Die Künstlerin LENA HENKE stellte bereits 2017 in der SCHIRN-Rotunde aus. Was sind die Geheimnisse ihrer Praxis und wo ist ihre Kunst seitdem überall gewesen?
„Ich weiß auch nicht“, sagt Lena Henke mit einem Blick schalkhafter Ratlosigkeit, „vielleicht bin ich ja Fetischistin!“ Halb im Scherz grinst sie und blickt nach oben, so als suche sie mit dem inneren Auge nach Antworten, lacht und zuckt die Schultern. Und das ist vollkommen angemessen - immerhin ist es nicht das erste Mal, dass sie das zu mir sagt. Dieselbe Aussage tätigte sie schon einmal vor fünf Jahren vor der Eröffnung ihrer Einzelausstellung bei LAYR in Wien. Auch damals war es lustig. Beide Male lag darin ein seltsamer, krummer Schlüssel, um die Geheimnisse ihrer Praxis aufzuschließen. Doch deutlich wurde dies erst beim zweiten Mal.
Man denke etwa an die Ausstellung „SCHREI MICH NICHT AN, KRIEGER! (DON’T SHOUT AT ME, WARRIOR!“, die 2017 für die SCHIRN-Rotunde entstand. Dort platzierte Henke zwei Aluminiumskulpturen an den beiden Zugängen des Raumes. Die nach oben geöffneten Objekte waren mit Sand gefüllt, ebenso die Umgänge der Rotunde. Von dort rieselte der Sand in die Skulpturen hinab, geführt von grobmaschigen Metallrollgittern und den zufälligen (aber mitbedachten) Aktionen der Betrachter*innen, die durch eigene Bewegungen im Raum die Sandverteilung beeinflussten. So wurde die eigentliche Form der Aluminiumobjekte erkennbar – zwei überdimensionierte Augen –, doch musste man hierfür erst die Position des Körpers im Museumsraum verändern. Der Wechsel der Perspektive eröffnete Zugang zu einem neu in den Blick rückenden Zusammenwirken von Formen, Farben, Materialien, Licht und Reflexionen. Unwillkürlich drängt sich einem dabei die schmerzhafte Vorstellung auf, dass Sand ins Auge gelangt. Doch ist der Prozess, den Henke hier auf den Punkt bringt, vielschichtiger.
Ebenso wie ihr Fetischismus-Scherz steht auch „SCHREI MICH NICHT AN, KRIEGER!“ beispielhaft für den künstlerischen Prozess, dessen Struktur wir an anderer Stelle wiederfinden: ein Jahr später in der Präsentation „THEMOVE“ bei LAYR in Wien, in „Las Pozas“ (2017), Henkes Beitrag zu Lichtenfels Sculpture 2021, sowie in der Ausstellung „You and your vim“ (2023) im Aspen Art Museum in Colorado.
Von der SCHIRN nach Wien, Lichtenfels und Colorado
Stets geht sie dabei von der Idee aus, dass die Betrachter*innen mit eigenen Augen etwas von einer statischen Position aus sehen können. Im Fall der SCHIRN-Rotunde waren das die dort aufgestellten Aluminiumskulpturen, die durch ein von Henke hinzugefügtes Element verändert und vervollständigt wurden. Denn etwas für die Betrachter*innen zunächst nicht Sichtbares (der Sand, der Filterprozess) verwandelte die ursprüngliche Form in etwas Neues, verdeckte die erste Iteration und verhinderte, dass die Veränderung „ungesehen“ bleiben konnte. Somit erschließt sich das Werk in seiner Gänze erst später, nachdem die Betrachter*innen einen von Henke angeleiteten Prozess durchlaufen und ihren Körper an den Raum, der wiederum Teil des Werkes wird, angepasst haben.
