Über Gottesanbeterinnen, insektenähnliche Pflanzen und Albträume. Wir haben Joachim Koester auf Skype getroffen, dessen Werke noch bis zum 3. Februar in der WILDNIS Ausstellung der SCHIRN zu sehen sind.
„Soll ich dir eine Gottesanbeterin zeigen?“ Ein kleiner Junge mit großen blauen Augen und dichtem, braunem Haar guckt mich eindringlich an. Ich bin etwas verwirrt. Gottesanbeterinnen hier in Boston? Ich nicke zögerlich und folge dem Fünfjährigen, der meine Hand ergriffen hat und mich bereits ungeduldig mitzieht. Und tatsächlich: inmitten einer Plastikblumen-Deko vor einer Reinigung hängt eine leuchtend grüne, beinahe bleistiftgroße Gottesanbeterin und blickt misstrauisch in die Runde der um sie versammelten Neugierigen. Einige Tage später bin ich mit dem dänischen Künstler Joachim Koester für ein Interview verabredet, um mit ihm über seine Arbeit im Rahmen der WILDNIS Ausstellung in der SCHIRN zu sprechen. Darunter auch ein Bild mit dem Titel „Idolomantis diabolica“, eine Schwarz-Weiß-Fotografie einer Gottesanbeterin. Als ich ihm von meiner etwas surrealen Begegnung erzähle, schmunzelt er, als wüsste er etwas, was ich nicht weiß. „Wow, sehr gut. Es war bestimmt die Grüne mit dem dreieckigen Gesicht, oder?“
Wir haben uns auf Skype verabredet, da er aktuell eine Ausstellung in der Nationalgalerie in Kopenhagen vorbereitet und ich an meinem Wohnzimmertisch in Boston sitze. Während sich das Bild langsam aufbaut, sehe ich zunächst nur weiß getünchte Wände und vier dünne schwarze Rohre an einer Decke, die sich diagonal auf meinem Bildschirm abbilden und dem Ganzen einen geometrischen Eindruck geben. Im Hintergrund hängen zwei Schwarz-Weiß-Plakate. Koester trägt einen schwarzen Hoodie mit grauem Innenfutter. Seine graumelierten Haare sind kurz geschnitten. Auf meine Frage, ob er sich im Ausstellungsraum befinde, schüttelt er den Kopf. „Nein, ich bin in meinem Atelier.“ Er zeigt zunächst nur hinter sich, hebt dann aber seinen Computer an und gibt mir eine kleine Führung durch den Raum. In einer Ecke sehe ich Kisten – sie stammen von seiner Partnerin, ebenfalls Künstlerin – in einer anderen ein Oberlicht. In der Mitte des Raumes sitzt ein Mann mit Kopfhörern. „Ich entwickle im Moment gemeinsam mit Stephen [Pedersen] eine Klangarbeit. Stephen sag mal Hallo.“ [Stephen winkt]. „Er mixt gerade den Sound für die Ausstellung in der Nationalgalerie.“ Nachdem er sich wieder an den kleinen Tisch gesetzt hat, ist der Fokus der Kamera erneut auf den monochromen Hintergrund gerichtet.
NATALIE WICHMANN: „Okay, lass uns gleich loslegen. Wann wurde dir zum ersten Mal klar, dass du Künstler werden möchtest?“
JOACHIM KOESTER: „Gute Frage. Ich fing irgendwann als Jugendlicher an, mich für Kunst zu interessieren. Ich machte diese... wie heißt das nochmal, wenn man in eine Linoleumplatte schneidet?“
NATALIE WICHMANN: „Im Deutschen bezeichnen wir das als Linolschnitt.“
JOACHIM KOESTER: „Ja genau, Linolschnitte. Ich saß in meinem Zimmer und machte Linolschnitte. Zum Beispiel von Jimi Hendrix, vielleicht habe ich sogar einen von Aleister Crowley gemacht. Ich habe Bilder als Vorlage genutzt.“
Aleister Crowley ist eine jener historischen Figuren des Okkultismus, die in Koesters Werk eine wichtige Rolle spielen. Der englische Zeremonienmagier, Schriftsteller und Dichter gründet in den 1920er Jahren mit „Thelema“ seine eigene religiöse Bewegung und zog mit einer kleinen Gruppen von Anhängern in die „Abtei Thelema”, ein Haus nahe der Stadt Cefalù in Sizilien. Neueinsteiger begannen hier im „Raum der Alpträume“ unter dem Einfluss starker Drogen ihre „magisch-rituelle Ausbildung“. Die Wände dieses kleinen Zimmers waren vollständig mit Fresken ausgemalt, die groteske Szenen von Erde, Himmel und Hölle zeigten. Nachdem Mussolini 1923 die Schließung der Abtei veranlasst hatte, geriet diese in Vergessenheit, bis der experimentelle Filmemacher Kenneth Anger den „Raum der Alpträume“ in den 1950er Jahren für ein Fotoshooting wieder in den alten Zustand versetzte. Der Nächste, der seinen Fuß in das Haus setzte, war vermutlich Joachim Koester selbst. Er war im Rahmen seiner Serie „Morning of the Magicians“ auf die Abtei gestoßen.
