Auf den Spuren von René Magritte unterwegs in Brüssel: das SCHIRN MAG entdeckt die surrealistische Seite der belgischen Hauptstadt.
„Sind Sie sicher, dass Sie zu uns möchten?“ So viel Understatement hätte man der ehemaligen Wohnstätte immerhin des berühmtesten Künstlers des Landes respektive ihren Mitarbeitern eher nicht zugetraut. Aber tatsächlich taucht das eine Magritte Museum in jeder zusammenkopierten Empfehlungsliste von Hotels und Touristenbüros auf, während man nach dem zweiten schon einmal hartnäckiger nachfragen muss. Die ähnliche Namensgebung macht die Sache nicht einfacher, und auch Google Maps ist vom House, Huis oder Maison überfordert: Das Magritte Museum, 2009 eröffnet, ist ein Touristenmagnet in der Innenstadt, hier werden Hunderte Gemälde des belgischen Malers ausgestellt – das sehr viel beschaulichere René Magritte Museum im Bezirk Jette wiederum zeigt, wo jene entstanden sind.
Wer mag, kann den Weg zu René und Georgette Magrittes ehemaliger Wohnung als kleine Schnitzeljagd begehen: Mit dem Bus einige Kilometer raus aus der Stadt, tauchen irgendwann kurz vor dem Ziel dezente Hinweise auf. Ein Mosaik hoch oben an einer Hauswand zeigt das Porträt des Malers, am Zaun klebt ein in Dokumentenfolie gepackter Ausdruck mit laufendem Männchen und übergroßem Magritte-Hut. Noch ein paar Häuser weiter ist man schließlich angekommen.
Ein bescheidenes Heim
Magritte, steht über der Klingel in der Rue Esseghem 135. Wobei es sich um eines von nur wenigen Details handeln dürfte, die hier nicht dem ursprünglichen Zustand entsprechen: Denn eigentlich hatten die Magrittes nur die untere Etage im mehrstöckigen Backsteinhaus bewohnt. „Sie sehen schon, die Magrittes haben hier recht bescheiden gelebt!“ Eine Mitarbeiterin öffnet die Tür zum Museum, das größtenteils und vor allem ein ehemaliges Wohnhaus ist.
Schon steht man mittendrin, hinter der Haustür beginnt direkt der Flur, der zu den jeweiligen Wohnräumen führt: Links das geräumige Wohnzimmer, durch die Flügeltür der Blick ins kleinere Schlafzimmer, rechts an der Garderobe hängen auch schon Gehstock und Hut, als hätte Monsieur Magritte beide erst soeben abgelegt. Einmal links herum und auf der anderen Seite des Flurs befinden sich Küche und Bad, davor das Ess- und Arbeitszimmer – Magritte malte lieber hier als im Atelier, wie sein Habitus überhaupt in einiger Hinsicht dem gern repetierten Künstlerklischee widersprach.
Zum Leben erweckt
Während er an diesem Ort schätzungsweise die Hälfte seines gesamten heute bekannten Werks schuf, verdiente seine Frau einen Großteil des monatlichen Haushaltseinkommens. Geld mit der Kunst ließ sich erst viel später machen; als das Paar nicht mehr so jung war, gönnte es sich ein geräumigeres Apartment im Stadtteil Schaerbeek (wo man heute auch die Grabstätte der Magrittes sowie einiger anderer Surrealisten besuchen kann). Das zweite finanzielle Standbein: Studio Dongo, eine Mini-Agentur für Werbung und Filmplakate, die René Magritte zusammen mit seinem Bruder vom Gartenhäuschen aka Atelier heraus führte.
In den Ausstellungsräumen der oberen Etagen wird man später Fotos entdecken, auf denen Künstlerfreunde im Gartenatelier Theaterszenen inszenierten oder mit den Magrittes in deren Wohnzimmer eine gute Zeit hatten. Alles in dieser Wohnung schien belebt, selbst bespielt oder zum Leben erweckt, und die farbig bemalten Wände geben generös eine Essenz der gespeicherten Dekaden frei.
