Computerspiele werden heute im Feuilleton besprochen. Was macht ihren Reiz aus und wie entwickeln sie ihre starke Sogwirkung? Let's play!
Vielleicht verschafft die US-amerikanische Zeichentrickserie „Rick & Morty“ am besten einen Einblick davon, was genau man sich unter einer gelungenen Immersion in die Virtual Reality vorzustellen hat. In einer Episode machen die beiden Helden einen Zwischenstopp auf einem Spielhallen-Planeten, auf dem Rick seinem Enkel Morty ohne Vorwarnung einen VR-Helm aufsetzt und ihn in das Spiel „Roy: A life well lived“ katapultiert. Morty weiß nicht, wie ihm geschieht, und erlebt als Roy in der virtuellen Welt ein komplettes Leben: Schule, sportliche Erfolge, Hochzeit, Kinder, Eröffnung eines Teppich-Ladens, irgendwann die Krebs-Erkrankung, Besiegung jener, schließlich der Tod Roys mit 55 Jahren. „Game over“ prangt in großen Lettern über den Bildschirm und zurück bleibt der verwirrte Morty, der nicht begreifen kann, dass er lediglich ein Spiel gespielt hat, so stark war die Immersion, das Eintauchen in dieses virtuelle Leben.
Dass so ein Spielerlebnis noch Zukunftsmusik ist, weiß jeder, der sich einmal mit einer VR-Brille in einen virtuellen Raum begeben hat. Wenngleich ein beeindruckendes Erlebnis, vergisst hierüber doch niemand seiner selbst oder verschmilzt gar komplett mit der technisch erschaffenen Welt. Mit fortschreitenden Prozessor- und Grafikleistungen lassen sich zwar schon überzeugende Räume, Landschaften, gar ganze Welt kreieren – das ewige Reden über realistisch wirkende Grafik offenbart jedoch, dass ein jeder eben sehr wohl noch weiß, dass er sich in einem digital kreierten Raum befindet. Den diversen Mängeln zum Trotz verstehen es aber dennoch immer mehr Computerspiele, den Nutzer auf unterschiedlichen Arten in den Bann zu ziehen.
Simulierte Welten
Um verschiedene Abstufungen des Eintauchens zu differenzieren, unterscheiden Wissenschaftler bestimmte Kategorien der Immersion, bei der für Computerspiele besonders jene der „spatial immersion“ und der „narrative immersion“ von Bedeutung sind. Von „spatial immersion“ ist immer dann die Rede, wenn simulierte Welten hinsichtlich der Empfindungswahrnehmung besonders überzeugend sind, während die narrative oder auch emotionale Immersion schon aus Literatur, Film und besonders TV-Serien bekannt ist und den Rezipienten aufgrund des jeweiligen Handlungsrahmens stark in eine fiktionale Welt hineinzieht.
Gerade hinsichtlich der narrativen Immersion hat sich die Computerspiel-Landschaft in den letzten Jahren enorm verändert. Längst ist es nicht mehr ungewöhnlich, dass Neuerscheinungen in den Feuilletons der großen Tages- oder Wochenzeitungen besprochen werden. Vorbei die Zeiten des Computerspiels als Zeittotschlagmittel infantiler Individuen – oder wie der bekannte Filmkritiker Roger Ebert einmal sagte: „For most gamers, video games represent a loss of those precious hours we have available to make ourselves more cultured, civilized and empathetic“ -, stattdessen nun also Diskussionen über die Kunstmöglichkeit ebenjener.
Reise ins Reich der Wikinger
Im August diesen Jahres veröffentlichte beispielsweise das englische Spieleentwickler-Studio Ninja Theory das viel beachtete Spiel „Hellblade – Senua‘s Sacrifice“. Angesiedelt in einer vergangenen, mythisch aufgeladenen Welt steuert der Spieler den Hauptcharakter Senua, lose angelehnt an die keltische Göttin Senuna. Diese kehrt nach Jahren im Exil zurück in ihr Heimatdorf, von dem nur noch Überreste existieren. Wikinger haben verwüstet und gebrandschatzt, alle Bewohner samt ihrer großen Liebe Dillion wurden bestialisch getötet. Senua beschließt, sich auf die Reise ins Totenreich Helheim zu machen und ihren Liebsten, ganz wie in der Orpheus und Eurydike-Saga, aus den Fängen der Todesgöttin Hel zu befreien. So weit, so typisch, mag man denken, doch die Entwickler haben ihrem Hauptcharakter eine Besonderheit verpasst: Sie leidet an einer Psychose, ist fort weg von Stimmen in ihrem Kopf geplagt. Mit der ungewöhnlichen Heldin zusammen macht sich der Spieler nun auf eine Reise tief ins Reich der Wikinger, erfährt einiges über nordische Mythologie, muss Rätsel lösen und natürlich kämpfen.
Während solcherlei Spielmechanismen bekannt sind und ihrem Wesen nach repetitiv, versteht es der Entwickler, den eigentlichen Spielfluss hierdurch möglichst wenig zu stören: Er gibt dem Spieler kaum die sonst typischen Tutorials an die Hand. Notwendige Erklärungen werden möglichst in den Story-Verlauf eingebaut, die mageren Spielerinfos sind eher verstörend: ein zu häufiger Tod der Heldin führe dazu, dass der Spielstand gelöscht werde, heißt es da beispielsweise. Das eigentliche Ziel wird unbeachtet der Rahmenhandlung und Spieltechnik schnell klar: Senua auf ihrer Reise ins Innere der Trauer folgen, mit ihr erleben, wie das Dunkel sich doppelt.
