Das Dennis Severs House in London ermöglicht es Besuchern, vollkommen in eine längst vergangene Zeit einzutauchen. Das muss man erlebt haben.
18 Folgate Street. Wir sind im Herzen von Spitalfields in London. Hier kamen Ende des 17. Jahrhunderts die Hugenotten an und ließen sich als Weber nieder. Noch heute zeugen angrenzende Straßennamen von den französischen Bewohnern, etwa Fleur de Lis Street oder Corbet Place. Und auch die georgianischen Reihenhäuser lassen ihre Geschichte bis heute erkennen, denn die Fenster im obersten Stockwerk sind verhältnismäßig groß. Dort auf den Dachböden standen die Webstühle für möglichst viel Tageslicht.
18 Folgate Street unterscheidet sich schon von außen von seinen Nachbarhäusern. Es sind die Details, schwarz gestrichene Holztür, schwarze und nicht weiße Fensterrahmen, rote Fensterläden. Eine große Laterne über der Haustür, in der eine Kerze brennt, das fällt auf. Es ist Mittwochabend, für 19.30 Uhr habe ich mich bei den Bewohnern in Nummer 18 angekündigt. Anklopfen muss ich gar nicht, die Tür öffnet sich von selbst und vor mir steht Joe. „Keine Fotos, nichts anfassen und vor allem: nicht sprechen. It's a silent night.“ Ich gehe hinein, hinter mir schließt sich die Tür. Ich stehe im 18. Jahrhundert.
Irgendwo schließt sich eine Tür
Draußen dämmert es bereits, die Fensterläden sind geschlossen und drinnen ist es somit sehr dunkel. Nur Kerzenlicht erleuchtet die Räume. Klar, 18. Jahrhundert. Ich befinde mich im Haus der Seidenweber-Familie Jervis, die ich über den Abend zwar immer wieder höre, aber nie zu Gesicht bekommen werde. Nur hier und da ein Atmen, irgendwo im Haus schließt sich eine Tür, ein Räuspern im Nebenraum. Sobald ich einen Raum betrete, haben die Familienmitglieder ihn wohl gerade verlassen.
Im Empfangsraum sind die Teetassen noch nicht leer getrunken, auf der Zeitung liegt die Brille. Briefe wurden scheinbar gerade geöffnet oder gerade zu schreiben begonnen. An den Wänden des Empfangsraums zwei Porträts des Hausehepaares. Die Perücke, die über den Stuhl hängt; das ist die doch die gleiche, wie auf dem Bild! Bevor ich mich in den oberen Stockwerken umschaue – natürlich bin ich neugierig, fühle mich wie ein Kind in einem Süßwaren- und zugleich wie ein Elefant im Porzellanladen. Und wer hat mir eigentlich erlaubt, hier rumzustöbern? – ein Blick in die Küche im Keller.
Der Holzboden knarrt
Auch hier wurde gerade noch gearbeitet: Ein Rezept aufgeschrieben, die Feder steht samt Tintenfass noch bei dem aufgeschlagenen Notizbuch. Auf dem Tisch liegen Eier und Äpfel, die offenbar geschnitten werden sollen. Im offenen Ofen glüht Feuer, es riecht nach Küche. Ich wandele in die oberen Etagen, der dunkle Holzboden knarrt unter meinen Schritten. Draußen höre ich Vögel zwitschern, Kinder beim Spielen und das Klappern der Pferde auf den Pflastersteinen. In der Entfernung läuten die Kirchenglocken.
Das Teezimmer der Hausherrin ist mit feinen Seidenstoffen ausgestattet, Voluten von roter Seide als Vorhänge, Spiegel an den Wänden, gemütliche Sessel, in die ich mich leider nicht fallen lassen darf. Das gehört sich nicht. Auch hier sind die Teetassen halbvoll, der Fächer der Hausherrin liegt noch da und neben einem kleinen Tisch ist eine Tasse zu Bruch gegangen. Komisch, das Scheppern habe ich gar nicht gehört. In der Ecke ein Kartenhaus, daneben wurde eine Partie angefangen. Ich bin im Schlafzimmer des Ehepaares, das Bett ist nicht gemacht, darauf sitzt eine schwarze Katze. Ihr Blick so echt, der Körper so steif.
Tabakgeruch liegt in der Luft
Und als ich noch einmal hinschaue, ist sie weg und tigert davon. Im Zimmer nebenan wird offensichtlich gefeiert. Über dem Kamin hängt ein Bild von William Hogarth, ein Zeitgenosse der Familie Jervis, der bis heute für seine Darstellungen des sittenlosen Londons bekannt ist. So muss es auch in diesem Zimmer hergegangen sein, das weiße Tischtuch ist immer noch Rotwein-getränkt, überall liegt Tabak verstreut, der Geruch schwängert die Luft.
