Die Distanz zwischen Zuschauer und Film wird immer kleiner. Dabei sind schon vor 120 Jahren Kinobesucher fluchtartig aufgesprungen, als die Lokomotive auf der Leinwand auf sie zuraste. Ein Rück- und Ausblick
Alfred Hitchcock’s Klassiker „Das Fenster zum Hof“ von 1954 ist auch heute noch eine wunderbare Metapher auf das klassische Filmerlebnis. James Stewart als an den Rollstuhl gefesselter Voyeur, der durch sein Fenster einen Mord zu beobachten meint und selbst wegen seines Handicaps nicht einschreiten kann: Das sind wir Voyeure, wie wir im Kinosessel sitzen und durch das große weiße Rechteck in eine andere Welt blicken, die Leinwand ist unser Fenster, das wir nicht durchschreiten können.
Seit rund fünf Jahren wird aufgrund neuer Technologien wie der Oculus Rift ein Begriff auch im Filmdiskurs wieder aufgekocht, der in den 1990er-Jahren en vogue war, dann aber mangels praktischer technischer Umsetzbarkeit zunächst von der Bildfläche verschwand: Virtual Reality (VR). Eine künstliche Welt, die mithilfe einer VR-Brille in 360 Grad erfahren werden kann. In letzter Konsequenz könnte der erfolgreiche Einsatz dieser Technik das Filmerlebnis revolutionieren. Um bei unserer Metapher zu bleiben: Aus dem Fenster würde ein Pool, in den man quasi hineinspringt und in die andere Welt eintaucht. „Immersion“ ist der Kampfbegriff, der in diesem Kontext durch die Presse und die Fachtexte geistert und von den Herstellern als Verkaufsargument angeführt wird.
Hilfe ein Zug!
Der Begriff Immersion begleitet das Kino seit seinen Anfängen und ist eng verknüpft mit den jeweiligen technischen Möglichkeiten und der bisherigen Rezeptionssozialisation. Letzteres wird überdeutlich durch jene oft zitierte Anekdote: Bei der Vorführung des Films „Die Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La Ciotat“ der Gebrüder Lumiere im Jahr 1895, in dem tatsächlich nur ein Zug in besagten Bahnhof einfährt, sollen viele Besucher aus Angst vor dem sich nähernden Ungetüm fluchtartig den Projektionssaal verlassen haben. Auch wenn dieses wunderbare Bild eher Mythos als Realität sein dürfte, muss es doch ein ungeheuerlicher Moment gewesen sein, das Abbild der Wirklichkeit erstmals eingefangen in bewegten Bildern zu sehen.
Um den Film als eigene Kunstform neben den klassischen Künsten wie der Malerei oder dem Theater zu etablieren, arbeiteten Theoretiker wie etwa Béla Balázs die Eigenheiten des Films heraus. Im Zentrum standen dabei immer auch Begriffe wie Illusion und Distanz, die sich beim Film anders annahmen als bei den klassischen Künsten: „Wir sind mittendrin!“ beginnt Balázs seinen Text „Der Geist des Films“ (1930) und weiter schreibt er: „Der Film […] hat die Distanz des Zuschauers aufgehoben; jene Distanz, die bisher zum Wesen der sichtbaren Künste gehört hat. Der Zuschauer steht nicht mehr außerhalb einer in sich geschlossenen Welt der Kunst, die im Bild oder auf der Bühne umrahmt ist. Das Kunstwerk ist hier keine abgesonderte Welt, die als Mikrokosmos und Gleichnis erscheint, in einem anderen Raum ohne Zugang. Die Kamera nimmt mein Auge mit. Mitten ins Bild hinein.“
Illusion und Raumfilm
Betrachtet nach heutigen Maßstäben entspricht das, was Balázs als immersive Möglichkeit des Films feierte, den neuen Möglichkeiten der Leinwand-Illusion dieser zeitbasierten Kunstform, die mittels Technik andere Rezeptions- und Wahrnehmungsmodi erzeugen konnte als etwa das Theater. Klar konnte die Kamera den Zuschauer plötzlich mitten hineinbringen ins Geschehen, Räume und Figuren in Kamerafahrten und mit verschiedenen Einstellungsgrößen von der Totalen bis zur Detailaufnahme erfahrbar machen, uns anders und auch mehr teilhaben lassen. Dennoch ist das Medium der Narration jederzeit erkennbar, sind filmische Welt und der Zuschauerraum räumlich getrennt.
Einen Schritt weiter als sein ungarischer Kollege ging der kommunistische Avantgarderegisseur und Formalist Sergej M. Eisenstein in seinem 1947 kurz vor seinem Tod veröffentlichten Aufsatz „Über den Raumfilm“ (1947). Darin formulierte er eine Utopie des Raumfilms, die den heutigen 3D-Filmen sehr nahe kommt: „die als reale Dreidimensionalität empfundene Abbildung ›ergießt‹ sich von der Leinwand in den Zuschauerraum. Ein Spinngewebe mit einer gigantischen Spinne hängt irgendwo zwischen Leinwand und Zuschauer.“ Mit diesem unbekannten Potential an Plastizität und Bewegung könne der Zuschauer psychologisch aus seiner eigentlichen Umgebung fortgetragen werden – bei Eisenstein selbstverständlich in kommunistisch-propagandistische Welten.
Vom Fenster zum Raumfilm ...
