Wolfgang Kraushaar ist Politikwissenschaftler an der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Er forscht zur 68er- Bewegung, Radikalisierung und RAF. Im Gespräch mit dem SCHIRN MAG erläutert er, inwieweit sich Protestbewegungen verändert haben und welche Rolle der Kunst dabei zukommt.
Herr Kraushaar, Politologen beobachten schon seit Längerem eine Krise der Demokratie. Stehen die Protestwellen der letzten Jahre aus Ihrer Sicht für eine Repolitisierung?
Das hängt ganz davon ab, was Sie unter “Repolitisierung” verstehen. Unser Land erlebt seit drei, vier Jahren keine politische Offensive von links, sondern eher eine von rechts. Denken Sie nur an die Demonstrationen in Leipzig und Dresden, und die Tatsache, dass es einer zunächst eurokritischen, dann zunehmend rechtspopulistischen Partei gelungen ist, in den Bundestag zu ziehen. Die Furcht, dass sich rechtsnationale Kräfte noch weiter ausbreiten könnten, ist überall spürbar. Und eine solche Dynamik lässt sich – wenn man von der damit verbundenen politischen Position zunächst einmal abstrahiert – durchaus als eine Form der “Repolitisierung” begreifen. Allerdings als eine, an der die Demokratie Schaden nehmen könnte, wenn sie das nicht ohnehin schon längst getan hat.
Im Zusammenhang mit gewaltvollen Protesten ist in der Politik oft von Extremismus die Rede. Sie sehen den Begriff allerdings kritisch.
In meinen Augen ist er oberflächlich, etikettenhaft und statisch. Ich bevorzuge stattdessen den Radikalismusbegriff. Zunächst, weil er einen dazu zwingt, genauer hinzusehen und sich zu fragen, was eigentlich Radikalität ausmacht, worin ihre Motive und Beweggründe liegen. Wenn jemand von sich behauptet, dass er den Dingen an die Wurzel gehen wolle, dann muss man sich damit auch inhaltlich auseinandersetzen.
In vielen Protestbewegungen halten Medienhäuser oft als Feindbild her, in linken Bewegungen z.B. die Springer-Presse. Gehört Medienkritik zur DNA der Protestbewegungen seit 1968?
Das sehen sicherlich viele so. Schließlich hat die damalige Studentenbewegung sogar die Enteignung des Springer Verlags gefordert. Aber die Medien- bzw. Presseschelte gab es schon sehr viel länger. Im Grunde genommen war sie nach 1945 ein ständiger Begleiter des Protests. Wenn Sie sich z. B. die Geschichte der Ostermärsche ansehen, die es hierzulande seit 1960 gab, dann stoßen Sie permanent auf Klagen gegenüber der Presse. Und die waren auch durchaus berechtigt. Während des Kalten Krieges war die öffentliche Debatte unglaublich ideologisch aufgeladen: In den Augen nicht weniger Zeitungen waren Friedensdemonstranten nichts anderes als “Moskaus nützliche Idioten”, die sich angeblich vor den kommunistischen Karren spannen ließen. Und dagegen versuchten sich die Betreffenden zur Wehr zu setzen.
Rechte Bewegungen mobilisieren gegen die vermeintliche „Lügenpresse“. Ist das vergleichbar?
Das fortwährende ”Lügenpresse”-Geschrei ist hysterisch und hat wenig bis gar nichts mit den Zuständen und Verhältnissen in den Medien zu tun, die sicher in vielen Fällen kritikwürdig, aber nicht per se zu verdammen sind. Die Wurzel für dieses entgrenzte Verhalten scheint mir im Ethnozentrismus zu liegen, nicht aber in der angeblichen Desinformation der Medienorgane.
Die Demonstration war einst die maßgebliche Form der politischen Willensartikulation, etwa für die 68er-Bewegung. War das Internet eine Zäsur?
Ja, im digitalen Zeitalter ist wirklich alles anders geworden, selbstredend gilt das auch für Protestbewegungen. In früheren Jahrzehnten ist es sehr viel aufwendiger gewesen, Leute zu mobilisieren. Ich erinnere mich noch gut an Telefonketten, sogar an Kirchenglocken, die manchmal geläutet wurden, um zu einer Demonstration, Blockadeaktion oder was auch immer aufzurufen. Heute ist so etwas ja fast wie auf Knopfdruck möglich geworden.
Die Flashmobs etwa stellen das anschaulich unter Beweis. Die Virtual Community ist fast nach Belieben dazu in der Lage, Smart Mobs zu initiieren, bei denen sich im Handumdrehen Tausende auf Plätzen oder Straßen einfinden, um für oder gegen etwas aufzutreten. Ohne eine solche Mobilisierungsform wären in Kairo etwa die berühmten “18 Tage des Zorns”, die im Februar 2011 zum Sturz des Mubarak-Regimes geführt haben, gar nicht möglich gewesen.
