Was ist Wildnis eigentlich genau und gibt es die auch in Deutschland? Wildnisreferent Manuel Schweiger über Naturschutz, Entdeckungspfade und Urwald-Käfer.
Manuel Schweiger ist seit 2014 Wildnisreferent bei der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt und hat die Wildnis allein beruflich schon in vielen Facetten erlebt, von der Serengeti bis zu den Wildwäldern in Mitteleuropa.
Herr Schweiger, Sie arbeiten in der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt (ZGF) als Wildnisreferent. Was macht man da genau?
Meine Aufgabe ist es, das Thema Wildnis voranzubringen – ein Thema, das in Deutschland im Naturschutz ja noch gar nicht so lange en vogue ist. Für mich geht es im ersten Schritt darum, die wichtige Bedeutung von Wildnis in der Öffentlichkeit bekannter zu machen. Aber messen lassen wir uns natürlich daran, auch auf der Fläche etwas zu erreichen – also neue Wildnisgebiete zu schaffen. Dabei arbeiten wir nicht allein, sondern mit den „ganz Großen“ zusammen in der Initiative „Wildnis in Deutschland“: WWF, Greenpeace, NABU und viele weitere sind dabei, die Koordination der Initiative übernehmen wir von Frankfurt aus. Weltweit gesehen ist übrigens Naturschutz gleich Wildnisschutz. Es ist wirklich eine Ausnahme hier in Mitteleuropa, dass wir, wenn wir von Naturschutz sprechen, eigentlich oft einen „Pflege-Naturschutz“ betreiben. Was durchaus seine Berechtigung hat, das möchte ich gar nicht abstreiten – es gibt hier ja eine lange, kulturelle Nutzungsgeschichte. Aber was uns fehlt, das sind die naturbelassenen, wilden Bereiche, wo der Mensch nicht eingreift. Wildnis zuzulassen, Naturlandschaften mit all ihren Prozessen und auch der Faszination, die von ihr ausgehen, wieder zu ermöglichen.
2/3 der Bundesbürger mögen Natur umso lieber, je wilder sie ist.
Und wie lange würde es dauern, bis man wieder von einer Wildnis sprechen kann?
Nehmen wir zum Beispiel einen Buchenwald, ehemaliger Forst. Wenn man den jetzt in Ruhe lassen würde, dann hätten wir schon in relativ kurzer Zeit wieder wildnisartige Zustände. Also, wir sprechen hier schon von wenigen hundert Jahren [lacht]. Aber im Vergleich zu dem, was man in den Tropen investieren müsste, ist das schon eine große Chance.
Die ZGF engagiert sich zum Beispiel dafür, ehemalige Truppenübungsplätze sich selbst, respektive der Natur, zu überlassen.
Die Natur profitiert schon ab dem ersten Tag. Wildnis ist eine Entwicklungsgeschichte, ein Prozess. In Deutschland versuchen wir, das Beste aus dem zu machen, das wir haben. Und ehemalige Truppenübungsplätze bieten eine große, zusammenhängende Fläche, die sich die Natur wieder zurückerobern kann.
Der Mensch, zumindest vielleicht der westliche Reisende, hat es ja gerne so unberührt wie möglich, aber verbaut sich gerade dadurch das, was er fieberhaft sucht. Müssen Sie oft zwischen Mensch und Wildnis vermitteln?
Tatsächlich habe ich in meiner täglichen Arbeit fast öfter mit Menschen zu tun als mit Tieren, Natur. Und es ist richtig: Wildnis kommt aktuell sehr gut an bei vielen Menschen, das erfahren wir, die ZGF, meine Kollegen und ich immer wieder, und man kann auch schon eine Veränderung der Wahrnehmung feststellen: Der aufgeräumte Wald, den vielleicht noch unsere Elterngeneration gewünscht und sich dann darüber beschwert hat, wenn irgendwo Totholz herumlag – das ja für viele Arten enorm wichtig ist –, der ist als Ideal überholt. Inzwischen steuern Erholungssuchende tatsächlich eher die wilden Bereiche der Natur an, das sieht man auch am Boom der Nationalparks.