Eisensteins Idee ist lange Zeit Utopie geblieben und die Geschichte der filmischen Immersion zunächst die Geschichte von Neuerungen, wie die Welt hinter dem Fenster originell dargestellt werden kann und dadurch für den Zuschauer erfahrbarer wird. Sei es das Cinéorama, das die Besucher der Pariser Weltausstellung von 1900 in einem Panorama aus an die Wände projizierten Filmbildern wie in einem Fesselballon aufsteigen ließ oder die Cinerama-Technik, die in 1950er-Jahren in weltweit rund 100 Kinos Filme in extremen Breitwandformat auf einer gekrümmten Bildwand präsentierte und so eine 3D-Illusion erzeugte. Potenziert wird dieser Effekt bei Fulldome Filmen, die auf einer Kuppel ähnlich einem Planetarium projiziert werden und damit in 360-Grad erlebt werden können.
Seit James Camerons’ „Avatar – Aufbruch nach Pandora“ von 2009 floriert das Geschäft mit den 3D-Filmen wieder, das in den 1990ern eingeschlafen war, und lässt Eisensteins Raumfilm Wirklichkeit werden. Dass gerade Camerons völlig fantastische Welt Pandora mit ihren Science-Fiction-Schlümpfen und den vielen verrückten Wesen den Startschuss bildete, passt angesichts der Vorstellung vom Erleben neuer Wirklichkeiten gut ins Bild. Richtig spannend sind die 3D-Effekte bei den Filmen, bei denen nicht nur des Spektakels halber auf die Technik zurückgegriffen wird, sondern auch ein inhaltlicher Impetus zugrunde liegt.
...in den Pool
Besondere Beispiele sind Alfonso Cuaróns Weltraum-Thriller „Gravity“ (2013), in dem die Weite des Alls und die Schwerelosigkeit durch 3D bestens zur Geltung kommen oder auch Wim Wenders’ Dokumentation „Pina - tanzt, tanzt sonst sind wir verloren“ (2011) über die Ballettchoreographin Pina Bausch, in dem die Zuschauer fast schon zu Tanzpartnern werden. Sympathisch ist sicherlich auch Martin Scorseses „Hugo Cabret“ (2011), eine Liebeserklärung an das Kino, in der auch der einfahrende Zug der Gebrüder Lumiere zitiert wird und tatsächlich aus der Leinwand herauskommt.
Dennoch: Von Eintauchen kann nicht die Rede sein. Die Geschehnisse ergießen sich von der Leinwand in den Kinosaal, der stets präsent bleibt, und auch der Blick richtet sich nach wie vor auf das Medium, das magische weiße Rechteck. Genau das soll sich ändern durch VR-Brillen, die mittlerweile bei vielen neu erwobenen Smartphones zum Standardequipment gehören. Man setzt die Brille und die Kopfhörer auf und kann die neue Welt in 360 Grad erleben. Diese Technik, die eigentlich vom Gaming her kommt, findet in der Kunst – eindrucksvoll zeigt das etwa die aktuelle Ausstellung „Perception is Reality“ im Frankfurter Kunstverein – und auch im Bereich Film immer stärkeren Anklang und ist derzeit äußerst gefragt.
Barfuß auf Sand
Gerade in diesem Jahr gab es beim Filmfestival in Venedig und auch beim Lichter Filmfest in Frankfurt erstmals eine VR-Sektion, in der die immersiven Möglichkeiten für den Film ausgelotet wurden. Beim Filmfestival in Cannes präsentierte Regisseur Alejandro González Iñárritu („Birdman (oder die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit)“, „The Revenant“) die Installation „Carne y Arena“ (Flesh and Sand), in der die Besucher mit VR-Brillen ausgestattet und Barfuss auf Sand laufend eine Fluchsituation in einer Grenzgebiet-Wüste erleben konnten. Auch wenn der Regisseur erklärte, dass es kein Kino sei, sondern eine Installation, liegt das filmische Interesse auf der Hand.
Spannend ist die Frage, wie sich die Dramaturgie eines VR-Films gestalten soll. Stichwort: Interaktion. Denn wie kann eine Geschichte, eine filmische Narration, dramaturgisch beschaffen sein, wenn der Zuschauer interagieren muss wie bei einem Spiel? Und wo verläuft dann die Grenze zwischen Film und Spiel? Auch ist es schwer vorstellbar, dass das Gemeinschaftserlebnis Kino bald von einer Technik torpediert wird, die den Besucher akustisch und optisch vollständig von der Außenwelt abschneidet. Denn, wenn der Immersionsgedanke in Bezug auf VR zu Ende gedacht wird, und mag die perfekte technische Realisierbarkeit auch noch ein paar Jahre dauern, dann geht es tatsächlich um eine völlige Absorbierung des Zuschauers.
Der englische Forscher Richard Barle hat zur Beschreibung des immersiven Erlebnisses eine Skala aufgestellt, die vom Zuschauer als Spieler, der sich in der virtuellen Welt noch als reales Ich wahrnimmt, bis hin zum Zuschauer als Persona, die mit der virtuellen Welt verschmilzt und nicht mehr zwischen sich und der Figur unterscheidet, reicht. Ist ein Eintauchen in solch totalitäre Bildwelten, deren Medium nicht mehr sichtbar ist, wirklich wünschenswert? Dystopisch auf die Spitze getrieben könnte das heißen: Willkommen in der Matrix. Aber das wäre Kulturpessimismus. Die nächsten Jahre werden zeigen, wie fruchtbar VR-Technologien für den Film sein können.
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