In ihren Arbeiten befasst sich die Künstlerin Grada Kilomba mit Postkolonialismus, Trauma und Erinnerung. Das SCHIRN MAG sprach mit ihr über Aspekte des Unbewussten, unter anderem im Werk von Jean-Michel Basquiat.
Ihre künstlerische Praxis unterscheidet sich zwar von der Basquiats, aber Sie haben eines mit ihm gemeinsam: Sie sind beide autodidaktische Künstler. Hat das Ihre Arbeit in irgendeiner Form beeinflusst?
Das ist eine sehr schöne Frage. Ich glaube, Künstlerin zu sein, ist ein sehr besonderer Zustand, da man dafür nicht studieren muss: Man definiert sich einfach als solcher. Natürlich ist für die Herangehensweise eine Menge Wissen und Theorie erforderlich, aber bei der Selbstdefinition als Künstlerin geht es vor allem darum, seine Arbeit als künstlerische Praxis zu verstehen. Wenn man mit Kunst arbeitet, dann arbeitet man mit dem Unbewusstem, mit Vorstellungen, Assoziationen, Metaphern und Symbolen. Kunst entsteht, wenn man tief in diesen Eisberg vordringt und das Bewusste hinter sich lässt. Man steigt in diese unbewusste Welt hinab und beginnt, mit all seinen Erinnerungen und Assoziationen und ihren Beziehungen zur eigenen sozialen und politischen Welt zu arbeiten.
Es ist interessant, dass Sie Begriffe wie „das Unbewusste“ und „der Eisberg“ verwenden, ein Modell, das auf Sigmund Freud zurückgeht. Sie haben selbst auch Psychologie studiert.
Ja, das ist richtig. Ich bin in Lissabon geboren und am Stadtrand aufgewachsen, wo sehr viel Ausgrenzung und Armut herrschte; ich war vermutlich eines der wenigen schwarzen Mädchen im Viertel, das die Möglichkeit bekam, studieren zu dürfen. Natürlich wollte ich Kunst machen, aber es war für meine Eltern und meine Umgebung sehr wichtig, dass ich etwas Ernsthaftes machte – was ich verstehen konnte. Da ich mich sehr für Psychologie interessierte, habe ich das dann auch studiert, aber mir wurde schon sehr bald klar, wie mich das eine zum anderen führte.
Bei der Psychoanalyse geht es hauptsächlich um das Unbewusste, und das ist ihre Gemeinsamkeit mit der Kunst. Ich habe mit Kriegsüberlebenden gearbeitet und begann zu schreiben, und das wiederum weckte in mir das Interesse am Geschichtenerzählen. Am Ende wollte ich diese Geschichten dann visualisieren und inszenieren.
Kunst entsteht, wenn man tief in diesen Eisberg vordringt und das Bewusste hinter sich lässt.
In Ihren Lecture-Performances schaffen Sie Mischformen zwischen akademischem Wissen und künstlerischer Praxis. Wie haben Sie diese besondere Kunstform entwickelt?
Meine künstlerische Praxis begann mit Lecture-Performances, aber ich beschäftigte mich auch mit anderen Formaten, wie Lesungen auf Bühnen, Video- und Audio-Installationen. Hybride Arbeiten faszinieren mich, und ich möchte mich nicht auf eine Disziplin beschränken. Wenn man es aus einer historischen Perspektive betrachtet und alle Disziplinen berücksichtigt, die entstanden sind, dann fällt auf, dass diese Disziplinen Menschen meist bezüglich Geschlecht, Rasse und Sexualität zu Objekten machen. Es gibt nur eine kleine Gruppe von Leuten, die in all diesen Disziplinen arbeiten können; daher kann ich die Geschichten, die ich erzählen will, nicht in einer dieser traditionellen Formen erzählen. Aus diesem Grund gibt es auch die Frauenbewegung, die queere Bewegung oder die schwarze Bürgerrechtsbewegung. Sie überschreiten diese Disziplinen. Für mich war es sehr wichtig, mich davon zu befreien und zum Beispiel die Performabilität theoretischer und politischer Texte zu erkunden. Sie liefern eine Menge Wissen, und mir ist es wichtig, dass dieses Wissen nicht nur im Kopf bleibt, sondern den ganzen Körper umfasst.