Kurz gesagt: Henke fügt dem einfachen, von den Betrachter*innen zunächst nicht infrage gestellten Akt des Sehens stets eine äußere Bedingung hinzu, die die Form des Werks und seine Beziehung zum umgebenden Raum dauerhaft verändert. In diesem Fall wurde das Werk komplettiert durch die Ergänzung eines zusätzlichen Elementes, das von uns verlangte, etwas dafür zu tun, dass sich das Gesehene für uns vervollständigte, und anschließend die Weise infragestellte, wie wir überhaupt sehen: Die zusätzlichen Bedingungen waren der Sand und der Raum der SCHIRN-Rotunde selbst. Doch gründete das Konzept dieser Arbeit – einschließlich der Aluminium-Augenskulpturen und der Transformation durch ein verborgenes drittes Element – auf einer weiteren unsichtbaren Ebene: Dieses trat in „Las Pozas“ (2017) erstmals hervor.
„Las Pozas“
Das Werk, das sich heute im österreichischen Skulpturengarten Lichtenfels Sculpture befindet, ist nicht nur eine variierte oder frühere Iteration der uns entgegenblickenden Metallaugen, sondern ein anderer Ausdruck derselben Bedingungen. Diesmal benutzte Henke zur Verdeutlichung Spiegel: Strategisch an Wänden und Bäumen platziert, lenkten sie anhand ihrer Aufstellwinkel den Blick der Betrachter*innen so, dass diese direkt in die Skulpturen hineinblicken konnten, was von ihrem Standort aus ansonsten nicht möglich gewesen wäre.
Dabei ist unerheblich, dass „Las Pozas“ im selben Jahr entstanden war wie die Arbeit in der SCHIRN-Rotunde, allerdings erst später gezeigt wurde, denn das Prinzip ist dasselbe. Waren es in der SCHIRN-Rotunde jedoch die Bewegung der Betrachter*innen, die einen weiterführenden Prozess einleiteten, so beruht „Las Pozas“ auf der Eröffnung einer parallaktischen Perspektive durch die Künstlerin. Hierdurch komplettiert sich für uns der Akt des Sehens, und sowie wir uns dessen bewusst werden, beeinflusst dies auch die Weise, wie wir weitere Werke Henkes wahrnehmen – etwa „SCHREI MICH NICHT AN, KRIEGER!“.
Dieselbe Struktur tritt auch in der Arbeit „‚THEMOVE‘ (Aspen)“ (2023) aus der Ausstellung „You and your vim“ im Aspen Art Museum hervor. Dort begegnen wir aber nicht nur der von „Las Pozas“ und der SCHIRN-Rotunde bekannten visuellen Anordnung, sondern auch einer Wiederholung der Skulptur aus „THEMOVE“ bei LAYR in Wien sowie der körperlichen Positionierung, die für die Vervollständigung des Werks erforderlich ist. In der letztgenannten Ausstellung stand „THEMOVE“ (2018), die Bronzeskulptur eines weiblichen Körpers mit einer Türöffnung an der Stelle, wo sich normalerweise die Vagina befindet. Begaben sich die Betrachter*innen dann in einen ganz bestimmten Teil des Raums, konnten sie durch den Türrahmen hindurch „Freedom Tower“ (2018) sehen, einen Digitaldruck der New Yorker Skyline, der von der unverkennbar phallischen Bildsprache des One World Trade Center dominiert wird.
„‚THEMOVE‘ (Aspen)“ erneuert die Ortsspezifik der Wiener Skulptur. Diesmal aber richtet sich der Blick der Betrachter*innen nicht auf ein anderes Bild, sondern auf die Museumsarchitektur und ihre geografische Lage. Im Vordergrund sehen wir die glänzenden Aluminiumblenden, die die Außenterrasse einfassen und ein verzerrtes Spiegelbild der von uns betrachteten Skulptur zurückwerfen; dann ein funktional wirkendes eingeschossiges Gebäude; dahinter eine andere Version einer „amerikanischen“ Landschaft – nicht das Gedränge im New Yorker Großstadtdschungel, sondern die natürliche Erhabenheit der verschneiten Rocky Mountains, bekrönt von Tannen.
