Das SCHIRN MAG hat die italienische Professorin Donatella della Porta von der Scuola Normale Superiore getroffen, um mit ihr über die Dynamik sozialer Proteste und den Fluch und Segen sogenannter Bewegungsparteien zu sprechen.

Dona­tella Della Porta, Sie befas­sen sich in Ihrer Forschung mit soge­nann­ten Bewe­gungs­par­teien, wie der italie­ni­schen Fünf-Sterne-Bewe­gung. Was zeich­net diese Parteien aus?

Unter dem Begriff verstehe ich poli­ti­sche Parteien, die beson­ders starke Verbin­dun­gen zu sozia­len Bewe­gun­gen pfle­gen: die Orga­ni­sa­ti­ons­struk­tu­ren sind offen für Sympa­thi­san­ten der Bewe­gung, sie verbin­den unter­schied­li­che Formen des Protests mit konven­tio­nel­len Formen der Parti­zi­pa­tion und erstel­len ein Programm, das zentrale Forde­run­gen der Bewe­gung aufgreift. 

Wie entste­hen solche Parteien?

In der Forschung wird die Entste­hung oft mit der Geschichte sozia­ler Bewe­gun­gen verknüpft. Wenn wir uns das Partei­en­sys­tem anschauen, so fällt sofort auf, dass manche Bewe­gun­gen den Anstoß für neue Parteien gege­ben haben. So haben z.B. Arbei­ter­be­we­gun­gen die Grün­dung sozia­lis­ti­scher Parteien herbei­ge­führt. Regio­nale Parteien hatten häufig ihre Wurzeln in ethni­schen Bewe­gun­gen, konfes­sio­nelle Parteien in reli­giö­sen Bewe­gun­gen und grüne Parteien in Umwelt­be­we­gun­gen.

Anhän­ger der Fünf-Sterne-Bewe­gung, 2016, Image via: deutsch­land­funk.de

Und woraus schöp­fen Bewe­gungs­par­teien inhalt­lich?

Sie inter­agie­ren sowohl mit etablier­ten Parteien als auch mit sozia­len Bewe­gun­gen. Sie stehen im Wett­be­werb mit ande­ren Parteien und müssen Nischen ausfin­dig machen. Und die soziale Bewe­gung hinter der Partei füttert diese mit wich­ti­gen Mate­ria­lien und Ideen. Inso­fern resul­tie­ren die Inhalte zum einen aus stra­te­gi­schen Erwä­gun­gen und zum ande­ren aus Visio­nen und Normen, aber auch Emotio­nen.

Dies führt oft zu Grenz­über­schrei­tun­gen.

Bewe­gungs­par­teien setzen auf Schock­re­ak­tio­nen und erschüt­tern exis­tie­rende Struk­tu­ren mit ihren Aktio­nen uns Aussa­gen. Viele Entwick­lun­gen erfol­gen durch Versuch und Irrtum, durch Expe­ri­mente. Die Parteien testen ihre Gren­zen aus und produ­zie­ren damit die Chan­cen und Ressour­cen, die sie für einen Wahl­er­folg benö­ti­gen.  

Julius von Bismarck, Fugu­ra­tion #5 (May Day Riot Police), 2009, Inkjet print, 50 x 75 cm, © Der Künst­ler, Cour­tesy alex­an­der levy, Berlin; Sies + Höke, Düssel­dorf

Oft wird behaup­tet, eine Partei würde das Volk und die wahren Inter­es­sen der Menschen reprä­sen­tie­ren. Wie schät­zen Sie das ein?

Oft unter­schei­den sich Bewe­gungs­par­teien hinsicht­lich Orga­ni­sa­ti­ons­struk­tur, Hand­lungs­re­per­toire und Ideo­lo­gie. Obwohl einige von ihnen Bezug auf das Volk nehmen, so iden­ti­fi­zie­ren sich andere ganz offen mit den Inter­es­sen einer bestimm­ten sozia­len Klasse oder einer großen Gruppe, die sie im weites­ten Sinne als progres­siv betrach­ten. Die große Fami­lie der sozia­lis­ti­schen und kommu­nis­ti­schen Parteien fiel oft in jene Kate­go­rie. Sie waren der Ansicht, dass die Arbei­ter nicht nur für ihre eige­nen Inter­es­sen kämpf­ten sondern für die der ganzen Mensch­heit.