Apropos Wissen vermitteln: Sie haben auch mehrere Jahre als Professorin an der Humboldt-Universität in Berlin gearbeitet.
Das war eine tolle Zeit! Ich habe sehr gerne mit meinen Studenten gearbeitet, aber ich habe noch eine andere wichtige Erinnerung an diese Zeit: Jeden Tag, wenn ich in mein Büro ging, kam ich an all diesen Büsten von weißen Männern vorbei und dachte, das ist die Manifestation von Wissensproduktion in der akademischen Welt. Man kann nur den Kopf sehen und die Schultern, die den Kopf halten, nicht aber den Körper. Wir sollten körperlose Theoretiker sein und ausschließlich mit unseren Köpfen denken. In der Akademie ist man auf eine Disziplin festgelegt, also schafft man ein Objekt, das man studieren, beschreiben und ausstellen kann – und wird so zum Subjekt dieses Objekts. Ich habe mir die Büsten dieser Männer angesehen und fand sie waren Stellvertreter für die rücksichtslose Art und Weise, in der wir Wissen vermitteln und produzieren. Deshalb müssen wir dringend Werke schaffen, die ihre eigene Sprache sprechen. Eine Geschichte verrät dir, wie sie erzählt werden will – und nicht anders herum. Als Künstler erforscht man die Verkörperung dieser Geschichte, in ihren verschiedenen Formaten.
Und das tut auch Basquiat?
Genau. Er schreibt, wenn er malen soll, und er malt, wenn er schreiben soll. Was als Küchenobjekt bestimmt ist, wird zur Leinwand. Alles verstößt gegen die Regeln, und diese Rebellion ist Teil eines Prozesses, in dem er versucht, Kunst, den White Cube und insbesondere Wissen zu dekolonisieren. Das ist für mich das Faszinierende und Inspirierende an seiner Arbeit. Er verstößt gegen alle Formate, Disziplinen, Praktiken und öffnet einen Raum, in dem sich nichts an seinem festen Platz zu befinden scheint. Das ist im Grunde keine Überraschung, weil schwarze Künstler eine Perspektive in die Kunst bringen, die nie einen festen Platz im White Cube gehabt hat. Dieser Akt der Dekolonisierung steht für mich als Künstlerin im Mittelpunkt. Ich möchte nicht nur Räume mit Perspektiven spalten, die für gewöhnlich dort nicht hingehören, ich will auch die Freiheit haben, neue hybride Formate zu erforschen – Formate, die sich nicht den Normen des White Cube fügen, sondern ihre eigene Story erzählen.
Ihre letzte Einzelausstellung fand in der Goodman Gallery in Johannesburg statt. Wie war das Gefühl, Ihre Arbeiten, die sich viel mit Trauma und Post-Kolonialismus beschäftigen, in einer Stadt wie dieser zu zeigen?
Es war eine sehr intensive und schöne Erfahrung. Als schwarze Künstlerin, als eine Frau der Diaspora, die in Europa lebt, ist es für mich sehr wichtig, meine Arbeit auf dem afrikanischen Kontinent zu zeigen. Besonders in Südafrika, wo es einerseits eine sehr schmerzvolle Geschichte der Unterdrückung gibt, andererseits aber auch eine komplexe Geschichte von Befreiung und politischem Bewusstsein. Daher schien die Ausstellung in sofortigen Dialog mit den Besuchern zu treten.
Die Ausstellung trug den Titel „Speaking the Unspeakable”. Worauf genau bezieht er sich?
Ich hatte „Speaking the Unspeakable” immer im Kopf, als ich an der Ausstellung gearbeitet habe. Es war eine Metapher für Dinge, über die wir nicht sprechen können, oder für Orte, für deren Beschreibung wir nie ein Vokabular hatten. Für eine Geschichte, die unsagbar war, weil man sie aus dem Raum ausradiert, aus Büchern gelöscht, aus Ausstellungen entfernt hat. Es ist eine Metapher für ein Trauma und eine Geschichte, die so entmenschlichend ist, dass sie nicht in Worte gefasst werden kann.