JOACHIM KOESTER: „Ich habe anfänglich vorwiegend gemalt. An der Kunsthochschule [in Kopenhagen] war ich für Malerei eingeschrieben. Aber ich fotografierte auch. Einmal habe ich ein Graffiti in Amsterdam fotografiert. Es bezog sich auf diesen Schauspieler, Bela Luigi oder so ähnlich? Der Dracula gespielt hat. Jedenfalls stand da ‚Bela Luigi is dead‘. Obwohl ich dann neben meinen Gemälden auch Fotos zeigte, fühlte ich mich immer noch als Maler. In der Kunsthochschule traf ich dann allerdings auf ‚richtige‘ Maler und merkte, dass ich wohl doch keiner war [lacht verhalten]. Ich interessierte mich mehr für Hintergrundgeschichten und wollte eher etwas Räumliches schaffen. Nach drei oder vier Jahren beschäftigte ich mich dann fast nur noch mit Fotografie, Video und Installationen.“
Ich interessierte mich mehr für Hintergrundgeschichten und wollte eher etwas Räumliches schaffen.
NATALIE WICHMANN: „Weißt du, was es mit dem Graffiti in Amsterdam auf sich hatte? War dieser Schauspieler tatsächlich gestorben?“
JOACHIM KOESTER: „Das weiß ich nicht. Keine Ahnung warum jemand so etwas schreibt. Bela ... Luki? Er hat vielleicht auch Frankenstein gespielt, aber Dracula ganz sicher. Er ist ein klassischer Horrordarsteller. Das war 1986. Man könnte ja mal überprüfen, ob er damals schon tot war. [Koester beginnt im Hintergrund zu tippen. Es scheint ihn zu stören, dass ihm der Name dieses berühmten Schauspielers einfach nicht einfallen will. Plötzlich hellt sich sein Gesicht auf.] Bela Lugosi. Das ist der Name! Er hat Dracula gespielt. Mal gucken, wann er gestorben ist. Geboren 1882, d.h. er war 1986 wahrscheinlich tot. Vielleicht ist er ja auch von den Toten zurückgekehrt?“ [lacht]
NATALIE WICHMANN: „Du bist bekannt für intensive Recherche in deiner Arbeit. Was kommt zuerst: Die Idee, das Thema oder der Raum, in dem du die Arbeit zeigen wirst?“
JOACHIM KOESTER: „Die Dinge entwickeln sich allmählich. Zunächst erwacht mein Interesse für etwas, ein bisschen wie bei einem Hobby. Ich nähere mich dem Thema mit der Begeisterung des Laien und schaue dann beispielsweise Videos von Gottesanbeterinnen im Internet. Das ist der Ausgangspunkt. Meine Arbeiten entwickeln sich in gewisser Weise dann von selbst weiter.“
Ich nähere mich dem Thema mit der Begeisterung des Laien und schaue dann beispielsweise Videos von Gottesanbeterinnen im Internet.
