Was ist Kunst, was ist Realität? Ist die Realität Kunst? Die 9. Berlin Biennale lotet die Definition von „Post-Gegenwart“ aus – nicht immer sind die Grenzen zwischen echt und unecht dabei zu erkennen.
„Wird Donald Trump Präsident? Ist Weizen giftig? Ist der Irak ein Land? Ist Frankreich eine Demokratie? Mag ich Shakira? Leide ich an Depressionen? Sind wir im Krieg?“ Wir befinden uns in einer Gegenwart, die man nicht vorhersagen und nicht verstehen kann, davon ist das Kuratoren-Team der 9. Berlin Biennale überzeugt. Eine Tatsache, die in Zeiten der fortgeschrittenen Digitalisierung, in der jeder Zweite per App seine Schritte zählt und seine Schlafphasen misst, beängstigend wirkt. Um diese Angst zu vergessen, produzieren wir unablässig Content über uns selbst, den wir in die Weiten des Internets jagen – als wollten wir uns damit unsere Individualität bestätigen.
Doch tatsächlich bleibt die Individualität dabei auf der Strecke, wird der Mensch zu einem austauschbaren und inhaltsleeren Massenprodukt ohne besondere Merkmale. Alles, was nicht niet- und nagelfest ist, wird vermarktet. Ein Thema, mit welchem die vier Kuratoren der 9. Berlin Biennale, Lauren Boyle, Solomon Chase, Marco Roso und David Toro des New Yorker Künstlerkollektivs DIS vor allem seit der Gründung des DIS Magazins, einer internationalen Community zur Untersuchung für Kunst, Mode und Musik, Erfahrung haben – und welches sich spürbar in der diesjährigen Berlin Biennale niederschlägt.
Ad absurdum geführt
Camille Henrot ist eine der Künstlerinnen, die diese De-Individualisierung mit ihrem „Office of Unreplied Emails“ aufgreift. Hunderte von E-Mails blieben in ihrem Postfach in den letzten Jahren unbeantwortet: Aufrufe zum Unterschreiben von Petitionen, Bitten um Spenden, Unterstützung und Aufmerksamkeit. Für ihre Installation im KW Institute for Contemporary Art hat Henrot einige davon aufgegriffen und – in zierlicher Handschrift – persönlich und poetisch beantwortet. Die digitale Dauerbeschallung, der man ununterbrochen ausgesetzt ist und die ausschließlich Reichweite im Sinn hat, wird hier ad absurdum geführt, der Massenansprache eine persönliche Anrede entgegengesetzt.
Massenkompatibilität ist auch in der Installation von Christopher Kulendran Thomas in der Akademie der Künste zu finden. „New Eelam“ beruft sich auf den blutigen Aufstand, den die tamilischen Separatisten „Eelam“ 2009 zur Durchsetzung eines eigenen Staates ausfochten, verloren und so heimatlos wurden. Auf Basis der Definition von nationaler Zugehörigkeit entwickelte der Künstler ein Startup, welches eine „bewegliche Staatsangehörigkeit“ propagiert: Wie das Konzept von Video-Streaming oder Car-Sharing soll flexibles Wohnen zum Flatrate-Preis ermöglichen, überall zuhause zu sein – in modernen Design-Apartments in den angesagtesten Stadtteilen internationaler Großstädte: „Move around the world like you wish. Wherever, whenever, but always at home.“
Egal, das Sofa ist immer das gleiche Modell
Die letzte Bastion der Privatsphäre – die eigenen vier Wände – wird so verwandelt in eine gesichtslose, ununterscheidbare Projektionsfläche für die idealisierte Hochglanzvorstellung des eigenen Lebens. Ob London, Tokyo oder Berlin: Egal, das Sofa im Wohnzimmer ist immer das gleiche Modell! In Zeiten der Globalisierung, die vor keinem Lebensbereich Halt macht, trifft Christopher Kulendran Thomas den Nagel auf den Kopf und vermischt Realität und Fiktion bis zur Unkenntlichkeit.
Anders als die vorherigen Ausgabe hat sich die diesjährige Biennale nicht zum Ziel gesetzt, neue Räume in Berlin zu erobern: Das KW Institute als Mutterschiff der Ausstellung, die Akademie der Künste am Brandenburger Tor, ein Fahrgastschiff der Reederei Riedel, die ESMT European School of Management and Technology sowie die Feuerle Collection in einem alten Bunker aus dem Zweiten Weltkrieg – letzterer wirkt neben den anderen Orten fast schon ausgefallen. In der ESMT verschwimmen das Hochglanz-Marketing der Schule und Beiträge der Biennale zu einer ununterscheidbaren Einheit.
Ist Realität schockierend?
Diese Biennale versucht nicht auf ästhetischer Ebene zu gefallen; sie möchte den oftmals nur noch schwer zu beeindruckenden Ausstellungsbesucher schockieren, indem sie die kommerzielle Bildsprache der Werbewelt spiegelt und bis zur Untrennbarkeit imitiert. Doch was ist in dieser Gegenwart, in der wir tagtäglich mit Terrornachrichten und Kriegsbildern, nackter Haut und ausgeklügelten Werbemaßnahmen überrollt werden, eigentlich noch schockierend? Allenfalls der grell pinke Lippenstift und die glitzernden Cowboyhüte der in Nahaufnahmen posierenden Frauen in der unbetitelten Videoarbeit von Lizzie Fitch/Ryan Trecartin erscheinen mit ihrer Assoziation zu überdrehten Junggesellenabschieden noch abstoßend.
Kann man überhaupt noch schockieren, wenn man die Realität fast eins zu eins widerspiegelt und Themen in den Mittelpunkt stellt, von denen wir alle tagtäglich und rund um die Uhr umgeben sind? Die Biennale möchte den Besucher in seiner reizüberfluteten Alltäglichkeit aufrütteln – doch sind wir womöglich schon längst zu abgestumpft, um ernsthaft darauf einzugehen?