Die fetischistische Natur der Kunstbetrachtung
Betrachtet man „‚THEMOVE‘ (Aspen)“ hingegen aus einem anderen Blickwinkel, so sieht man drei Beispiele aus der Werkserie „Combustions“ (2023). Die in Öl ausgeführten Arbeiten auf lasergraviertem Leder – die Künstlerin hat hierfür eine spezielle Technik entdeckt – basieren auf Fotografien von nackten Männerfüßen, die ungraziös in geplatzte Kondome gezwängt wurden. Das führt uns zurück zu ihrem Scherz: „Ich suche nach der Verbindung zwischen verschiedenen fetischistischen Gegenständen“, so Henke, „Das hat aber nichts mit Sex zu tun, sondern mit etwas anderem: wie man durchs Leben geht sowie um die Oberflächen von Materialien und Objekten.“
Dies ist ein entscheidender Punkt, der betont, dass diese Dynamik in ihrem gesamten Schaffen gegenwärtig ist. Es ist also keineswegs so, dass Lena Henke eine Fetischistin wäre. Und auch niemand sonst. Vielmehr deckt sie die eigentlich fetischistische Struktur bei der Betrachtung von Kunstwerken auf. Die Augen, Vaginas, Pole-Tänzerinnen, Füße oder Kondome sind hier weniger wichtig als die Beziehung zwischen Blick, Objekt und Raum, die von der Künstlerin vermittelt wird, um eine grundlegende Aussage darüber zu treffen, was in dem Werk als „Innen“ oder „Außen“ gilt. Was wir für das „Innen“ halten, ist nur deshalb da, weil Henke ihm etwas von „außen“ hinzufügt, doch können wir es erst dann sehen, wenn sie uns dazu gebracht hat, uns zu bewegen – das betrifft unseren Körper ebenso wie die Position in dem Raum, den wir einnehmen.
So waren die SCHIRN-Arbeiten etwa in einem überdachten Bereich zwischen dem Museum und dem Café platziert. Hierdurch wurde der fetischistische Blick der Museumsbesucher*innen neu ausgerichtet und die Beziehung zwischen den Räumen für Kunst und für Nicht-Kunst (in diesem Fall Essen, Trinken, Plaudern und Ansehen von Souvenirs aus dem Museum) betont. Die Bedingungen in Lichtenfels erforderten keine Kritik am kommerziellen Status der Kunst, sondern stellten andere, physische Anforderungen an die Betrachter*innen. Denn diese mussten sich anstrengen und selbst hinsehen, bevor Henke dann den Akt des Sehens an sich auf den Kopf stellte. In Aspen wiederum wurden die Werke auf der Dachterrasse präsentiert – Henke ruft uns in Erinnerung, dass ein solcher Raum „zwischen einem White Cube und dem Außenraum“ liegt –, mithin jenem Bereich der typischen Museumsarchitektur, der den Blick auf den Inbegriff rauer, wilder Natur freigab, die der Mensch nicht zähmen kann, indem er sie bebaut.
Das Bindeglied zwischen all diesen Ausstellungen wird somit sehr deutlich. Henke verlangt uns nicht nur den statischen, faszinierten Blick ab, der von uns bei der Betrachtung von Kunstwerken erwartet wird, sondern auch eine Beweglichkeit im Akt des Sehens. Wir müssen uns darauf einlassen, dass jemand anders unseren Blick neu für uns strukturiert. Dies ist ein weitaus bequemeres Unterfangen, wenn es um ein Kunstwerk geht, doch können wir daraus auch lernen, wie man es in nicht-künstlerischen Situationen anwendet.
Ein Akt des Sehens und Gehens
Diese raffinierte Verspieltheit veranlasst die Künstlerin auch dazu, Lederobjekte von verlassenen Ranches in Utah zu stehlen oder das Wagnis einzugehen, die zur gleichen Zeit wie ihre Intervention in der Rotunde gezeigte Magritte-Ausstellung der SCHIRN unter Sand zu begraben. Diese Art von Verspieltheit leitet insgeheim und mit einem Lachen ebenfalls den Akt des Sehens und Gehens, wenn die Betrachter*innen auf ihrem Weg zwischen den Werken Trampel- oder Wunschpfade schaffen. Und das wiederum bedeutet, dass wir unsere Füße gleichermaßen nutzen wie unsere Augen. Damit sind Sie im Bilde.