NATALIE WICHMANN: „Was sind die Auslöser für das Interesse an einem bestimmten Thema? Was erregt deine Aufmerksamkeit?“
JOACHIM KOESTER: „Das können unterschiedliche Dinge sein. Bei ‚Morning of the Magicians‘ hat jemand auf einer Party über das Haus in Sizilien geredet, in dem Aleister Crowley einst lebte. Das hat meine Neugier erweckt. Als ich nach Cefalù reiste, wusste ich gar nicht, ob das Haus noch existiert. Die Art und Weise der Wiederentdeckung dieses Ortes spiegelt sich im Prinzip in der späteren Annäherung des Betrachters an die Fotografien in der Ausstellung wider. Und wenn der Betrachter die Texte liest, die ich dazu geschrieben habe, wird er noch sehr viel mehr in diesen Bildern entdecken. Er wird den ‚Raum der Alpträume‘ sehen oder die mit Holzlatten vernagelten Fenster, das eingebrochene Dach etc.“
NATALIE WICHMANN: „Die vernagelten Fenster erinnern mich an die Konstruktionen aus Holzbrettern, die du für einige deiner Ausstellungen gebaut hast. Gibt es da einen Zusammenhang? Warum machst du das?“
JOACHIM KOESTER: „Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Für eine meiner ersten Ausstellungen 1993 habe ich die Fenster einer Galerie vernagelt. Ich wusste nicht so recht, was ich ausstellen sollte und da kam mir diese Idee. Ich finde die gruselige Vorstellung eines derart zugenagelten Hauses und die damit verbundenen Konnotationen sehr spannend. In ‚True Detective‘, dieser Fernsehserie, gibt es eine Szene, in der ein verlassenes Gartenhäuschen durchsucht wird, in dem die Ermittler dann diese kleinen Skulpturen finden, die der Mörder produziert. Der Detektiv fragt die Person, die ebenfalls auf dem Grundstück lebt, ob sie etwas darüber weiß und sie antwortet, dass sie schon länger nicht mehr in dem Schuppen gewesen sei. So etwas macht mich neugierig, Orte die schon länger keiner mehr aufgesucht hat. Sie sind nicht verborgen, sondern irgendwie in Vergessenheit geraten.“
NATALIE WICHMANN: „Okay, lass uns mal über die Orte sprechen, die in der ‚Wildnis‘-Ausstellung in der SCHIRN gezeigt werden. Es gibt zwei Farbfotografien aus der ‚Bialowieza Forest‘-Serie von 2001 und eine Schwarz-Weiß-Fotografie aus der ‚Idolomantis diabolica‘-Serie von 2017. Beginnen wir mit dem Wald. Wie bist du auf ihn aufmerksam geworden?“
JOACHIM KOESTER: „Ich hatte eine Arbeit über die Eiskappen auf Grönland gemacht. Grönland hat mich zunächst interessiert, weil es ein Teil von Dänemark ist. Die Arktis finde ich vor allem in ihrer Rolle als Fantasieraum der westlichen Kultur faszinierend. Der Bialowieza-Wald ist in gewisser Weise auch ein Fantasieraum, ein unberührter Wald voller Geheimnisse, denn es ist DER Wald schlechthin. Ganz Europa hat vor 8000 Jahren im Grunde genauso ausgesehen. Das finde ich ziemlich interessant.“
NATALIE WICHMANN: „Das finde ich auch. Die Vorstellung, dass diese Bäume nicht von menschlicher Hand gepflanzt oder geschnitten wurden, macht den Wald zu etwas ganz Besonderem, oder?“
JOACHIM KOESTER: „Genau! Es ist ein sehr alter Ort. Und der Wald ist voller Bilder: Es ist ein ganz gewöhnlicher Wald, aber eben auch ein Super-Wald. Alle Bilder, die wir von europäischen Wäldern kennen, sind hier vereint.“
NATALIE WICHMANN: „Hast du dort auch gefilmt oder nur fotografiert?“
JOACHIM KOESTER: „Ich habe auch gefilmt, aber das Material nie gezeigt. Ich war mit dem Film nicht so ganz zufrieden [lächelt]. Auch das Fotografieren war dort relativ schwierig. Es ist nicht so einfach, einen Wald in Gänze zu erfassen. Ich habe viele Dinge gesehen, aber es war fast unmöglich, meine Wahrnehmung dieser Umgebung tatsächlich festzuhalten. Ich habe sehr viele Aufnahmen und Abzüge gemacht, aber nur wenige vermitteln die Andersartigkeit dieses Ortes.“
Es ist nicht so einfach, einen Wald in Gänze zu erfassen.