Ich könnte noch ewig fortfahren, das Haus der Familie Jervis zu beschreiben und es würde mir doch nicht gelingen. Es ist wohlig warm. Es riecht nach Essen. Es riecht nach Kaminfeuer, nach Orangenschalen, nach Tee und Wein. Es riecht immer ein bisschen moderig-süßlich. Die Einrichtung ist opulent, kuschelig, verspielt, barock, alles ist in warmen Farben gehalten, die durch das Kerzenlicht verstärkt werden. Es herrscht das heimelige Chaos einer Familie. Überall steht etwas, in jeder Ecke Schalen, Figuren, hängen ausgestopfte Enten, stehen Stiefel, über den Nachttöpfen ein Bund Lavendel. In fast allen Räumen stehen reichlich Früchte, im Flur im ersten Stock eine erleuchtete Etagere mit kandierten Früchten. Anfassen verboten. Und das nicht, weil wir uns hier in einem Museum befinden. 18 Folgate Street ist kein Museum. Wir befinden uns im Haus der Familie Jervis. Und diejenigen, die dieses Spiel aus Mangel an Fantasie nicht mitspielen möchten, denen sei gesagt, dass es zu Lebzeiten das Privathaus Dennis Severs' war.
Ins Bild hinein
Dennis Severs war ein amerikanischer Wahlbrite, ein Künstler mit einer Leidenschaft für vergangene Zeiten. 1979 erstand er das Haus in der Folgate Street für £42,000, das er bis zu seinem Lebensende so einrichtete, wie es wohl die ursprünglichen Bewohner getan hätten. Er lebte darin aus purem Vergnügen und für £50 führte er kleine Besuchergruppen durch seine Räume und durch das perfekt inszenierte Leben der Jervis-Familie. Nicht nur der Tee in den Tassen, auch der Inhalt der Nachttöpfe war echt. Dennis Severs nutzte die Imagination der Besucher als seine Leinwand. Die Tür der 18 Folgate Street zu durchschreiten, ist, als würde man durch einen Bilderrahmen in ein Bild hinein treten. In die Welt und Zeit des Bildes übertreten.
Severs nannte sein Haus ein "Still Life Drama" und Motto des Hauses ist bis heute: "Either you see it, or you don't - Entweder man sieht es oder nicht". Wer das Haus betritt und es als eine Art Diorama im Naturkundemuseum betrachtet, als eine Art Kuriositätenkabinett, wer erwartet, in diesem Haus etwas über Zeitgeschichte zu lernen, der ist am falschen Ort. Severs jagte Besucher regelmäßig vor die Tür; wenn sie lernen wollten, sollten sie ein Buch lesen. All die Gegenstände im Haus: ob sie Originale aus dem 18. Jahrhundert sind, spielt hier keine Rolle. Es geht um das Abtauchen in eine andere Zeit, um eine Reise der Fantasie, auf der wir versuchen, die Puzzlestücke zusammenzusetzen. Was spielt sich in diesem Haus ab und was können wir anhand der Alltags-Stillleben über seine Bewohner erfahren? Dabei erfahren wir mit allen Sinnen. Wir sehen, wir hören und riechen, wir fühlen. Was du nicht siehst, ist wichtig, so einmal Dennis Severs. Er starb bereits 1999 mit 51 Jahren an den Folgen von Krebs.
Wo war ich gerade?
Das Dennis Severs Haus zu beschreiben, nur mit Worten, ist unmöglich. Wer in London ist, muss einmal da gewesen sein. Es ist eine Zeitreise. Die Uhren im Haus ticken, aber sie ticken in einem anderen Jahrhundert. Es herrscht die Atmosphäre eines Gemäldes eines Alten Meisters. Das Licht von Carravaggio mit der Unschärfe von Rembrandt. Man ist in einem Kokon. Man vergisst, dass draußen London tobt. Als ich vom obersten Stockwerk nach unten laufe, sind alle Zimmertüren geschlossen. Noch einmal hineinschauen? Unerwünscht, privat, geht mich nichts an.
Und so laufe ich nach unten und bevor ich mich versehe, stehe ich wieder draußen vor der Tür 18 Folgate Street. Ich bin benebelt. Wo war ich gerade? 40 Minuten Stille, Staunen und Abtauchen. Ich versuche dieses wunderbare Gefühl zu bewahren, steige auf mein Fahrrad und fahre wie in einer Glocke durch London. Durch die City, deren Straßen sich inzwischen beruhigt haben, an den Pubs vorbei, vor denen sich die Menschen drängen. Ich kann mich nicht erinnern, welche Brücke über die Themse ich genommen habe. Zu Hause angekommen gibt es Tee. Im Kerzenlicht.
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