Man hat also all diese verschiedenen Ebenen dessen, was „unsagbar“ sein kann, und auch diese sehr verheißungsvolle Idee, dass wir uns chronologisch in einer Zeit befinden, in der wir alles neu erfinden müssen. Das Vokabular, das man uns mit auf den Weg gegeben hat, ist ein sehr unterdrücktes, mit dem wir nicht die Geschichten erzählen können, die wir heute erzählen wollen. Wir sind die Generation, die experimentieren muss. Wir müssen neue Bilder, Formate und Worte erfinden und alles neu definieren, um das Unsagbare zu sagen, denn wenn wir den Traditionen der alten Disziplinen folgen, bleibt es ungesagt. Also vereint meine Ausstellung all diese Ideen des Verstoßens gegen jede Norm und der Erforschung subversiver Perspektiven.
Das Vokabular, das man uns mit auf den Weg gegeben hat, ist ein sehr unterdrücktes, mit dem wir nicht die Geschichten erzählen können, die wir heute erzählen wollen.
Das erinnert mich wieder an Freud. Nachdem er mit verschiedenen Methoden experimentiert hat, entdeckte er „die Couch“: Freud bat den Patienten, sich darauf zu legen, und da er keinen Augenkontakt mit dem Analysten hatte, konnte der Patient frei über seine Gefühle sprechen, so dass der Analyst tiefer in dessen Unbewusstes vordringen konnte.
Ja, genauso ist es. In Europa haben wir häufig das Dilemma, dass wir zum Vergessen neigen, weil sie sich nicht erinnern müssen. Im globalen Süden dagegen erinnert man sich, weil man nicht vergessen kann. Freud sagte, die Theorie der Erinnerung sei vielmehr eine Theorie des Vergessens. Es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen der Ausstellung meiner Arbeiten in Ländern wie etwa Südafrika und Brasilien gegenüber den Ländern in der Nordhalbkugel: den Unterschied zwischen Erinnern und Vergessen.
In Europa kann das Publikum problemlos eine Ausstellung besuchen und gewissermaßen „körperlos“ werden, so als ob es nichts mit dem Ausstellungsinhalt zu tun hätte; es kann die intellektuelle Wahl treffen, ob es sich mit Feminismus, Queer Themen oder Post-Kolonialismus beschäftigen will oder nicht. Es besitzt das Privileg, sich nicht erinnern zu müssen. Ich frage mich, an wie viel von dem, was Jean-Michel Basquiat ausmachte – als einen schwarzen Künstler, der in einer Zeit der Post-Apartheid lebte, umgeben von der Brutalität der Polizei, im ständigen Kampf gegen falsche Darstellung der Wahrheit und Isolation –, an wie viel davon sich das Publikum bei der Betrachtung seiner Arbeiten erinnert. Nicht jeder empfindet diese Dringlichkeit, aber wenn man mit falscher Darstellung und Unsichtbarkeit zu kämpfen hat, wird es immer wichtiger, sich damit zu befassen.
Basquiat war zwar ein anerkannter Künstler, aber er litt ständig unter dem alltäglichen Rassismus. Wie bedeutend ist Ihrer Meinung nach sein Erfolg für die Anerkennung afro-amerikanischer Künstler?
Er war und ist bis heute sehr bedeutend. Kunst ist nicht nur ein Raum der Ästhetik, sondern auch ein Raum der Politik. Es besteht zwar immer die Gefahr der Kommodifizierung – die Gefahr, dass seine Arbeiten zu einer Karikatur ihrer selbst gemacht werden oder dass ihre politische Dimension ausgelöscht wird. Aber ich betrachte seine Arbeiten und sehe hochgradig politische Kunstwerke, Akte der Dekolonisierung, mit denen er gegen anerkannte, festgelegte Disziplinen rebelliert.
Jean-Michel Basquiat verkörperte diese Rebellion nicht nur in seiner künstlerischen Praxis, sondern auch, wenn es um Mode ging. Er trug teure Marken, wie Armani, und malte in diesen Kleidern, womit er den White Cube verhöhnte. Es ging ihm darum, Orte zu verstören und diese Irritationen zu erzeugen - das stand für mich im Mittelpunkt seiner Arbeit. Es ist so befreiend zu sagen, dass man keiner Ordnung folgt, und damit wären wir wieder bei Ihrer ersten Frage. Man kann Kunst studieren, aber ich glaube, es ist einer der wenigen Berufe, in denen man sich selbst für unabhängig von dem erklären kann, was man vorher gemacht oder studiert hat – und in denen man alles völlig neu erfinden kann.