NATALIE WICHMANN: „Deine zweite in der SCHIRN ausgestellte Arbeit ist also ‚Idolomantis diabolica‘, eine Schwarz-Weiß-Fotografie einer Gottesanbeterin. Kannst du dich erinnern, wann du das erste Mal eine Gottesanbeterin gesehen hast?“
JOACHIM KOESTER: „Also ich glaube ich habe niemals eine in der freien Natur gesehen. Die Idee für die Gottesanbeterinnen-Serie entspringt einem anderen Projekt, nämlich ‚From the Secret Garden of Sleep‘. Dabei handelt es sich um eine Fotoserie von Cannabispflanzen, die 2008 entstanden sind. Eine dieser Fotografien beschwört die Assoziation mit einer Gottesanbeterin herauf. Die Pflanze hat etwas Insektenähnliches. Auf der anderen Seite bin ich durch eine Kung-Fu-Form, die auf der Gottesanbeterin beruht, auf diese aufmerksam geworden. Im Kung-Fu steht die Gottesanbeterin für die Aktivierung verborgener Kräfte im menschlichen Körper. Man kann mit seinem Körper und Geist an einen anderen Ort gelangen. Und man kann einige ihrer Eigenschaften, die Schnelligkeit, die Unsichtbarkeit, sogar Telepathie, annehmen. Außerdem finde ich die Gottesanbeterin als Vorbild für die außerirdischen Kreaturen in ‚Aliens‘ sehr interessant. Sie hängen sogar kopfüber wie das Insekt. Die Gottensanbeterin kombiniert also alle diese Bilder: Sie ähnelt einem menschlichen Wesen, hat die Persönlichkeit eines kleinen Hundes und leiht den ‚Aliens‘, außerirdischen Kreaturen mit übermenschlichen Kräften, ihr Aussehen. Sie vereint, wie der Bialowieza-Wald, mehrere Bilder in einem.“
Sie ähnelt einem menschlichen Wesen, hat die Persönlichkeit eines kleinen Hundes und leiht den „Aliens“ [...] ihr Aussehen.
NATALIE WICHMANN: „Das ist ein interessanter Gedanke. Der Wald und die Gottesanbeterin sind etwas ‚Wildes‘. Glaubst du, dass die Wildnis in der Kunst in Zukunft ein wiederkehrendes Motiv sein könnte?“
JOACHIM KOESTER: „Na ja, ich glaube es gibt viele verschiedene Formen von Wildnis: Im 19. Jahrhundert waren es die nicht erkundeten Gebiete der Erde, die die westliche Zivilisation als geografische Wildnis betrachtete. Man reiste in den Urwald, in die Wüste oder ins Polareis, um neue Gebiete zu entdecken und einzunehmen. Im 20. Jahrhundert tat sich die Wildnis hingegen im Inneren des Menschen auf und wurde durch Leute wie Sigmund Freud ‚erobert‘. Die heutige Wildnis ist vielleicht das Internet, die digitale Welt mit allen möglichen Geistern, die sie bevölkern. Es sind diese Orte, an denen wir uns begegnen und lernen und was wir in sie hineinprojizieren, das verleiht ihnen erst eine bestimmte Bedeutung, die uns mitunter dann um die Ohren fliegt.“
Nachdem wir uns verabschiedet haben und der Bildschirm wieder dunkel wird, fange ich an, einige der Projekte und Personen zu recherchieren, die Koester erwähnt hatte. Ein Stunde später erhalte ich eine E-Mail von ihm mit einem Youtube-Link und dem Kommentar: „Es ist der Titel eines Songs von Bauhaus – ihre Debütsingle – ein netter Song von 1979 mit guten Lyrics, ziemlich goth...passt gut zu Gottesanbeterinnen und uralten Wäldern.“ Ich brauche einen Moment, um den Zusammenhang herzustellen: Er verweist damit auf das „Bela Lugosi is dead“-Graffiti, über das wir zu Beginn gesprochen haben. Ich klicke auf den Link und während die ersten etwas seltsamen Klänge aus den Lautsprechern wabern, frage ich mich, ob heute der Tag ist, an dem eine neue Idee geboren wurde, ein neues Projekt über den Schauspieler, der Dracula gespielt hat.