Tiere gehen ja bekanntlich immer – auch das dürfte für viele Menschen ein Argument für Nationalparks und Schutzgebiete sein, oder? Wie schnell ändert sich denn die Bewohnerschaft einer Naturfläche, wann zieht beispielsweise wieder ein Wolf in den Wald?
Mit dem Wolf ist es ein etwas zweischneidiges Schwert. Wenn man über Wildnis redet, denken viele Menschen sofort an ihn, obwohl der Wolf eigentlich kein Wildnisanzeiger ist. Der Wolf kommt wunderbar auch in der Kulturlandschaft zurecht. Was er allerdings braucht, sind Rückzugsräume – und da sind zum Beispiel ehemalige Truppenübungsplätze in Sachsen und Brandenburg auch die ersten Gebiete gewesen, wo der Wolf Nachwuchs bekommen hat und die ersten Rudel aufgetaucht sind. Man muss aber auch sagen: Der Wolf ist da, wo er seine Beute findet, und die findet er auch im genutzten Wald.
Vermutlich sind die richtigen „Wildnisanzeiger“ also eher unscheinbare Bewohner?
Genau [lacht], wobei man sagen muss: Für große Säugetiere sind zusammenhängende Flächen als Rückzugsräume durchaus wichtig. Aber weder Wölfe noch Luchse halten sich eben an diese Wildnisgrenzen. Was Wildnisgebiete in unseren Wäldern auch auszeichnet: Man lässt sie wieder alt werden. Das sind Zustände, die wir in unseren Wirtschaftswäldern so gar nicht mehr kennen. Wir wissen gar nicht mehr, dass eine Buche einen Durchmesser von 1,70 Meter bekommen und über 50 Meter hoch werden kann. An diese alten Bäume ist eine riesige Anzahl an Arten gebunden: Ein Specht beispielsweise kann erst in eine Buche, die mindestens 100 Jahre alt ist, seine Löcher hineinklopfen. Die findet er im Wirtschaftswald kaum. Auf die Spechthöhle sind dann wiederum etliche Nachmieter angewiesen: Fledermäuse, Käuze, Haselmäuse, Hummeln und dann eben auch sogenannte „Urwald-Reliktarten“. Das sind Käferarten, die selbst an einen urwaldtypischen Standort mit alten Bäumen gebunden sind. Wenn also ein solcher Baum gefällt wird und sie nicht zufällig in unmittelbarer Umgebung genau so einen finden, dann verschwindet diese Art.
53 Mio. Menschen zieht es jährlich in deutsche Nationalparks. Sie bewirken einen Umsatz von rund 2,8 Milliarden Euro. Das entspricht etwas mehr als 85.000 Arbeitsplätzen.
Das klingt erst einmal weniger spektakulär als der Wolf, natürlich.
Aber auch über diese Arten lässt sich eine spannende Geschichten erzählen! Nehmen wir den Knochenglanzkäfer: Den gibt’s zum Beispiel in unserem Projektgebiet in der Hohen Schrecke. Das spricht dafür, dass dort niemals Forstwirtschaft stattgefunden hat – denn werden seine Lebensumstände einmal entscheidend gestört, dann war es das für ihn. Er ist darauf angewiesen, dass ein Schwarzspecht eine Höhle in den Baum hämmert, in die dann ein Waldkauz und eine Hohltaube einziehen. Anschließend muss ein kleiner Säuger wie zum Beispiel ein Siebenschläfer darin wohnen, und erst dann findet der Knochenglanzkäfer in den Feder- und Fellresten dieser Baumhöhle genau die richtigen Bedingungen für die Aufzucht seiner Nachkommen. Und: Maximal 500 Meter weit kommt der Gute – es ist also schon erstaunlich, dass eine solche Art überhaupt in Deutschland überlebt hat!