Schach mit Duchamp
Etliche Details lassen sich aus dem surrealen Bildervokabular in die wahrhaftige Realität rückrechnen: Magrittes Fenster mit Himmel, sie wurden von genau diesem Blick aus dem himmelblau getünchten Wohnzimmer auf die Rue Esseghem inspiriert. Die Hunde und Vögel in der Gartenvoliere dienten als Vorlage für Bilder, ebenso wie die Haustreppe, und der Zug aus Szenerien wie in „La Durée Poignardée“, der Erstochenen Zeit, scheint geradewegs den heimischem Kamin samt schwarz gewölbter Heizung davor zu durchkreuzen.
Ein paar Kilometer weiter stadteinwärts kann man noch ein paar Orte besuchen, die exakt so aussehen wie zur Zeit, als René Magritte in ihnen ein- und ausging: So wurde dem Künstler einst im Schach-Café „Greenwich“ unter opulentem Jugendstildekor eine Absage für seine Bilder erteilt – er kam zum Beispiel für eine Partie mit Marcel Duchamp her und erntete sowohl für sein Schachspiel als auch für seinen Malstil Hohn (allerdings nicht von Duchamp).
24 Stunden Freiheit
Nabel der surrealistischen Welt in Brüssel war aber eine Café-Bar, die wie vieles in dieser Stadt zwei Namen hat: Einen eleganten französischen (La Fleur Papier Doré) und einen knuffig flämischen (Het Goudblommeke in Papier). Hier hält man die Tradition der Künstlergruppe rund um den damaligen Besitzer und Galeristen Geert van Bruaene, zu der neben René und Georgette Magritte unter anderem ELT Mesenes, Marcel Marien, Camille Goemans und einige weitere zählten, noch heute hoch.
An den vergilbten Wänden, die zum Gesamtmonument gehören und wie das Café inzwischen unter besonderem Schutz stehen, finden sich Hunderte Originale jener Künstlergäste, Kritzeleien, Albernheiten und kleine Gemälde, getragen von van Bruaenes Motto: „Tout homme / a droit / a vingtquatre heures / de liberté / par jour.“ – Jeder Mensch hat das Recht auf vierundzwanzig Stunden Freiheit am Tag. Darauf ein belgisches Bier oder einen Rode Wijn – nur geraucht werden darf heute bekanntlich nicht mehr. Befürchtungen, dass von all den Schwelgereien und Anekdoten heute kaum mehr als ein trauriger Touristen-Nepp übrigbleibt, werden darüber hinaus schnell weggefegt: Hier ist es auch 2017 fabelhaft. Später schaut man noch kurz am Place Dinant vorbei, in dem einige surrealistische Bonmots in den steinernen Boden gemeißelt wurden.
Keine Fotos, keine Fotos!
Bei all den immer noch malerischen Orten, die heute wie vor 50, 60 oder 70 Jahren ausschauen, könnte der Bruch kaum größer sein: Belgien befindet sich immer noch im Ausnahmezustand, was mit dem öffentlichen Raum notgedrungen auch der in ihr befindlichen Kunst die Grenzen aufzeigt. Überall patrouillieren Militär, Polizei und private Sicherheitsdienste, so auch in der Bourse Metro, der Station unterhalb der Börse. Hier befindet sich eines der größten surrealistischen Gemälde, die man vielleicht je zu sehen bekommen wird: Historische Tramwagen, die in einer traumwandlerisch erleuchteten Szenerie über die Köpfe der Brüsseler Metro-Fahrgäste hinwegziehen, gemalt von Magrittes Künstlerkollegen Paul Delvaux.
Es reicht gerade noch für ein paar Aufnahmen, dann stürmt der Sicherheitsdienst herbei: Keine Fotos, keine Fotos! Die bereits gemachten dürfen bleiben. Mit einiger Überredungskunst kann man dann vielleicht noch einen Blick auf zwei weitere Fresken der Brüsseler Surrealisten erhaschen, an einem Ort, der weder öffentlicher Raum noch Kunstsphäre ist: Im Konferenzzentrum Square stehen sich zwei großformatige Wandmalereien direkt gegenüber – das eine stammt von Paul Delvaux, das andere von René Magritte.