Die Umgebung atmet
Der vorangestellten Vorschlag des Herstellers, das Spiel mit einem Kopfhörer zu spielen, macht hier tatsächlich den Unterschied ums Ganze: Permanent werden die Protagonistin und somit der Spieler von den Stimmen in ihrem Kopf malträtiert. Von allen Seiten reden diese auf Senua ein: sie werde ohnehin sterben, ihr Streben habe kein Sinn; manche Stimmen haben Angst und wollen umkehren, andere sprechen ihr Trost zu oder geben hilfreiche Hinweise. Ohnehin steht das Sounddesign ganz im Dienste der Immersion. Der Spielwelt scheint ein Eigenleben innezuwohnen, die Umgebung atmet regelrecht.
Die Atmung der Protagonistin wiederum verrät innere Zustände, die durch die Außenwelt auf den ersten Blick nicht begründbar sind: Immer wieder beginnt Senua plötzlich zu hyperventilieren; die Physis als Vorbote der seelischen Abgründe, in die der Spieler unweigerlich hineingezogen wird. Die sichtbare Umgebung passt sich folgerichtig den inneren Zuständen der Heldin an, wir hören nicht nur die Stimmen im Kopf, wir sehen auch die Umwelt sich verändern. Die Immersion funktioniert demnach auf mehreren Ebenen: So taucht der Spieler ein in die beeindruckend inszenierte Spielwelt, versinkt dann immer tiefer in der Geschichte von Senua, die wiederum selbst von ihrer Psychose in eine alternative Wirklichkeit hineingezogen wird.
Intensive Zusammenarbeit mit Neurologen
„Hellblade – Senua’s Sacrifice“ will vor allen Dingen genau dies erreichen: Einen höchst individuellen Zustand intersubjektiv erfahrbar machen. Der hohe Grad der Immersion wird im Unterschied beispielsweise zum Kinofilm durch die Interaktivität erreicht – der Spieler entscheidet, wie genau sich Senua wohin bewegt. Das Vorgaukeln unendlicher Bewegungsfreiheit sowie unendlichem Einfluss auf den Handlungsverlauf verschafft dem Rezipienten ein zusätzliches Moment des Gebanntseins in die ansonsten konventionell abgeschlossene Erzählung. Beigefügt ist dem Werk gar ein eigenes Making-of. In diesem berichten die Entwickler von ihrer intensiven Zusammenarbeit mit Neurologen, Psychiatern und Psychose-Patienten, um eine möglichst realistische Krankheitserfahrung für den Spieler zu kreieren, die in anderen Medien wie Film oder Literatur so nicht erfahrbar sei.
Keck in diesem Sinne ist die Option, jederzeit einen „Foto-Modus“ öffnen und hier umfangreiche Schnappschüsse von Spielgeschehen und der Umwelt anfertigen zu können. Der Modus erfreut sich bei Nutzern größter Beliebtheit, hat man doch so quasi die Möglichkeit, sich Postkarten aus dem etwas anderen Erlebnisurlaub zu schicken. Gelungen ist den Entwicklern trotz kleinerer Mängel dennoch ein beeindruckendes Spielerlebnis, das ihrem Anspruch durchaus gerecht wird.
Eine Art begehbares Diorama
Auch andere Titel setzen immer mehr auf eine narrative Immersion: Das Entwicklerstudio Telltale bringt seit Jahren an TV-Serien erinnernde Game-Staffeln heraus, die in unterschiedlichsten Genres in dramatische Geschichten hineinziehen. In diesen wird ein absoluter Einfluss auf die Handlung in Aussicht gestellt, die Macht über Dialogverläufe. Lässt der Spieler seinen Charakter rücksichtslos agieren, bleibt er besonnen oder lässt er sich ausnutzen? Die Rechnung geht allerdings nur dann auf, fühlt man sich vollkommen im Sinne des Entwicklers in Figuren und dramatische Situationen ein – entscheidet der Spieler gegen die vorausgesetzte Identifikation, scheitert die Dramaturgie.
Die „Life is strange“-Reihe des Entwicklers Dontnod Entertainment bedient sich einer ähnlichen Funktionsweise. Das gelungene Spiel vermischt Elemente eines Coming-off-Age-Dramas mit denen einer Kriminal-Geschichte und thematisiert auf der Handlungsebene gleich noch die Entscheidungsfreiheit des Spielers selbst mit. Im Walking-Simulator „Virginia“ hingegen bewegt man sich in einer beeindruckend stimmungsvollen Welt als FBI-Agentin durch eine Art Twin Peaks-Szenario. Hier hat der Spieler gar keine Handlungsoptionen mehr, er steuert die Protagonistin lediglich von einer traumhaften Szene in die Nächste. Das Spiel ist der Versuch, die klassische Narration durch eine Art begehbares Diorama zu ersetzen und den Betrachter ausschließlich durch Gefühlszustände zu stimulieren.
Die Videospielwelt wird sich also ihrer genuin eigenen Werkzeuge und deren Möglichkeiten, die sie von anderen Medien wie Film und Literatur unterscheiden, immer bewusster. Festhalten könnte man jedoch auch, dass sie sich an das Hoheitsgebiet jener Medien herantastet und ihnen auch hierin zunehmend ähnlicher wird: Der Erklärung der Welt, dem Erzählen der großen Geschichte mit lediglich anderen Mitteln.
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