Ab wann kann man dann wieder von Wildnis im eigentlichen Sinne sprechen?
Aus Sicht des Naturschutzes sind Wildnisgebiete ausreichend große, weitgehend unzerschnittene, nutzungsfreie Gebiete, die dazu dienen, einen vom Menschen unbeeinflussten Ablauf natürlicher Prozesse dauerhaft zu gewährleisten. In Deutschland sprechen wir teilweise von „Wildnisentwicklungsgebieten“. Aber letztlich liegt es natürlich im Auge des Betrachters – der Begriff stammt schließlich von uns Menschen, er ist auch von unserer Wahrnehmung abhängig. Für die Natur selbst gibt es natürlich nicht den einen Grenzwert, Wildnis ist eine Entwicklung. Sie läuft in Zyklen ab, ist nie abgeschlossen, Natur ist ein endloser Prozess.
Wie machen Sie den Menschen das Warten schmackhaft? Viele möchten vermutlich irgendwie an dem, für das sie sich entscheiden sollen, partizipieren. Ist das überhaupt so möglich, ohne die Wildnis dann wieder zu beeinträchtigen?
Uns liegt sehr am Herzen, dass auch wir Menschen Wildnis erleben können. Sie sind willkommen – als Gast, der sich respektvoll verhält. Aber ich würde sagen, dass man in unseren Buchenwäldern in der Regel gefahrlos die Wege auch einmal verlassen kann, ohne der Natur zu schaden. Durch eine entsprechende Wegeführung können Besucher um sensible Bereiche herum gelenkt werden. Darüber hinaus haben Wildnisgebiete auch indirekt einen großen Nutzen für den Menschen: Sie sind für das Klima enorm wichtig, weil sie Gase wie CO2 in großer Menge speichern. Für die Trinkwasserversorgung leisten sie einen Beitrag. Ganz wichtig auch für den Bereich Forschung: Wir wissen in unseren Breitengraden gar nicht mehr, wie sich Natur verhält, wenn man sie in Ruhe lässt. Wie reagiert die Natur auf den Klimawandel? Welche Strategien entwickeln Tiere und Pflanzen, um mit den Veränderungen zurecht zu kommen? Davon können wir lernen. Das spielt dann letztlich auch wieder für die Land- und Forstwirtschaft eine Rolle. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern der Welt können wir in Deutschland Wildnis übrigens kostenlos genießen. Unsere Nationalparks kosten keinen Eintritt. Man darf sich frei im Wald bewegen – das ist ja auch etwas Schönes. Auch, wenn er „wild“ ist: Im Wald ist es für den Menschen deutlich sicherer als in der Stadt. Also kann ich jeden nur dazu ermuntern, sich die Wildnis vor der Haustür mal von nahem anzusehen!
Wenn ich nicht lange reisen möchte, um Wildnis zu erleben: Hätten Sie einen Tipp?
Im Wispertaunus – also ganz in Stadtnähe – gibt es ein Gebiet, das sich seit vorletztem Jahr wieder zur Wildnis entwickeln darf. Das lohnt sich allemal, auch wenn wir hier noch ganz am Anfang sind. Auf unserer „Wildnis-Landkarte“ kann jeder aber auch ältere Wildnisgebiete in der Nähe suchen. Allein die Wegeführung ist im Wildwald ganz anders: Während im Wirtschaftswald alles auf Forstfahrzeuge ausgelegt ist, gerade und breit, kann man hier ganz andere Entdeckungspfade schaffen – wodurch übrigens auch Kinder Waldspaziergänge plötzlich gar nicht mehr langweilig finden! Natürlich befindet sich die Wildnis hier bei uns noch im Anfangsstadium, man darf hier nicht überall Methusalem-Bäume erwarten. Aber es ist in jedem Fall ein ganz anderes Gefühl, zu wissen: Hier ruht die Säge.