Sehen Sie in dieser Mobilisierung der „Virtual Community“ denn auch Nachteile?
Der “Klicktivismus” ist ja nur zu häufig an die Stelle sozialer Mobilisierung getreten. Wenn ich mir eine Website wie etwa die einer NGO anschaue, die unter dem Slogan “Bewegt Politik campact!” antritt und darauf verweist, dass sich unter ihrem Dach fast zwei Millionen User registriert hätten, dann mag das ja alles zutreffen. Aber was bedeutet das praktisch? Ich bin in dieser Hinsicht sehr skeptisch, weil sich solche Zahlen nicht einfach in soziale und schon gar nicht in politische Wirklichkeit umsetzen lassen. Da macht man sich nur zu leicht etwas vor.
Philosophen dienten der 68er-Bewegung als wichtige Ideengeber. Haben theoretische Texte im neuen Jahrtausend an Bedeutung verloren?
An die Stelle von Philosophen und von Intellektuellen, in einem noch sehr viel umfassenderen Sinne, sind längst Experten getreten. Also Spezialisten, deren fragmentiertes Spezialwissen in der öffentlichen Arena ebenso wie in der Politikberatung benötigt wird. Was aber nicht mehr nachgefragt wird, das ist so etwas wie eine kritische Instanz, die auch in komplexeren Gefilden ein Urteilsvermögen an den Tag legt. Nehmen wir einen Bertrand Russell, der wegen des Vietnamkriegs ein Tribunal ausgerufen hat, einen Jean-Paul Sartre, der ein Globetrotter im Krisenbewältigungsmodus war und es sich leisten konnte, einen Nobelpreis abzulehnen, oder einen Václav Havel, der als machtloser Schriftsteller Präsident hat werden können.
Und inwieweit wurden bildende Künstler in Protestbewegungen rezipiert?
Das hat es natürlich immer mal wieder gegeben. Denken Sie nur an eine Jahrhundert-Gestalt wie Pablo Picasso. Der hat mit “Guernica” den Opfern eine Gestalt gegeben und mit seiner Friedenstaube der internationalen Friedensbewegung ein Emblem geschenkt. Ich glaube allerdings, dass sich die Einwirkung in umgekehrter Richtung häufiger und stärker nachweisen lässt. Etwa jemand wie Joseph Beuys, der die Impulse, die selbst in einer Stadt wie Düsseldorf von der Studentenbewegung ausgegangen sind, regelrecht absorbiert hat, sich mehr und mehr als ein basisdemokratisch orientierter und ökologisch bewusster Protestler verstand.
Könnte man dann so weit gehen und politisch kritische Kunstbewegungen auch als Protestbewegung verstehen?
Ja, das würde ich durchaus tun. Denken Sie nur an die Fluxus-Bewegung, die ja so unterschiedliche InnovatorInnen wie Charlotte Moorman, John Cage, Nam June Paik, Wolf Vostell und Yoko Ono hervorgebracht oder zumindest beeinflusst hat. Allein das Genre der Happenings ist ja eine international Aufsehen erregende dynamische Form gewesen, die die üblichen Grenzen zwischen Künstlern und Akteuren auf der einen und Besuchern bzw. Teilnehmern auf der anderen Seite durchbrochen hat. Sie hatte das Zeug, rasch in den politischen Raum vorzustoßen und dort weiter zu wirken. In dieser Hinsicht hat sich sehr viel abgespielt, was sich zum einen innerhalb der Kunst als eine Subform des Protests begreifen lässt. Andererseits hat Kunst auch häufig die Formprinzipien von Protestbewegungen selber berührt und verändert.
Mal anders herum gefragt: Inwiefern bedeutet Kritik an den bestehenden Verhältnissen auch eine Kritik an Kulturinstitutionen und Künstlern?
Die künstlerischen, die literarischen, die ästhetischen Bewegungen überhaupt, die in den Jahren um 1968 regelrecht explodiert sind, haben ja im Grunde genommen keinen Stein mehr auf dem anderen gelassen. Und das bedeutete natürlich auch, dass der Kulturbetrieb als solcher aufgesprengt werden musste.
Die Filmfestspiele von Cannes, die Biennale von Venedig, die documenta in Kassel wurden genau in diesem so magischen Jahr grundlegend in Frage gestellt. Ich erinnere mich beispielsweise noch gut an die erste Frankfurter “Experimenta”, aus der z. B. Peter Handkes legendäre “Publikumsbeschimpfung” hervorgegangen ist. Eigentlich war für eine Zeit lang alles mehr oder weniger zum Experiment geworden. Und die Institutionen, der Betrieb und die Betriebsmanager wurden in diesem Aufbruch zumeist als störend angesehen.