Und würden Sie sagen, die Globa­li­sie­rung beför­dert oder hemmt den Erfolg der Bewe­gungs­par­teien?

Ein großes Problem für alle Parteien ist natür­lich die Umset­zung eines ambi­tio­nier­ten Programms, das zwar Wähler mobi­li­sie­ren mag, aber natio­na­len Zwän­gen und inter­na­tio­na­lem Druck ausge­setzt ist. Daher haben Globa­li­sie­rungs­pro­zesse, die oft mit inter­na­tio­na­len Aufsichts­maß­nah­men einher­ge­hen, den Spiel­raum der demo­kra­tisch gewähl­ten Parteien begrenzt. Insti­tu­tio­nen wie die EU oder der Inter­na­tio­nale Währungs­fonds redu­zie­ren durch ihre stren­gen Aufla­gen für die Kredit­ver­gabe sowie durch ihre Fiskal­po­li­tik oft den Entschei­dungs­spiel­raum für einzelne Natio­nen, wie beispiels­weise Grie­chen­land als ein Extrem­fall oder Irland, sowie den Süden und Osten Euro­pas ganz allge­mein. Dies wiederum führt gerade in wirt­schaft­lich schlech­ter gestell­ten Ländern zu Span­nun­gen.

Glau­ben Sie denn, dass Protest­be­we­gun­gen in den letz­ten Jahr­zehn­ten eher ein Fluch oder ein Segen waren?

Natür­lich gibt es Protest­be­we­gun­gen, die sehr unter­schied­li­che Ziele verfol­gen. Einige setzen sich für Demo­kra­tie ein, andere bekämp­fen sie. Einige setzen sich für mehr Bürger­rechte ein und andere möch­ten sie zumin­dest für einen Teil der Bevöl­ke­rung abschaf­fen, was oft mit Sexis­mus und Rassis­mus einher­geht. Im Großen und Ganzen wurde Protest aber öfter von Bewe­gun­gen genutzt, die für mehr Demo­kra­tie und inte­gra­tive Werte eintre­ten.

Andrea Bowers, Radi­cal Femi­nist Pirate Ship Tree Sitting Plat­form, 2013, Instal­la­ti­ons­an­sicht "Power to the People. Poli­ti­sche Kunst jetzt", © Schirn Kunst­halle Frank­furt 2018, Foto: Norbert Migu­letz

Und hat der Einsatz für Demo­kra­tie Früchte getra­gen?

Soziale Bewe­gun­gen spie­len in der Tat eine wich­tige Rolle für Demo­kra­tien. Sie decken gesell­schaft­li­che Probleme auf und entwi­ckeln Lösun­gen. Sie kriti­sie­ren die Herr­schen­den im Namen derje­ni­gen, denen wenig insti­tu­tio­nelle Macht und Ressour­cen zur Verfü­gung stehen. Darüber hinaus schaf­fen und verbrei­ten sie Wissen. Sie sind von funda­men­ta­ler Bedeu­tung für die Sozia­li­sie­rung von verant­wor­tungs­be­wuss­ten Bürgern, die sich um das Gemein­wohl sche­ren und mit krea­ti­ven und Inno­va­tion Konzep­ten einbrin­gen.

Wie ist letzt­lich der Einfluss von Kunst auf den Erfolg sozia­ler Bewe­gun­gen zu bewer­ten?

Kunst war schon immer sehr rele­vant für Bewe­gun­gen, auch wenn histo­risch betrach­tet auf unter­schied­li­che Weise. Musik, Male­rei und Lite­ra­tur haben eine äußerst wich­tige symbo­li­sche Bedeu­tung für den Aufbau von Gemein­schaf­ten. Sie können neue Formen des sozia­len Mitein­an­ders festi­gen, indem sie Gedan­ken und Emotio­nen verknüp­fen.

Umge­kehrt sind auch soziale Bewe­gun­gen wich­tig für die Kunst – nicht nur weil sie die Entste­hung neuer Kunst­rich­tun­gen ange­sto­ßen haben, sondern auch weil sie die Verbrei­tung und gegen­sei­tige Befruch­tung von neuen künst­le­ri­schen Ansät­zen über natio­nale Gren­zen hinaus begüns­ti­gen.