sich ganz auf ihr Inneres.
Inka Essenhigh stellt ihre traumähnlichen, zerfließenden Landschaften seit über 20 Jahren aus. Sie ist die zweite von vier Künstlerinnen, die wir in unserer Interviewserie „Surrealismus reloaded“ vorstellen. Wie auch die anderen Künstlerinnen dieser Serie, Jessica Stoller, Rose Nestler und Julie Curtiss, lässt sich Inka Essenhigh in ihren Arbeiten von den Motiven und Themen des Surrealismus inspirieren. Den Fußstapfen der Fantastischen Frauen folgend, interpretiert sie die Motive und Themen der Surrealist*innen aus einer absolut zeitgenössischen Perspektive und entwirft in ihren Werken neue weibliche Rollenbilder.
Für Essenhigh fing alles mit automatischem Zeichnen und der freien Assoziation an, die ihr einen Zugang zum Unbewussten ermöglichen – Techniken, die oft im Surrealismus verwendet wurden. Ihre bunt leuchtenden, surrealen Gemälde, in denen Kobolde, Elfen und vermenschlichte Flora und Fauna mit der sie umgebenden Landschaft verschmelzen, entführen ihre Betrachter*innen in eine andere Welt und eröffnen alternative Realitäten.
Könntest du eines deiner Gemälde heraussuchen und uns anhand dessen etwas über deine Praxis erzählen: Was sind zum Beispiel Themen, die dich interessieren?
Ich habe „Dawn’s Early Light“ oben in Maine gemalt, als ich dort zwei Monate im Sommer war. Dafür habe ich zwei Leinwände mitgenommen, die aber als Kunstwerk nicht abgeschlossen sein mussten, bevor ich wieder nach Hause gefahren bin. Mein Plan war es, vor Ort zu schauen, ob mich etwas inspiriert. In diesem Fall war das ein Lichtfleck, dort wo das Morgenlicht auf Moos im Wald fiel. Es fühlte sich wie eine kleine Explosion ungebändigter Lebendigkeit inmitten der dunklen Stille des Waldes an.
Wenn ich anfange zu malen, konzentriere ich mich zuerst auf das Erlebnis, das ich mit dem Bild einfangen möchte. Dann erst kommt mir die Idee zu einem Farbschema und ich mische die Farben – das kann alles mögliche sein, solange es sich für mich wie das Erlebnis anfühlt. In diesem Fall waren die Farben tatsächlich nahe dran an dem, was ich vor Ort gesehen habe. Also, ich habe ein Bild vor Augen und fange an zu malen. Meistens versuche ich das gesamte Bild direkt am ersten Tag auf die Leinwand zu bringen. Am nächsten Tag ist die Farbe dann komplett trocken und ich kann die Bereiche, mit denen ich noch nicht zufrieden bin, abschmirgeln und neu malen.
Im Verlauf der kommenden Monate trage ich nach und nach mehr Farbe auf und schärfe sozusagen das Bild. Die schwarzen Figuren auf der flachen, runden Fläche in der Mitte sind zum Beispiel das Muster einer Motte, die ich gesehen habe. Wilde Erdbeeren, Käfer, Disteln, Blaubeeren und Tiere, die ich in der Nähe meines Studios gesehen habe, haben es ebenfalls ins Bild geschafft. Ich passe die Farben (oder ändere sie komplett) an, füge Details hinzu oder entferne welche und tue alles, um Leben in das Gemälde zu bringen.
„Dawn’s Early Light“ wird von fantastischen, mythologischen Kreaturen bevölkert, ein Thema, das auch die surrealistischen Künstler*innen fasziniert hat. Was bedeutet Surrealismus für dich und was für eine Rolle spielt er in deiner Arbeit?
Surrealismus hilft den Menschen, meine Arbeit zu begreifen. Wenn ich jemandem meine Werke erklären soll, dann sage ich oft, ich bin Surrealistin und sie verstehen, dass meine Welt auf den Grundsätzen der Dreidimensionalität basiert und das nicht alles im Bild einen Sinn ergeben muss. Ich glaube allerdings, meine Kunst ist mehr mit dem Symbolismus, dem Vorläufer des Surrealismus, verwandt.
Das ergibt Sinn. Gibt es eine Künstler*in aus den „Fantastischen Frauen“, die du besonders bewunderst?
Ich bewundere sie alle! Sie müssen alle Charakter bewiesen haben und waren wohl auch besondere Persönlichkeiten.
Surrealismus hilft den Menschen, meine Arbeit zu begreifen.
Von Göttinnen bis hin zu Feen, viele der Figuren in deinen Bildern sind Frauen und der weibliche Körper spielt eine zentrale Rolle in deiner Arbeit. Warum?
Ich male meistens Frauen und ehrlich gesagt weiß ich selbst nicht genau warum. Ich habe immer gedacht, dass ich kugelige Formen male, die eher weiblich als männlich aussehen, weil ich eben eine Frau bin. Meistens male ich einfach drauf los und lebe dann damit, wie es am Ende aussieht.
Verstehe. Freundschaften und Netzwerke waren von großer Bedeutung für die Surrealist*innen in den 30er und 40er Jahren. Du hast eine große Fangemeinde auf Instagram, ist die Plattform der neue Salon für die Künstler*innen-Community?
Als junge Kunststudentin in den späten 80er- und 90er-Jahren wollte ich unbedingt Teil des „Männervereins“ sein. In dieser Hinsicht identifiziere ich mich mit Dorothea Tanning. Als ich sie einmal fragte, ob sie sich eine gemeinsame Ausstellung vorstellen könnte, in der meine Arbeiten neben denen einer weiteren Person, die mich beeinflusst hat oder ein Vorreiter für mich war, gezeigt werden würden, sagte sie „Nein!“ Sie würde ihre Arbeiten niemals mit einer anderen Frau zeigen. Sie war damals 100 Jahre alt und ich wollte sie nicht belehren, dass sie so nicht mehr denken muss. Instagram war großartig am Anfang, heute sehe ich es aber eher als „business tool“. Es ist ein Salon für Jeden.
Stimmt! Eine letzte Frage, vielleicht etwas abseits des Themas, aber da wir uns alle noch immer durch die Coronakrise in einem Ausnahmezustand befinden: Wie hat die aktuelle Situation deine Arbeit beeinflusst?
Ich musste mein Studio verlassen und mir ein provisorisches im Keller einrichten, aber ich konnte weiterhin arbeiten wie bisher. Ich erinnere mich an 9/11, als Veränderung in der Luft lag. Da wollte ich mit meiner Arbeit dem Zeitgeist gerecht werden. Dieses Mal bin ich genau dort, wo ich sein will. Ich glaube, ich mache genau die Kunst, die in diesem Augenblick gemacht werden muss.